Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Die Bestattung

Auf meinen Wunsch brachten die Zeitungen nichts über den traurigen Fall. Die Leichenverbrennung geschah in aller Stille und Heimlichkeit. Die Asche wurde in einem Metallkästchen aufbewahrt, während Kluft noch telephonisch mit einem Passauer Beerdigungsinstitut verhandelte. Es ergaben sich Schwierigkeiten, da die Kirchenbehörde, der Feuerbestattung feindlich, keinen Platz auf dem Friedhof gewähren wollte. Ich hätte das durch eine Regierungs-Massnahme erzwingen können, aber die Geistlichkeit hatte noch eine grosse Anhängerzahl, man durfte sie nicht verärgern, und ausserdem wollte ich jedes Aufsehen vermeiden. Persönlich stand ich auf freundschaftlichem Fuss mit den meisten Pfarrern Passaus, war sogar mit dem Bischof gut bekannt, so würde ich die Genehmigung durch persönliche Rücksprache gewiss leicht erlangen können. Ich gab Diana Bescheid, dass sie mich zum Mittagszug an der Bahn treffen sollte. Sie erschien pünktlich, schwarz gekleidet, wie es der traurige Anlass erforderte, das kleidete sie sehr gut. Auch Kluft kam, brachte mir die Asche, er hatte das Metallgefäss in ein Köfferchen getan, damit es leichter und unauffälliger zu transportieren sei.

Ausserdem übergab er mir ein sauber mit schwarzem Seidenband verschnürtes kleines Paket. Es 528 enthielt das Handtäschchen, die Armbanduhr und die paar Schmucksachen der Toten, traurige Reliquien, deren Betrachtung ich auf später verschob, wenn ich mehr ins Gleichgewicht gekommen sein würde. Jetzt war ich noch sehr verstimmt, und die Bahnfahrt verlief trübselig.

Wir kamen Abends in Passau an und begaben uns ins Hotel, nicht den Goldenen Stern, da war ich zu sehr bekannt, sondern in das vor kurzem neu erbaute Hotel Union. Dort war es auch viel komfortabler, mit Zentralheizung und Aufzug, Hall und Portier. Der war taktvoll genug, uns nicht ein Zimmer mit zwei Betten anzubieten, und wir schrieben unsere richtigen Namen in die Meldezettel. Für alle Fälle gab er uns zwei nebeneinanderliegende Zimmer, die waren durch eine Tür verbunden, oder eigentlich getrennt, denn, als ich es in der Nacht für meine Pflicht hielt, mich nach Diana umzusehen, fand ich die Tür verschlossen, und mein Klopfen blieb wirkungslos. Sie hatte ein feines Gefühl für die Schwierigkeit der Situation, spielte auch in der Folge die Rolle der objektiven Begleiterin sehr konsequent. Wir sagten wieder Sie zueinander. So sehr ich ihre Korrektheit anerkennen musste, enttäuschte die mich doch ein wenig und, weit entfernt mir ein Trost zu sein, wurde dadurch meine Sehnsucht nach Vevi zu neuer Verzweiflung gesteigert.

»Warum, oh warum kann kein Wunder geschehen?«

Auch der kommende Tag brachte Unannehmlichkeit. Die Geistlichen wiesen mein Gesuch ab, in diesen Zeiten umsichgreifender Gottlosigkeit sei strengstens auf Befolgung der kirchlichen Gebote zu achten, keine weltliche Macht wäre imstande sie umzustossen. So beschloss ich, die Asche auf Oherhaus beizusetzen. Das 529 war zwar auch nicht erlaubt, aber die Zivilbehörden würden nicht wagen, es mir zu verbieten, besonders wenn ich sie nicht fragte.

Wir gingen hinauf. Oberhaus fand ich merkwürdig wenig verändert. Da war noch die alte Frau Guggemos, ihr Vollmondgesicht durchzogen jetzt viele Runzeln wie Mondgebirge, und da war der brave Dellinger, der war jetzt mit ihrer Enkelin Ursula verheiratet, und ein Kind hatten sie auch schon, auffallend gross für die kurze Zeit. Da war noch das Gewächshaus und der Kuhstall, und Alles war so wie es früher war.

Dellinger begrüsste mich sehr erfreut. »Sind S' doch endlich wieder kommen, das is gscheit. Jetzt gehn S' mir aber nimmer fort.« Wir schüttelten uns die Hand. »Und wo ist die gnädige Frau? Ist doch wohl auch dabei? «

»Ach, Dellinger, meine gute Frau lebt nicht mehr.« Das ging ihm sehr nahe, Tränen rollten über seine stoppelhaarigen Backen herunter, bildeten helle Streifen auf der unsauberen Haut.

