Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Onkel Nevermind

Ich konnte das Gymnasium nicht ganz absolvieren, weil ich vorzeitig hinausgeworfen wurde. Daran war mein Onkel schuld, der überhaupt grossen Einfluss auf mich gehabt und mir viel von seiner Lebensauffassung eingeimpft hat. Er war lange in England gewesen, hatte in Birmingham eine Hemdenfabrik gehabt. Er behauptete, die abknöpfbaren Kragen erfunden und dadurch seinen Reichtum erworben zu haben. Für englische Begriffe war sein Vermögen aber nicht so bedeutend, denn er hatte sich ziemlich früh vom Geschäft zurückgezogen, weil er sehr faul war und seinen Idealen leben wollte. Sein Ideal war, das Leben eines englischen Gentleman zu führen, ein Schlösschen, Pferde, Diener zu haben. In Deutschland, wo es damals noch billig war, reichte sein Vermögen dazu aus. Unter »Gentleman« verstand er einen Menschen, der sich durch nichts aus der Fassung bringen lässt, keinerlei Gefühlsregungen unterworfen ist, ohne Leidenschaften, ohne Freude und ohne Schmerz. »Man darf sich nichts bis unter die Haut gehen lassen«, war sein Wahlspruch.

Er wusste, dass er von Natur sehr zur Eifersucht neigte und hatte deshalb eine abschreckend hässliche Frau geheiratet, in die sich gewiss niemand verlieben konnte. Sie war in ihrer Ehe sehr unbefriedigt, 20 widmete sich der Wohltätigkeit, insbesondere der Blindenfürsorge. Sie ist dann mit einem jungen Blinden durchgegangen. »Nevermind«, sagte darauf der Onkel nur. Der Name Lord Nevermind ist ihm geblieben.

Als mein Bruder an seiner Liebe zu den Meerjungfrauen zugrunde gegangen war, sagte der Onkel auch bloss: »Nevermind. Er war kein Gentleman. Du wirst ein Gentleman sein und die Weiber als das betrachten, was sie sind. Du bist jetzt sechzehn Jahre alt und es ist Zeit für dich, zu lernen, dass die sogenannte Liebe ein kolossaler Schwindel ist. Ich will dir etwas zeigen.« Und er führte mich in das anatomische Museum, zeigte mir menschliche Skelette und lehrte mich: »Immer sobald du meinst, ein Mädchen sei schön, musst du daran denken, dass wenn man ihr die Kleider auszieht und dann die Haut und dann das Fleisch, dann sieht sie so aus.«

Nicht weit vom anatomischen Museum war ein alter, verrufener Stadtteil. In einer engen Gasse lehnten mangelhaft bekleidete Weiber lachend aus offenen Fenstern der niedrigen, schmutzigen Häuser, winkten uns zu und luden uns mit unflätigen Worten zu sich ein. »Schliesse die Augen!« sagte Lord Nevermind, »so, jetzt stelle dir das Skelett darunter vor – hast du? – So, jetzt kannst du wieder schauen!« Und zu meinem Erstaunen: »Ich verlasse dich jetzt. Geh du hinein! Man wird drin Geld von dir verlangen. Hier hast du fünf Mark.« – Und weg war er.

»Na, gut, ich will zu den Skeletten hineingehen«, dachte ich. Es war aber ein recht dickes Skelett, was mich in der Tür umarmte und in ein niedriges, 21 muffiges Zimmer schleppte. Da standen Plüschsophas. Auf einem davon sassen noch zwei solche blasse, dicke Weiber in rosaseidenen Hemden und assen Äpfel. Auf dem Mahagonitisch stand eine Flasche Champagner in einem Kübel und einige Gläser, halbvoll, in einem schwamm eine Fliege. Ein Mann in Hemdärmeln klimperte auf dem verstimmten Klavier, ein Mädchen hielt ihn dabei umarmt. »Kleiner, schenk mir einen Taler in den Strumpf«, schmeichelte meine Dicke. »Warum, mein Fräulein?« fragte ich. Beim Ton meiner Stimme drehte sich der Mann am Klavier um, und es war unser Klassenlehrer. Wir waren beide recht erschrocken. Er konnte kein Wort sagen. Ich sagte: »amo, amas, amat, amamus . . .« Da war er schon aufgesprungen und hinausgestürzt. Draussen hörte ich ihn furchtbar aufgeregt schimpfen und etwas von Polizei sagen. Ich dachte: »Aha, er ist kein Gentleman«. Die Weiber tuschelten untereinander verstört in einer Ecke, und ich hörte sie auch von Polizei sprechen. Ich hatte Polizei nicht gern, seitdem ich und meine Freunde verhaftet worden waren, weil wir Fussball gespielt hatten, ohne vorher um polizeiliche Genehmigung nachgesucht zu haben. Es wurde daher ein bischen unheimlich, ich verabschiedete mich schnell: »Adieu, liebe Skelette, ich muss noch meine Schulaufgaben machen.« »Komm in einer Stunde wieder, Kleiner, wenn die Luft rein ist.« Ich war froh, als ich draussen war, hatte so ein leeres Gefühl in mir. Ich ging in eine Konditorei, trank eine Tasse Schokolade und einige Gläser süssen Portwein und ass sehr viel Torte dazu, bis die fünf Mark aufgebraucht waren und mir recht übel wurde.

