Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Festungshaft

Ich kam spät abends in Passau an. Man brachte mein Gepäck nach dem angeblich besten Hotel der Stadt, dem ›Goldenen Stern‹. Die dicke Wirtin zeigte mir das Zimmer. »Das Bettuch scheint mir nicht recht sauber zu sein«, bemerkte ich. – »Natürlich, die Herrschaften aus München wollen immer was Extraiges haben. Drei schöne Leut' haben schon in dem Bett da geschlafen, und keiner hat was auszusetzen gehabt.« Sie liess sich aber überreden. Dann speiste ich im Gastzimmer zu Abend. Die alte Kellnerin strickte an einem Strumpf, ein Fremder, offenbar Handlungsreisender, spielte mit einem behäbigen Geschäftsmann und einem Schandarm Karten bei Bier und Cigarrendunst. Fliegen träumten auf dem schmutzigen Tischtuch.

»Das ist ja so dreckig wie ein Bettuch, Fräulein, gibt es kein reines?«

»Haben Sie es gehört?« sagte sie zu den Kartenspielern hinüber. Die schauten mich grimmig an. Schon hatte ich fünf Feinde in Passau. So durfte ich es nicht machen.

Ich ging dann, mir die Stadt ein wenig anzuschauen. Menschenleer und verschlafen lagen die altertümlichen Strassen im Mondschein. Ich kam an die dunkle Donau und die Stelle, wo sie sich mit den rauschenden 264 Wassern des Inns und der Ilz vereinigt. Einige grosse Kähne waren da verankert, als ob sie nie fortfahren wollten, auf einem miaute eine Katze. Am Ufer lag ein Liebespaar auf einer Bank, immer die gleiche Geschichte. Von der Landzunge ragten Mauern und ein niedriger Turm auf, aber das konnte nicht meine Festung sein, die sollte oben auf dem Berg liegen. Ich ging über eine Kettenbrücke, stieg durch steile mittelalterliche Gassen, kam wohl bis zur Festung Oberhaus und genoss den herrlichen Anblick auf die mondbeglänzte Flusslandschaft. Auf dem Rückweg verirrte ich mich in dem romantischen Gewinkel, fand mich aber wieder zurecht. Im Goldenen Stern war schon Alles finster, die Tür verschlossen. Ich läutete an dem messingnen Glockenzug, hörte keinen Ton, klopfte, rief, es wurde nicht aufgemacht. Ich hämmerte an die geschlossenen Fensterläden. Alles blieb still im Haus. Plötzlich stand der Schandarm neben mir.

»Was machen'S denn da für einen Krawall?« Ich erklärte ihm, dass ich da wohne und hineinwolle.

»Ist doch schon lange Polizeistund', da hätten'S eben eher heimgehen müssen. Jetzt kommen'S nimmer hinein.«

»Nette Zustände bei euch in Passau! Und wo soll ich übernachten?« schrie ich ihn an.

»Jetzt sein'S stad! Sie haben schon zuvor so aufbegehrt in der Wirtschaft. Sie kennt man schon. Überhaupts, Sie kommen jetzt mit auf die Wache! Ruhestörung.«

»Dann bringen Sie mich doch lieber gleich nach Oberhaus, ich soll dort morgen meine Festungshaft antreten.«

»So? Nach Oberhaus gehören'S, da werd' ich Sie 265 gleich hinbringen. Dass Sie mir aber keinen Fluchtversuch machen!«

Er zog seinen Säbel, packte mich mit der Linken am Handgelenk.

»Marsch!« kommandierte er, führte mich in strammen Tritt durch die träumenden Strassen.

»Schritt halten! Verstanden? Linksrechts, linksrechts!« befahl er. »Nur über die Kettenbrücke wird nicht im Schritt marschiert, ist verboten, wegen Erschütterung.« – Aber auch als wir die passiert hatten, gelang es mir nicht, Tempo zu halten.

Er schimpfte mich: »Haben'S denn gar keine Bildung nicht? Ich möcht' Sie schon schleifen.« Ein streunender Hund bellte uns an, der Schandarm schlug mit dem Säbel nach ihm, traf ihn nicht, stolperte, fluchte. Da merkte ich erst, dass er stark angetrunken war. Auf dem schlechten Pflaster der ansteigenden Gassen konnte er selbst nicht mehr Schritt halten, obgleich jetzt ich kommandierte:

»Linksrechts, linksrechts!« Mein Handgelenk hatte er längst losgelassen, schliesslich musste ich ihm den Arm reichen und ihn führen. Er versuchte vergeblich, den Säbel in die Scheide zu stecken. Mitleidig nahm ich ihm den ab und trug ihn über meiner linken Schulter.

Endlich waren wir an der Festung Oberhaus angekommen. Ein düsterer Bau mit dicken Mauern, stellenweise sehr schadhaft. Wir standen vor einem mächtigen Tor von Eichenholz mit geschmiedeten Beschlägen und schwerem, reichverziertem Schloss. Keine Glocke, nur ein mittelalterlicher Türklopfer. Ich klopfte, der Schandarm klopfte, ich klopfte, er, lauter und lauter, es rührte sich nichts. 266

»Aufgemacht! Aufgemaaaacht!« schrie er. Totenstille.