Er ging hinein, um es der Mutter zu sagen, und wir traten ebenfalls ins Haus. Frau Guggemos kam wehklagend aus der Küche. »Alleweil haben wir gewartet auf euch, und nun kommt sie nimmer, die liebe gnädige Frau. Drum sind S' auch in Trauer. Wann ist sie denn gestorben, so schnell, und der Bub, der lebt aber noch, gelt? Ach, wärt's halt dablieben!«

Sie schaute Diana misstrauisch an, der war unter dem Blick nicht recht wohl zumute.

»Ist wohl ein Verwandtes?« fragte Frau Guggemos. »Nein, eine Schülerin von mir.«

»So so, lernt sie auf Präsident?«

»Nein, auf Malen.« 530

Sie rief ihrer Enkelin, der Urschel, die wurde vorgestellt, man sah, sie war stark in der Hoffnung. Dann bekam sie den Auftrag, in den Zimmern einzuheizen, wir wurden inzwischen in die Küche geführt zu einem warmen Kaffee.

»Einmal hat uns die gnädige Frau geschrieben, dass sie bald kommen wird, – und nun –.« »Später erzähle ich Ihnen Alles, Frau Guggemos, jetzt wollen wir sie erst begraben, hier im Garten.«

»Nicht am Gottesacker? Das wär doch eine Sünd'. Und wo ist denn die Leich'?«

»Ich habe die Asche mitgebracht.«

»So ist sie bei einem Brand umkommen? Ist schrecklich!« »Sie ist im Krematorium in München verbrannt worden.«

»Hat sie dort gewohnt? Und der Bub auch? Nur grad gut, dass Sie auskommen sind im Kremorium.«

Ich fand es schwierig, ihr jetzt Alles zu erklären, zumal mir eben zu meinem Schrecken einfiel, dass ich das Köfferchen mit der Asche nicht mehr gesehen hatte, seitdem wir angekommen waren.

»Fräulein Käsbohrer, haben Sie den Aschenkoffer?«

»Nein, Herr Emmaus, ich weiss nicht, wo er ist.«

»Oh, verflucht, wir haben ihn in der Bahn liegen lassen. Wir müssen ihn holen. Kommen Sie, Fräulein Käsbohrer!«

Wir waren aufgesprungen. »Ich muss schnell zur Bahn gehen, meine Frau holen, kommen gleich wieder.« Wir eilten hinaus, und ich hörte noch, wie Frau Guggemos sagte. »Der arme Herr! Nun ist er narrisch worden.«

Im Fundbüro des Bahnhofs zeigte man uns Alles, was eingeliefert war, Regenschirme, Rucksäcke, 531 Taschenmesser, ein totes Huhn, auch ein Köfferchen fand sich. Ich wusste nicht genau, wie unseres ausgeschaut hatte, so wollte ich es schon nehmen. Aber Diana sagte. »Das ist es nicht.«

»Ach was, nehmen wir es halt, wir können doch nicht mit leeren Händen zurückkommen, und zum Begraben ist es gut genug. Ist ja nur ein Symbol, sagt Ihr Schnipser.«

Aber Diana wollte das durchaus nicht, sie entwickelte wirklich sehr bedeutendes Feingefühl. Ich meldete den Verlust. Der Bahnbeamte kannte mich gut von vielen Trinkgeldern her, meinte. »Vielleicht hat es der Schaffner, der mit dem nächsten Zug kommt. Dann schicke ich es Ihnen gleich hinauf nach Oberhaus.« Betrübt kehrten wir zurück. Der Kaffee war längst kalt geworden, musste aufgewärmt werden, und man schaute mich so sonderbar an, war nicht mehr recht herzlich. »Kommen Sie, Dellinger, haben Sie Blumen im Gewächshaus?« Ja, er hatte. Da waren wieder Maréchal Niel-Rosen, die Vevi so geliebt hatte, sie blühten, und Azaleen und Hyacinthen und Amaryllis. Mit Fichtenzweigen zusammen ergaben sich schöne Kränze. Als wir mit dieser Arbeit fertig waren, musste Dellinger Schaufel und Spaten holen, und wir sahen uns nach einer geeigneten Ruhestätte für Vevi um. Trotz dem nebligen Wetter fand ich die Baumgruppe, unter der ich sie einmal gemalt hatte, ich wusste, von da war ein weiter Blick über das Flusstal, ein schöner, feierlicher Platz. Hier liess ich ausschaufeln, gut, dass die Erde noch nicht gefroren war. Dellinger schüttelte den Kopf darüber, dass die Grube blos so klein werden sollte.

