Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Zenzi

Glücklicherweise lernte ich beim Radfahrunterricht eine junge Münchnerin kennen. Sie hiess Kreszenz Wachengans. Ihr Vater, sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter, hatte in der äusseren Stadt ein Mietshaus mit Kramladen, in dem sie verkaufte. Er redete mich mit Genosse an. Sie roch immer nach Seife und Hering. Im Freien störte das weniger. Ich holte sie einige Male in ihrem Laden ab. Sie war hübsch, nur etwas rundlich. Ich hielt sie für ein sehr einfaches Wesen und war dann erstaunt zu bemerken, dass sie eine Vorliebe für alles Absonderliche hatte. Das zeigte sich schon in der Art, wie sie ihre Schaufenster dekorierte. Da stand eine Pyramide von Heringsdosen, oben darauf eine lebensgrosse gipserne Bismarckbüste mit einem Hering im Mund und der Inschrift: »Der Kanzler hat gesagt, bei Wachengans gibt es die besten Bismarckheringe.« Die Reklamewirkung war sehr gut, aber am nächsten Tage konfiszierte die Polizei das Ganze und übergab es der Staatsanwaltschaft zur weiteren Verfolgung.

Dann stellte sie eine Büste von Karl Marx auf, inmitten eines üppigen Aufbaues von Rasierseife und einer Dekoration von roten Fahnen. Aus seinem Bart quoll ein Spruchband, auf dem stand: »Ich musste einen Vollbart tragen, weil ich keine Rasierseife bei 75 Wachengans kaufte«. Darauf wurde der unglückliche Vater aus der Partei ausgeschlossen. Das nützte ihm aber in dem Bismarckheringsprozess, so dass er nur einen Monat Gefängnis bekam, und diese Strafe rehabilitierte ihn dann wieder bei der Partei.

Zenzi Wachengans schwärmte für Schlawihner, so nannte man in München die Bohémiens. Arme Maler und Dichter konnten bei ihr immer auf Kredit einkaufen. Hinten, im Nebenzimmer des Ladens, hatte sie allmählich eine kleine Bibliothek gesammelt, und dort wurde mit bevorzugten Kunden oft bis spät in die Nacht hinein über Kunst und Literatur debattiert, wobei man manche Flasche Schnaps aus dem väterlichen Geschäft vertilgte. Ich erfuhr da, dass die ganze Literatur umgestürzt werden müsse, weil die Zeit der Romantik vorbei sei. Wissenschaftliche Methode, Milieuschilderung waren die Schlagworte. Als der konsequenteste Naturalist galt Max Gustav Gschwendner. Er wollte in einer, vorerst auf dreissig Bände berechneten, Romanfolge das ganze Münchner Leben wahrheitsgetreu schildern. Er arbeitete gerade am ersten Buch: »Das Bier«. »Täglich gehe ich ins Hofbräuhaus«, sagte er, »nichts entgeht meiner unglaublich scharfen Beobachtungsgabe. Mit mir wird eine neue Epoche beginnen.« Später hat sich dann leider ergeben, dass er beim Beobachten nicht so trocken dasitzen konnte, er musste auch experimentell die Wirkung des Bieres allzu gründlich feststellen. Und so ist das geniale Werk nie fertig geworden, nicht einmal der erste Band.

Andere Schlawihner missbilligten dagegen den Experimentalroman. Franz Friedrich Drohm erklärte: »Naturalismus – ja, aber nicht im Zola'schen Sinne! 76 Der Deutsche darf die Natur nicht wie ein Arzt secieren, er muss sich vor ihr in Demut beugen.« Er war der Führer der »Demütigen«.

Dann brachte der Bulgare Dimitri Aklakoff die neuesten Werke Nietzsches mit und verkündete: »Keine Demut, sondern Kraft! Alles kommt auf Dynamik an.« Auch er fand viele Anhänger, die sehr selbstbewusst auftraten. Das gefiel den Demütigen nicht, es kam zu einer Rauferei, bei der die Dynamischen von den Demütigen gründlich verprügelt und zum Laden hinausgeworfen wurden. Vater Wachengans kam im Nachthemd aus der Wohnung herunter und' schrie: »Bagaasche übereinander! Jetzt habe ich aber genug von deine Schlawihner!«

Ein paar Tage blieb das Nebenzimmer verwaist. Dann waren eines Abends wieder alle friedlich beisammen und wollten ihre Diskussion fortsetzen. Zenzi hatte sich aber inzwischen weiter entwickelt und las Stellen aus einem Buch vor, das hiess: »Der Einzige und sein Eigentum« von Max Stirner. Sie entnahm daraus, dass Einsamkeit die einzig mögliche Daseinsform sei und schlug vor, nicht mehr zusammen zu kommen. Doch Franz Friedrich Drohm hatte eine glänzende Idee, in zündender Rede setzte er auseinander: »Ja, Einsamkeit sei unsere neue Losung! Der Schnaps hier ist sowieso schon lange nicht mehr erstklassig. Gegenüber in der Wirtschaft zum Humpelmair gibt es ein gescheidtes Bier, und dort ist gerade die Kegelbahn frei. Gründen wir den Kegelklub der Einsamen!« Also geschah es, und Zenzi durfte mitkegeln. Das hat ihr auf die Dauer nicht behagt. Sie hat ihr Fahrrad gegen ein zweisitziges –Tandem nannte man es – umgetauscht. Der Bulgare 77 Aklakoff hatte sie dazu überredet, er wollte mit ihr bis in seine Heimat radeln. Dort würden sie heiraten und auf den unermesslich grossen Gütern seiner Eltern ein herrliches dynamisches Leben führen. Nach einem tüchtigen Griff in die Kasse ist sie heimlich mit ihm entflohen.

Sie sind aber nur bis Augsburg gekommen. Als Zenzi morgens in dem kleinen Hotel aufwachte, war sie allein im Bett. Aklakoff war mit der Kassa verschwunden und hatte das Tandem verkauft. Grossmütig hatte er noch die Hotelrechnung bezahlt, allerdings von ihrem Geld. Auch ein paar Mark für die Rückreise hatte er ihr dagelassen. 78

 


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