»Rufen'S mit!« befahl er. Nun brüllten wir beide aus Leibeskräften, trommelten abwechselnd mit dem Säbel auf das Eisenwerk. Ganz erfolglos.

»Was tun wir jetzt?« fragte er verzweifelt. Links und rechts vom Tor waren Ecksteine. Wir setzten uns jeder auf einen und überlegten. Ich gab ihm eine Cigarre, steckte mir auch eine an.

»Vielleicht könnten'S hineinklettern«, sagte er.

»Nein, Herr Oberschandarm, das wäre Einbruch, machen Sie es.«

»Ich, mit meinem Bauch! Das geht nicht, und überhaupt, bin denn ich hier Festungsgefangener oder Sie? Machen'S das nur selbst.« Wir suchten nach einer geeigneten Stelle. Uralter Epheu rankte an der Mauer empor, bedeckte sie mit armdicken Zweigen und dichten Blättern bis oben über die Zinnen und zu den Fenstern. Hinter einem bemerkte ich einen schwachen Lichtschein. Da musste es gehen.

»Ich warte am Tor«, sagte der Schandarm, »Sie holen mich dann hinein.«

»Nein, Herr Oberschandarmeriewachtmeister, und inzwischen laufen Sie mir davon. Ich nehme Ihren Säbel als Pfand mit, sonst bleibe ich da.« Ich schnallte ihm das Bandelier ab, umgürtete mich mit seinem Schwert und kletterte an dem Geäst empor.

Oben auf der Mauer kroch ich bis zu jenem Fenster. Es war nur angelehnt, ich stieg hinein, befand mich in einem langen Gang mit vielen Türen. Ganz hinten hing eine kleine, düster verstaubte Öllampe. Hier an der Querwand war eine grössere Tür. Beim Schein eines Zündholzes las ich auf einem Messingschild: 267 ›Oberst Guido von Pressath. Kommandant.‹ Eine Eule huschte an mir vorbei zum Fenster hinaus.

Ich hörte wimmerndes Stöhnen hinter der Tür und schwaches Rufen, »Dellinger, Dellinger«, glaubte ich zu verstehen. Ich klopfte an, es wurde nicht Herein gerufen, die Laute hörten nicht auf. Vorsichtig öffnete ich, stand in einem saalartigen grossen Raum mit gewölbter Decke, hohen spitzbogigen Fenstern. Die einzige Beleuchtung war eine dicke Wachskerze in einem silbernen Kandelaber auf einem Tischchen, das neben einem riesigen alten Himmelbett stand. Um den Leuchter waren Medizin-Gefässe versammelt. Über einen Stuhl war, sehr ordentlich, eine Uniformhose und ein weisser Waffenrock der Leibgarde gelegt, die Epauletten blinkten im flackernden Kerzenlicht. Neben dem Stuhl standen Filzpantoffeln und ein Krückstock. Vom Bett war eine der Decken herabgeglitten, in den Kissen lag ein grosser, magerer Greis, im Nachthemd, stiess unter seinem mächtigen Schnauzbart schmerzliche Töne hervor. Er bemerkte mich nicht. Ich tippte ihm leise auf den Arm.

»Bist endlich da, Dellinger, du Malefiz!« grunzte er. »Mein Zipperlein tut wieder arg, bis in den Rücken hinauf, musst mich gleich einreiben.«

»Melde mich gehorsamst, Festungshäftling Emmaus«, sagte ich, die Hacken zusammenschlagend. Er hörte mich nicht, sondern fuhr fort:

»Da am Tischerl steht die Büchse Opodeldok, schnell reibst mich ein!« Er legte sich auf den Bauch, streifte das Hemd hinauf, wies mir den Rücken.

»Zu Befehl«, schnarrte ich möglichst militärisch, fand die Opodeldok-Büchse, strich mir Einiges von der gelben Salbe auf die Handflächen und massierte damit 268 gründlich seinen knochigen Rücken und die runzligen Beine.

»Gleich ist's mir viel besser, Dellinger, nun gib mir noch das Nachtgeschirr.« Ich tat es.

»Das geht auch schon ein bisserl leichter, nun kannst wieder schlafen gehen, Dellinger.«

»Ich bin ja nicht der Dellinger, Herr Oberst!« – Aber er war offenbar stocktaub. Auf dem grossen alten Eichentisch im Zimmer bemerkte ich ein Hörrohr und eine Brille, reichte ihm beides. Er setzte die Brille auf, nahm das Hörrohr an's Ohr, – aber schon war er eingeschlafen. Ich deckte ihn gut zu.

Was sollte ich anfangen? Ich war allmählich auch sehr müde geworden. Da stand ein bequemer Ohrenlehnstuhl. Ich setzte mich hinein, nachdem ich die Kerze ausgeblasen hatte. Bald schlummerte ich, tief und traumlos.

