Johann Gottfried Herder
Stimmen der Völker in Liedern
Johann Gottfried Herder

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16. Lied eines wahnsinnigen Mädchen

Englisch.

(Essays on Songwriting. II ed. Lond. 1774. p. 76.)

Frühmorgens, als ich gestern
        Im Felde ging entlang,
Da hört' ich, wie im Thurme
        Ein Mädchen lieblich sang;
Die Ketten rasselnd an der Hand,
        Und sang so fröhliglich:
Mein Liebchen lieb' ich, denn ich weis,
        Mein Liebchen liebet mich.

O harter, harter Vater,
        Der riß ihn ab von mir!
Grausam, grausamer Schiffer,
        Der fort ihn nahm von hier!
Seitdem bin ich so stille nun,
        So still aus Lieb' um dich,
Und lieb' mein Liebchen, denn ich weis,
        Mein Liebchen liebet mich.

O wär' ich eine Schwalbe,
        Wie schlüpft' ich zu ihm heim!
Oder wär' ich eine Nachtigall,
        Ich säng' in Schlaf ihn ein.
Könnt ich ihn an, nur an ihn sehn,
        Vergnügt und froh wär ich!
Ich lieb mein Liebchen, denn ich weis,
        Mein Liebchen liebet mich.

Kann ich, als ich am Ufer stand,
        Den Tag vergessen je?
Und sah ihn nun zum leztenmal,
        Den nie ich wieder seh.
Er kehrt' auf mich sein Auge noch,
        Ach, wie sprach das in mich! –
Mein Liebchen lieb' ich, denn ich weis,
        Mein Liebchen liebet mich.

Ich flecht' dir dieses Kränzchen,
        Mein Lieb', und flecht es fein,
Von Lilien und von Rosen,
        Und binde Thymjan drein.
Einst geb ich's denn, mein Liebster, dir,
        Wenn ich seh wieder dich,
Mein Liebchen lieb' ich, denn ich weis,
        Mein Liebchen liebet mich.

 


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