»Vorläufig legen wir die Kränze hier nieder, da 532 halten sie sich am besten«, sagte ich, »mit der Beisetzung warten wir noch etwas, heute wird es schon zu dunkel.«

In der Tat nahm die Abenddämmerung schnell zu. Dellinger sprach einstweilen ein Vaterunser, auch Diana und ich hatten die Hände gefaltet und schauten in die leere Vertiefung, still im Innern betete ich. »Nur einmal noch lass' mich sie wiedersehen. Schenk' mir ein Wunder!«

So angespannt war mein Sinn, dass ich zu sehen glaubte, wie durch den Nebel sich eine schattenhafte Gestalt näherte.

»Was kommt da?« flüsterte ich klopfenden Herzens.

»Wird die Urschel sein, holt uns zur Abendsuppe«, meinte Dellinger.

Jetzt wurde die Erscheinung schon deutlicher, schien durch den Nebel zu schweben.

»Vevi – du?« Eine Mischung von Grauen und Entzücken durchschüttelte mich, ihr Geist kam, mir ein letztes Lebewohl zu sagen.

Ich wollte sie fassen, aber ich zitterte so, dass ich mich an einem Baum stützen musste. Diana bemerkte meinen Zustand, näherte sich mir teilnahmsvoll, umfing mich.

»Emmaus, lieber Emmaus, ich bin ja bei dir.«

Die Erscheinung stand unbewegt, ganz nahe, ich konnte ihre Augen erkennen, die waren weit aufgerissen, masslos erstaunt, wohl darüber, dass sie nun bloss noch Seele war.

Und fürchterlich war es, als der Geist zu lachen begann – lachte – lachte –, so konnten nur Abgeschiedene lachen. Nie werde ich dieses Lachen vergessen.

»Liebe, gute Vevi, sage mir ein Wort. Nicht lachen! Du siehst, wie traurig ich bin, dass du von mir gingst.« 533

»Wenn es aber doch so furchtbar komisch ist, was ihr da macht.«

Schnell erholte ich mich wieder. »Nein, das ist garnicht komisch. Komisch führst bloss du dich auf. Du weisst offenbar noch nicht, wie sich Abgeschiedene zu benehmen haben.«

Die Erscheinung bemühte sich vergeblich, ernst zu bleiben, wurde sachlich. »Hier, diesen Handkoffer schickt dir der Stationsmeister.«

»Und du findest es komisch, dass dein Geist mir hier deine Asche bringt! Nun können wir sie beisetzen.« Weinend öffnete ich den Koffer, Diana entnahm ihm das Metallgefäss, behutsam senkten wir es in die Grube, gedachten sie jetzt zuzuschaufeln.

»Requiescat in pace«, sagte ich feierlich.

»Et in spiritu tuo«, respondierte Diana.

»Aber seid ihr denn Alle verrückt geworden? Das ist ja wie ein Begräbnis? Weshalb vergrabt ihr diese Cakes-Schachtel? Und was für eine alte Ziege hast du dir dazu mitgebracht? Wenn du dir wenigstens etwas Junges, Knuspriges ausgesucht hättest!«

»Gnädige Frau, auch der abgeschiedenste Geist hat nicht das Recht, die Feinfühligkeit der Lebenden zu verletzen«, sprach Diana streng.

»Vevi, ich muss schon sagen, im Leben warst du taktvoller. Fräulein Diana Käsbohrer ist über alle Vorwürfe erhaben.«

»Käsbohrer heisst sie auch noch und Diana, da könnte ich mich einfach totlachen.«

»Wenn du es nicht schon wärst.«

»Bin ich tot?« Grauenhaft schallte ihr Lachen, als sie auf mich zuflog, die Arme um meinen Hals schlang 534 und mich küsste. Deutlich spürte ich die nebligkalte Berührung. Ich stiess einen grässlichen Schrei aus, dann schwand mir das Bewusstsein.

Eine weiche Kinderhand tätschelte mir ins Gesicht. »Papa ausdust?« fragte es. Ich schlug die Augen auf, fand mich im warmen Zimmer, auf dem Sopha liegend, unter einer Daunendecke. Es roch gut nach Eau de Cologne. Vevi sass nahe bei mir, hatte noch die Flasche in der Hand und das Batisttuch, mit dem sie mir die Stirn eingerieben hatte. Jetzt war sie ernst, schaute mich besorgt an. Vorsichtig schob ich die Hand unter der Decke vor und zwickte sie prüfend in den Oberschenkel. Sie schrie ein bisschen auf, fühlte sich warm und lebendig an.

»Du scheinst ja wieder ganz munter zu sein«, lächelte sie.

»Du auch, Gottseidank.« Kein Zweifel, was da sass, war kein Gespenst, sie lebte. Mein Blick ruhte bewundernd auf ihr, sie gefiel mir mehr als je. Sie war schlank und elegant, doch hatte sie jetzt etwas Mütterliches bekommen, wie warmer Kamillentee.