Mein Magen revoltierte, und ich war wohl sehr 22 blass, als ich dann den Garten von Schloss Nevermind betrat. Der Onkel hatte gerade ausreiten wollen, hielt das Pferd an: »Halloh, Master Emmaus, wie war es? Haben die fünf Mark gereicht?« – »Ja, sie haben gereicht, ich war in der Konditorei, eine Tasse Schokolade, zwei Glas Portwein, sechs Stück Torte.« »Was?! Alles vernascht hast du!« Er wurde dunkelrot im Gesicht, wollte mit der Reitgerte zuschlagen. Dann gab er sich einen Ruck, presste die Lippen zusammen und ritt davon. »Nevermind!« rief ich ihm nach. Da drehte er sich lächelnd um.

Er hat es mir nicht nachgetragen. Wohl aber unser Klassenlehrer. Eine geheime Lehrerkonferenz wurde einberufen, und die hat mich wegen unsittlichen Lebenswandels mit Schimpf und Schande von der Schule gejagt.

Mein Vater war wütend. Er nahte sich mir mit einem Rohrstock. Ich zog meinen Rock aus und belehrte ihn: »Ich liebe ungleiche Kämpfe nicht. Du bist nicht in Training, und ich bin der beste Boxer in der Schule.« Das begriff er, wollte dann, ich solle nie wieder mit dem Onkel sprechen, besann sich schliesslich: »So, nun kann der Onkel auch für deine Zukunft sorgen.« Der übernahm das gern.

Ich hatte gedacht, der Onkel würde so etwas wie Gewissensbisse zeigen. Aber nein, er drückte mir die Hand und sprach: »Nevermind! Du warst ja schon lange genug in der Schule. Alles Wissen bezweckt nur, den Gentleman vom Pöbel zu scheiden. Deshalb ist schon die Rechtschreibung zu so einer schwierigen Geheimwissenschaft gemacht worden, bei uns in England wenigstens. Man könnte sie viel einfacher und vernünftiger machen, aber dann wäre sie bald kein 23 Vorzug der oberen Klassen mehr. Aller Klassenunterschied würde verwischt, und das wäre das Ende der Civilisation. Zwischen uns und dem Höhlenmenschen steht die Orthographie. Aus dem gleichen Grunde lernt man Grammatik, klassische Sprachen, Geschichte. Du hast alles gelernt, was nötig ist, um ein Gentleman zu sein. Mehr wäre Zeitverlust. – Hast du eine bestimmte Idee, was für einen Beruf du dir aussuchen wirst? Heute Abend wollen wir es mit deinem Vater besprechen.«

Ich hielt es für das Beste, Kaufmann zu werden. »Gut, da kommt es ganz darauf an«, meinte Papa, »womit du handeln willst, ob mit Waren oder Imponderabilien, Unwägbarem, Weltanschauungen zum Beispiel. Die damit handeln, nennt man Philosophen. Sie werden vom Staat angestellt, bekommen ein hohes Gehalt, setzen viele Bücher und viele Kinder in die Welt. Mein Freund, Professor Schripzwift, ist Imponderabilienhändler, Excellenz, Geheimrat, Millionär. Zum Warenhandel dagegen braucht man Geld. Nun ist dir das Studium leider verschlossen und – – –.« Der Onkel unterbrach: »Ich kann nicht finden, dass es für einen Gentleman besser ist, Weltanschauungen zu fabrizieren als Hemden. Und wenn man kein Kapital riskieren will, so gibt es auch andere Imponderabilienbetriebe ohne Universitätsstudium. Künstler zu sein ist das beste Geschäft der Welt, weil man beinahe keine Barmittel darin festlegen muss, ein Gentleman ist, viel verdienen kann und mit dem höchsten Adel gleichberechtigt verkehrt. Es gibt gewiss viele arme Künstler, aber sicher noch mehr arme Kaufleute.« »Und wieviele der grössten Künstler sind im Elend gestorben!« warf mein Vater ein. – »Ach was, die waren Genies. 24 Das darf man natürlich nicht. Ausserdem, ein Gentleman hat nicht genial zu sein. Emmaus ist kein Genie, also soll er Künstler werden. Maler oder Musiker, was willst du lieber?« »Na, dann schon Maler, da brauche ich wenigstens nicht Klavier zu spielen.« Und so wurde ich Maler.

Am Schluss dieser denkwürdigen Beratung fragte ich den Vater, warum er mich nicht einfach in sein Geschäft nehme. »Weil es vorbei damit ist«, erklärte er. »Ich sagte dir ja, im Geschäft riskiert man sein Kapital. Ich habe meine Gummifabrik jetzt dreissig Jahre und stehe vor dem Bankrott. Ich habe vor zwei Jahren die pneumatischen Gummibrüste erfunden und Millionen darin investiert. Ausgezeichnete Erfindung, aber gerade kam Busen aus der Mode. Ich habe inbrünstig gebetet: ›Herr, lass Busen wieder modern werden‹, und habe auf ein Wunder gewartet.« – »Du auch, Papa?« – »Ach, es gibt keine Wunder mehr – und auch keine Busen.« 25

 


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