Johann Gottfried Herder
Stimmen der Völker in Liedern
Johann Gottfried Herder

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23. Röschen und Kolin

Englisch.

Man spürt wohl, daß die Romanze neu ist. Sie ist von Tickel (s. Reliqu. T. III. p. 234.) und ist sonst unter dem Titel Hannchen und Lukas erschienen. Ich habe die ersten beiden Strophen auslassen müssen und sonst simplicirt, wie ich gekonnt habe, um die überflüssigen Tickelschen Schönheiten ihr etwa zu rauben; ich glaube nicht, daß sie dabei verlohren.

Habt ihr gesehn eine Lilie,
        Die sinkt in Regenzeit?
Ach so schwand Röschen hin, sie schwand
        Vor Liebesherzeleid.

Als dreimal in der dunkeln Nacht
        Die Todtenglocke klang,
Dreimal die Eul' ans Fenster schlug,
        Und: »Mit! Komm mit!« ihr sang;

Das liebe Mädchen wuste wohl,
        Zu wohl, daß ihr das gilt;
Die Schwestern sassen ringsumher,
        Und graus'ten eingehüllt.

»Ich hör' ein' Stimm', ihr hört sie nicht,
        Die spricht: Komm mit mir fort!
Ich seh ein' Hand, ihr seht sie nicht,
        Die winkt mir, winkt mir dort!

So wißt es denn, ein treulos Herz,
        Ein Bräutgam tödtet mich.
Kann ich dafür, daß seine Braut
        Hat dreimal mehr als ich?

O Kolin, gib ihr nicht dein Ja!
        Dies Ja ist längst schon mein.
Und du, o Braut, nimm nicht den Kuß!
        Der Kuß, er ist nicht dein.

Ihr schickt euch an zum Hochzeitfest,
        Geht morgen zum Altar;
Du armes Mädchen, falscher Mann.
        Auch Röschen ist alldar!

Ihr Brüder, morgen tragt ihr mich,
        Tragt mich an seiner Seit';
Er zieht, geschmückt als Bräutigam,
        Mich schmückt ein Leichenkleid.«

Sie sprachs und starb. Man trug den Sarg,
        Trug ihn an seiner Seit';
Er zog, geschmückt als Bräutigam,
        Sie schmückt ein Leichenkleid.

Ach Bräutigam, wie war dir da?
        Wie war dir da, o Braut?
Der Brautreihn flog um Röschens Sarg,
        Das ganze Dorf weint laut.

Verwirrung, Angst den Bräutgam faßt,
        Verzweiflung fasset ihn;
Schon dunkelt Tod auf seiner Stirn,
        Er ächzt und sinket hin.

Und ach! du Braut, nun Braut nicht mehr,
        Wo ist dein Hochzeitroth?
Sieh seine erste Liebe da,
        Sieh deinen Bräutgam todt!

Die Nachbarn-Schäfer legten ihn
        In seines Röschens Gruft;
Da liegt er nun, Ein Staub mit ihr,
        Bis Gottes Stimme ruft.
Und oft geht noch ans heil'ge Grab
        Ein treuverlobtes Paar,
Und binden Liebesknoten sich,
        Und bringen Kränze dar.

Du aber, Falscher, sey gewarnt,
        Und nah dich nicht herzu,
Gedenk an Kolin, fleuch und stör'
        Ihn nicht aus seiner Ruh.

 


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