»Kann ich eine Tasse Kamillentee haben, Vevi?« Ob welcher im Hause sei, fragte sie Frau Guggemos, die ängstlich abwartend, mit Dellinger in der Nähe stand.

»Ja, natürlich.«

»Dann machen Sie, bitte, einen, wird ihm gut tun auf den Schreck.«

»Auch Millitee haben«, quäkte Vincenz. Frau Guggemos und Dellinger verschwanden beruhigt. Ich warf die Decke ab, setzte mich auf, zog Vevi neben mich, wir küssten uns herzlich und lange.

»Wins auch Bussi«, störte uns der Kleine, und ich musste seinen Wunsch erfüllen. 535

»Kinder schmecken nicht gut«, fand ich.

»Doch, am besten sogar«, protestierte Vevi.

»Na, sagen wir am zweitbesten.« Auf das einigten wir uns.

»Hast du öfter solche Anfälle wie heute, Emmaus?«

»Ach nein, es war nur die Freude des Wiedersehens.«

»Ja, das habe ich mir gleich gedacht. Und deine Ziege, sie hat sich auch so gefreut?«

»Ach ja, wo ist Fräulein Käsbohrer?«

Inzwischen war der Kamillentee gebracht worden, wir sassen am Tisch und tranken ihn, Vincenz bekam Milch, kroch dann am Boden herum, eine Angewohnheit kleiner Kinder, die mir sehr zuwider ist.

Vevi fuhr fort. »Wirklich, deine Diana war dann ganz nett. Sie hat mir geholfen dich hereinzubringen, unglaublich kräftig ist sie, die hätte dich ganz allein getragen, wenn Dellinger es zugelassen hätte. Zu mir sagte sie ›Ich freue mich zu bemerken, dass Sie lebendig sind, für Sie wie für Herrn Emmaus‹. Sie will abreisen, ist bloss noch ins Hotel gegangen um deine Sachen heraufzuschicken, aber ein wichtiges Paket möchte sie dir selbst übergeben, deshalb kommt sie noch einmal. Ich habe sie gebeten, zum Abendessen bei uns zu sein, vorausgesetzt, dass du dich bis dahin wieder erholt hast. Ist dir wohl recht?«

»Ja, sie ist eine ganz ordentliche Person.«

»›Ordentliche Person‹ ist schön gesagt, habt ihr etwa nicht im Hotel zusammen geschlafen?«

»Nein.«

»Und auch sonst nicht?«

»Nein, Vevi. Du weisst, ich bin immer aufrichtig. Ich würde es dir sagen.« 536

»Schwöre es beim Leben deines Sohnes.«

»Welches Sohnes? Das ist kein Schwur für mich. Ich schwöre es bei Muspets Andenken.«

»Gut!«

Da biss mich etwas ins Bein. Sollte vielleicht –? »Muspet, geh weg!« rief ich, aber es war Vincenz, der da unten herumkroch und an meiner Wade zu knabbern begann.

»Siehst du«, sagte Vevi, »Muspets Seele wohnt in unserem Vincenz, jetzt weiss ich, dass du mich belogen hast.«

»Jedes Wort, das ich gesagt habe, ist wahr. Die ganze Zeit habe ich mich nach dir gesehnt.«

»Ich mich nach dir nicht immer, erst zuletzt. Damals im Schloss warst du ja reichlich geschwollen, ekelhaft. Deshalb bin ich mit Vincenz zu Katja gefahren, nach Boston. Ich hatte es gut bei ihr. Die Erbschaft habe ich auch bekommen. Dein Name bedeutete viel in Amerika, man huldigte mir als der Gattin des kommenden Retters Europas, übersetzte dein Buch ›Mein Meteor‹, kaufte es millionenweise. Interviews, Abbildungen auf der ersten Seite aller Blätter. Das schlug plötzlich um, Nachrichten kamen über immer schlimmere Gewalttaten des Präsidenten Emmaus. Bald war kein Name so verhasst wie deiner. Ich musste mich schämen, ihn zu tragen. Ich schrieb dir, versuchte dir klar zu machen, wie entsetzt ich und die ganze Welt über dein Verhalten waren. Ich bekam keine Antwort, schrieb noch einmal. Nichts! Ich konnte es nicht begreifen, ein Mann ändert sich nicht so schnell. Ich versuchte es mit einem Brief an deinen Rechtsanwalt, auch der blieb unbeantwortet. Eine lange traurige Zeit verging. Dann fingen die Zeitungen an, Sensationsmeldungen zu 537 bringen. Du bist abgesetzt – ein Anderer regiert für dich – gibt sich für dich aus – hält dich gefangen. In der Kino-Wochenschau sah ich eine Aufnahme des sogenannten Herzog Emmaus. Nein, das warst du garnicht. Was ist da passiert? dachte ich. Ich wollte selbst nach München reisen und nachschauen, schrieb an Herrn Wirsing, dass ich komme. Dann hat sich meine Abreise verzögert. Katja hatte mir geraten, ich sollte mir zur Sicherheit vom deutschen Gesandten einen Geleitbrief mitgeben lassen, und das ging nicht so schnell. Dadurch bin ich erst viel später nach München gekommen, und der Herzog war schon weg und du regiertest wieder.«

»Du hast Glück gehabt. Wärst Du vor dem fünfzehnten Oktober gekommen, lebtest du jetzt nicht mehr. Ikarus hätte dich umgebracht.«

»Ebenso wie den Wirsing? Ich habe den nicht mehr getroffen, und man hat mir gesagt, wie es ihm ergangen ist.«

»Noch schlimmer. Der Herzog hatte dann eine Fallgrube im Schloss eingerichtet, darin liess er die Menschen verschwinden. Was ich heute beerdigt habe, war die Asche einer Frau, die er so ermordet hat. Man meinte, du wärst es. Du warst es nicht. Ich bin froh.« Ich küsste sie.

»Wer war es dann?«

»Ich weiss es nicht. Man wird nachforschen müssen.«

»Nette Zustände habt ihr gehabt! Gut, dass es vorbei ist. Du wohnst also wieder im Schloss, und das gefiel mir nicht recht, ich hatte keine Lust, zum zweiten Male enttäuscht zu werden. Deshalb wollte ich zuerst ganz still ein bisschen warten, ob du nicht gleich wieder so grossartig würdest. Vincenz war auch krank, 538 Erkältung und Fieber, der Arzt riet zu dem Luftsanatorium Ebenhausen. Dort wohnten wir, und er wurde bald wieder gesund. Ich war inkognito, als Mrs. Leibenfrost aus Boston. Einige Male fuhr ich in die Stadt, ist ja ganz nah. Ich sah dich von ferne, freute mich, dass du so gesund aussiehst, trotz Allem, was du durchgemacht hast. Man hat es mir erzählt, und in der Zeitung stand nun auch die ganze Geschichte. Ich dachte, wenn du nur wieder Lust zum Malen bekämst, dann wäre Alles gut. Deshalb habe ich bei Pruckner Farben gekauft und dir hinbringen lassen. Hat es etwas genützt?«

»Ach ich dachte, die wären von der Majorin Stuhlreif.«

»Wer ist denn das schon wieder? Damen-Bekanntschaften hast du! Ich glaube, du bist ganz entartet.«

»Sie ist die Mutter der Kampfhunde, die mich gerettet haben. Und gemalt habe ich wirklich mit deinen Farben, war eine gute Idee. Jetzt will ich wieder viel malen.«

»Du hättest nicht damit aufhören sollen. Weltverbessern darf nie zum Hauptberuf ausarten.«

»Nichts darf zum Hauptberuf ausarten. Schau dir die Maler an, die ihr Leben lang Tag für Tag an der Staffelei stehen, da ist das Malen bloss noch eine Reflexbewegung, wie Gähnen, wenn man müde ist oder weil ein Anderer gähnt. Velasquez hat auch abwechselnd gemalt und Staatsgeschäfte betrieben, infolgedessen ist er der beste aller Maler geblieben.«

»Dann hast du verkündet, du wirst die Regiererei Herrn Kluft überlassen. Nun war Alles in Ordnung, und ich wollte zu dir. Ich telephonierte ins Schloss, man sagte mir, dass du nach Passau gefahren bist. 539 Deshalb bin ich hier, ich hatte längst herkommen wollen.«

»Alles wird gut. Ich habe erreicht, was ich wollte. Der Meteor ist durchgedrungen, Staat und Politik sind für ewige Zeiten getrennt, es gibt nie wieder Krieg. Ein Volk in Freiheit und Wohlstand. Wir beide bleiben zusammen, hier.

Und Alles wird so wie es einmal war, das ist das Glück – –«

»Das ist das Glück«, wiederholte sie, und wir umarmten uns herzlich und lange.

»Ach, entschuldigen Sie, bitte, ich wollte nicht stören«, sprach Diana. »Schön, dass Sie wieder funktionieren, Herr Emmaus. Ich war wirklich recht erschrocken, wie Sie umfielen. Unsere Nerven waren wohl ein bisschen überreizt.«

»Mein Mann würde es sehr bedauert haben, wenn er Sie nicht noch gesehen hätte. Sie bleiben doch zum Nachtmahl?«

»Danke, gern, wenn es nicht zu spät wird. Ich wollte hauptsächlich dieses Paketchen abliefern, das uns mitgegeben wurde.«

Sie legte es auf den Tisch. Ich knüpfte das Seidenband auf. »Vevi, vielleicht ist es dir peinlich, darin sind die letzten Habseligkeiten der Toten. Wenn du lieber nicht zuschauen willst – –.«

»Ihr werdet wieder sagen, dass ich taktlos bin, aber ich bin bloss neugierig.«

Ich wickelte ein kleines, elegantes Handtäschchen aus, es war noch sehr durchnässt. Trübselig wie die Toilettesachen ägyptischer Gräber wirkten Puderdose, Lippenstift und Hautcrême. Ausserdem enthielt es eine Armbanduhr, Ringe, eine Halskette und ein kleines 540 Buch, ganz feucht. Das war ein Pass. Ich schaute hinein, erschrak.

»Oh Gott, Lona!«

»Lona?« fragte Vevi. »Schon wieder eine Freundin, von der ich nichts weiss. Die Damen scheinen sich ja um dich gerauft zu haben.«

»Ach nein, bloss – Frau Daffodil ist ermordet worden.«

»Frau Daffodil? Das war doch die Zralok-Tochter, Katjas frühere Gymnastikschülerin. Die wampige Nudel habt ihr für mich gehalten?«

Diana konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken: »Die Majestät des Todes hebt alle wampigen Nudeln auf. Vielleicht hatte sie eine schlanke Seele.«

Entschuldigend sagte ich: »Fräulein Käsbohrer ist nämlich die Braut eines Ethikers. Ethiker, das ist ein Mensch der alles Edle gepachtet hat und weiterverpachtet.«

»Nein, Herr Emmaus, Schnipser ist einfach ein Idealist, das brachte ihn mir nahe.«

»In Ihrem Interesse sehr zu begrüssen, verehrte Diana. Katzen und Idealisten fallen immer auf die Füsse.«

Vevi gefiel diese Wendung des Gespräches nicht, sie stand auf. »Kommt jetzt zum Essen.«

Diana und ich legten Lonas traurige Hinterlassenschaft in das Handtäschchen, wickelten es wieder ein und gingen, uns die Hände waschen.

Beim Waschbecken sagte sie leise. »Du bist gemein gegen mich.«

Ich begriff, das ich ihr etwas Tröstliches sagen musste, es fiel mir nichts Anderes ein, so hauchte ich gefühlvoll. »Weil ich dich liebe.« 541

Dann begaben wir uns ins Speisezimmer.

Diana hatte nicht erwähnt, dass sie kein Fleisch ass, aber glücklicherweise gab es auch viel Gemüse und Salat. So konnte sie ihren Magen betrügen, indem sie jedes Stückchen Kalbsbraten sorgfältig in ein Salatblatt einhüllte, bevor sie es verschluckte. Wir tranken dazu Fruchtsaft. Dass es der starke Johannisbeerwein war, brauchte man ihr ja nicht zu verraten, und sie wurde recht aufgeräumt, erzählte Vevi, auf welche Weise sie mich kennen gelernt habe.

»In Wirklichkeit sind Sie aber noch viel schöner als auf dem Bild, gnädige Frau. Ich kann gut verstehen, dass Emmaus so verzweifelt war, als er meinte, er habe Sie verloren.«

»Und deshalb wollten Sie ihn trösten.«

»Ich tat, was in meinen schwachen Kräften stand.«

»Wie wäre die Sache nach meinem Begräbnis weitergegangen? Dachten Sie nicht ein bisschen daran, Frau Präsidentin zu werden?«

»Höchstens wenn er Präsident der Künstlervereinigung gewesen wäre. Politik ist gemein.«

»Aber er wollte doch die Politik abschaffen.«

»Das ist bloss eine Politik mit anderem Vorzeichen, und Politik verträgt sich nicht mit Kunst.«

»Ganz meine Meinung. Haben Sie ihm das gesagt?«

»Wir fanden keine Zeit dazu.«

»Sie übertreibt«, fiel ich ein, »sie hat doch sogar Zeit gefunden, sich zu verloben. Prosit! Auf das Wohl Herrn Schnipsers und auf eine glückliche Ehe.«

Wir stiessen an, sie trank das Glas in einem Zug aus, war schon ziemlich alkoholisiert, sprach: »Ehe ist auch nur eine Liebe mit negativem Vorzeichen.« 542 Unvermittelt schluchzte sie: »Ich hätte nur dich lieben können, Emmaus.«

Vevi schaute erstaunt auf.

»Hätte! bitte zu beachten, liebe Vevi.«

»Habe«, sagte Diana unter einem Tränenausbruch.

Ich wurde ernstlich bös: »Fräulein Käsbohrer, Sie benehmen sich sehr unsportlich, Weitsprungmeisterin von Bayern.«

»Jetzt Speerwerferin. Ach, ich bin so unglücklich. Ich weiss Ihr könnt mich nicht leiden«, heulte sie.

»Kommen Sie, liebes Fräulein Käsbohrer, Sie sollen jetzt schlafen gehen«, sagte Vevi mild.

»Nein, ich weiss, Sie wollen mich in den Ziegenstall sperren. Ich bin eine alte Ziege, und Sie sind so schön und knusprig.«

Wir mussten sie ins Bett tragen. Vevi zog sie aus, küsste sie auf die Stirn. »Armes Ding! Aber wunderbare Muskeln hat sie.«

Diana schlief sofort ein.

Ein klein bisschen war ich ängstlich, ob Vevi mir nicht eine Szene machen würde, ich bemühte mich, unbefangen zu scheinen, aber sie war es wirklich.

Lachend kam sie aus dem Gästezimmer: »Sie kann nichts vertragen, jetzt trinken wir noch den Rest und dann gehen wir auch zu Bett. So ein happy end sollten alle Begräbnisse haben.«

Nach den Anstrengungen des Tages und der Nacht schliefen wir bis spät in den Morgen hinein. Diana hatte schon gefrühstückt und einen Zettel hinterlassen, auf dem sie herzlich für die Gastfreundschaft dankte und sich verabschiedete, sie müsse zur Bahn eilen, um den Morgenzug noch zu erreichen.

Beim Frühstück sollte ich immer Vincenz 543 bewundern. Ich gab mir alle Mühe, aber ich merkte, dass er schon gelernt hatte, Bewunderung in Empfang zu nehmen. Aus pädagogischen Gründen sagte ich deshalb: »Winz, du bist ein hässlicher Zwerg.« Unerwarteter Weise schien er es zu verstehen, fing an zu brüllen, so dass ich ihn mit einer Liebkosung beruhigen musste, auf dieselbe Weise hatte ich Vevi zu besänftigen. »Eigentlich müssen wir auch nach München fahren«, sagte sie, »es ist Einiges zu besorgen. Ich muss eine geübte Kinderpflegerin für deinen hässlichen Zwerg haben, eine vom Sanatorium Ebenhausen habe ich so gut wie engagiert, ich brauche sie bloss zu holen. Natürlich im Auto, das steht noch in München in der Garage, die Reparatur wird wohl fertig sein. Und Weihnachten ist bald, dafür ist viel einzukaufen. Wir wollen wieder so ein schönes Weihnachten haben wie damals.«

»Ja, das wollen wir.«

In Haus und Wirtschaft mussten wir noch Manches anordnen nach so langer Abwesenheit. Wir konnten erst am übernächsten Tag fahren. Vincenz blieb den treuen Händen von Frau Guggemos und Ursula anvertraut.

Vevi mochte durchaus nicht im Schloss wohnen, so stiegen wir im Hotel Continental ab, als wir am Abend ankamen. Auf meinen Anruf kam Kluft bald zu mir. Ich sprach ihn vorerst allein, erzählte ihm vom Wiederauftauchen meiner Frau, wozu er mich herzlichst beglückwünschte, und sagte ihm, dass die Ermordete Frau Daffodil sei.

»Frau Daffodil? Ach, das wird ihren Gatten gewiss interessieren. Er ist, so viel ich weiss, seinerzeit vor Ikarus nach Amerika geflüchtet, und der hat ihm sein 544 ganzes Vermögen konfisziert. Wissen Sie Daffodils Adresse?«

»Nein, die steht wohl im Pass der Frau. Hier habe ich, was man bei ihr fand, bitte, nehmen Sie es an sich und stellen Sie es ihm zu.«

»Und die Asche?«

An die hatte ich ganz vergessen, sagte: »Ich wollte sie ungestört ruhen lassen.«

»All right, am einfachsten ist, wir schicken ihm eine andere Blechbüchse, Asche gibt es ja genug.«

»Ja, die hat doch nur symbolische Bedeutung.« Dann fiel mir ein, dass das ein Zitat war und ich fügte hinzu: »Sagt Doktor Schnipser.«

»Kenne ich nicht.«

»Seien Sie froh. Aber meine Frau müssen Sie endlich kennen lernen. Was wir noch zu bereden haben, kann sie ruhig anhören, nichtwahr?« Ich rief sie aus dem anderen Zimmer herbei. »Das ist unser Direktor Kluft, der Deine Leiche gefunden hat, aber auch sonst ist er sehr tüchtig und er wird den Meteorstaat viel besser leiten als ich.«

»Freut mich, Sie zu treffen, Herr Kluft. So lieb, dass Sie meinen Mann wieder zu einer vernünftigen Arbeit kommen lassen wollen.«

Aber Kluft fühlte sich schuldbewusst: »Verzeihung, dass ich so ein Durcheinander angerichtet habe, jetzt bedauere ich umsomehr, nicht schon früher die Ehre gehabt zu haben, Frau Präsident vorgestellt zu werden. Dann wäre dieser traurige Irrtum unmöglich gewesen.«

»Lassen Sie sich darüber nicht noch mehr graue Haare wachsen, aber, bitte, nennen Sie mich nicht Frau Präsident. Wie ich höre, ist ja eh bald Neuwahl, und dann ist es vorbei mit dem Krampf.« 545

»Ja, Ihr Herr Gemahl war so gütig, mich als seinen Nachfolger zu empfehlen. Nur drei Tage sind noch bis zur konstituierenden Generalversammlung der Aktiengesellschaft Deutschland. Würde Herr Emmaus nicht morgen noch eine kleine Rundfunkansprache halten? Es wäre erfreulich, wenn die Abstimmung nicht nur die überwältigende Majorität, sondern Einstimmigkeit ergeben würde. Freiheit, Friede und Meteor sind für Jahrtausende, ja für alle Zeiten gesichert. Das wird die schönste Weihnachtsgabe sein, die das deutsche Volk sich darbringt.«

»Und Ihnen, lieber Kluft. Darauf wollen wir ein Glas trinken. Sie soupieren doch mit uns?«

Am folgenden Tag gingen wir zuerst den Wagen holen. Es schmeichelte Vevi doch ein wenig, dass mich viele, ganz fremde Menschen auf der Strasse grüssten, hochachtungsvoll wie einen Souverain. »Sie grüssen nur, weil du dabei bist«, wollte ich ihr einreden, »so eine schöne Frau haben sie noch nicht gesehen und so einen wunderbaren, eleganten Pelzmantel. Mit dem sollte man dich malen oder wenigstens photographieren.« Da bemerkten wir, dass wir gefilmt wurden.

»Katja wird sich freuen, wenn sie uns in der Wochenschau sieht«, meinte Vevi. Dann machten wir Weihnachtsbesorgungen. Das langweilte mich, besonders da in den Geschäften grosser Andrang war. Deshalb machte ich einen Abstecher ins Schloss und regierte ein bisschen, das heisst ich unterzeichnete Schriftstücke, die Kluft und die Sekretäre vorbereitet hatten. Ich holte, wie verabredet, Vevi im Kaufhaus ab, und wir fuhren zu Wothan, um Süssigkeiten einzukaufen. Obwohl sein Laden gedrängt voll war, nahm er sich ein wenig Zeit für uns, führte uns in das 546 Nebenzimmer, freute sich herzlich, Vevis Bekanntschaft zu machen. Er war voll strahlender Zufriedenheit: »Jetzt haben wir es geschafft, lieber Herr Emmaus. Fest steht und treu der Meteor. Herrliche Zeiten erleben wir.«

»Und Schokolade gibt es auch wieder, wie ich sehe.«

»Ja, soviel man will, die Auswahl ist gross, womit kann ich dienen?«

Wir machten unsere Einkäufe, verabschiedeten uns händedrückend.

»Und Sie stimmen doch für Kluft, Herr Wothan?«

»Jawohl. Ich verstehe gut, dass Sie jetzt Ihre Ruh' haben wollen. Wenn der Kuchen gebacken ist, zieht man ihn aus dem Rohr.«

Am Nachmittag hielt ich die versprochene Rundfunkrede. Sie wurde über alle Sender und zu einer grossen Volksversammlung im Bürgerbräukeller übertragen und scheint dort viel Anklang gefunden zu haben. Wenigstens zog nachher eine begeisterte Menge vor das Hotel, die erfahren hatte, dass ich bereits nicht mehr im Schloss wohnte, sondern im Continental. Sie huldigte mir mit Hochrufen und Ansprachen, ruhte nicht, bis ich mich auf dem Balkon zeigte und mit obligater Rührung einige Dankesworte sprach. Vevi stand neben mir wie eine huldvolle Königin.

»Jetzt bist du dir aber auch einmal grossartig vorgekommen«, sagte ich nachher zu ihr.

»Ich habe bloss gedacht, der Teufel soll sie holen.«

»Hast du vielleicht darum gebetet?«

»Das nicht. Hätte ich es tun können?«

Im Bett, vor dem Einschlafen, faltete sie die Hände. ich weiss nicht, ob sie das Gebet nachgeholt hat. 547

 


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