In der Morgendämmerung wurde ich wach, fröstelte, brauchte eine Weile, bis ich mich auf Alles besann. Der Kommandant schlief noch fest. Ich fürchtete die Anstrengung, dem Schwerhörigen begreiflich zu machen, wieso ich da hergekommen war. Deshalb erhob ich mich leise, schnallte mir den Säbel wieder um und schlich hinaus. Es galt vor Allem, Dellinger zu suchen. Ich wollte alle Türen abklopfen, bis ich ihn finden würde, allerdings wusste ich nicht einmal, wer Dellinger war.

Die Aufgabe wurde mir erleichtert, da ich gedämpfte Schritte hörte und, zum Stiegenhaus eilend, einen Soldaten die Treppe hinaufgehen sah. Das mochte Dellinger sein. Natürlich würde er unangenehme Fragen an mich richten. Dem musste ich zuvorkommen. Ich füllte daher meinen Brustkorb mit Luft und schnauzte; 269

»Dellinger, wo kommen Sie her?«

»Zu Befehl, ich war in der Ilz-Vorstadt bei meiner Braut.«

»Ordonnanz hat zur Stelle zu sein. Dass mir sowas nicht wieder vorkommt! Abtreten!« Er machte kehrt und entfernte sich. Ich rief ihn zurück; er blieb in strammer Haltung vor mir stehen, ich sprach:

»Dellinger, bin hier auf Festung kommandiert, nehme an, Herr Oberst hat Zimmer für mich bereit stellen lassen. Zeigen!«

»Zu Befehl! Herr Oberst hat Herrn von Emmaus schon lang erwartet, ich hole die Schlüssel.«

»Gut. Aber erst nehmen Sie diesen Säbel und bringen ihn dem Schandarm, der draussen vor dem Tor steht.«

»Jawohl, Herr von Emmaus, ich habe ihn gesehen, wie ich heimkam, er sitzt auf dem Prellstein und schläft.«

»Sagen Sie ihm, er darf jetzt nachhaus gehen, soll mir mein Gepäck vom Goldenen Stern heraufbesorgen.«

Dellinger schloss eine der vielen Türen auf, sie führte in einen langen, hellbefensterten Gang, bis zum anderen Ende des Gebäudes, dort lag mein Gefängnis. Es waren zwei grosse, sehr hübsche helle Zimmer, mit wundervoller Aussicht über die Stadt, die Flüsse und die Berge. Schöne alte Kirschholzmöbel. Das Schlafzimmer hatte eine Tür auf einen Balkon, hoch über dem Abgrund. An den Fenstern waren bunte, lustige Cretonne-Vorhänge.

»Genehmigt«, sagte ich. »Um sieben Uhr bringen Sie mir das Frühstück, Kaffee, zwei Buttersemmeln, zwei Eier.«

Ich liess es mir auf dem Balkon servieren. Gegen 270 neun Uhr kam der Schandarm mit meinen Koffern, ganz verschwitzt. Der Hausbursche vom Goldenen Stern hatte geholfen, sie auf einem Handwagerl den Berg heraufzufahren. Dem bezahlte ich die Hotelrechnung, beide entlohnte ich reichlich.

Um 10 Uhr liess ich mich durch Dellinger beim Kommandanten melden, machte meine Aufwartung. Er sass vor einem grossen, alten Schreibtisch mit vielen, schön eingelegten Schubfächern, zwischen Bergen beschriebenen Papiers, erhob sich und wendete sich mir zu. Ich hätte die traurige Gestalt der vergangenen Nacht nicht wiedererkannt. In der straffen Haltung seiner hohen, schlanken Figur wirkte er imponierend. Jetzt war der aufgezwirbelte Schnurrbart schwarz gefärbt, die Stirn war von einem Gestrüpp dichter schneeweisser Haare eingerahmt, er trug ein Monokel in's Auge geklemmt. Den Uniformrock zierte ein Orden. Es war nicht einmal komisch, dass er das Hörrohr an's Ohr hob, denn er tat es mit der Feierlichkeit einer religiösen Zeremonie. Er reichte mir freundlich die Hand, liess mich niedersitzen, entnahm einer Aktenmappe ein Schriftstück, auf das er einen flüchtigen Blick warf.

»Herr Emmaus, Sie haben das Malör gehabt, zu vier Jahren Festungshaft verurteilt zu werden, sollen diese Zeit auf Oberhaus zubringen. Die Festung untersteht meinem Kommando. Ich betrachte es als meine Aufgabe, Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten, Ihnen den Verlust der persönlichen Freiheit nicht allzusehr fühlbar zu machen. Deshalb habe ich Ihnen Zimmer ausgewählt, die etwas abgesondert liegen, man kann von dort auch auf einer eigenen Wendeltreppe direkt ins Freie gelangen. 271 Womit Sie sich hier beschäftigen wollen, unterliegt keinen Vorschriften, soweit es nicht gegen die Gesetze verstösst. Ich habe die Pflicht, Ihre Korrespondenz zu überwachen; wenn Sie einverstanden sind, verzichte ich aber darauf. Ich mache Sie aufmerksam, dass keinerlei Pläne oder Abbildungen der Baulichkeiten veröffentlicht werden dürfen, die für den Feind von Wichtigkeit sein könnten.«

»Gestatten Herr Oberst, ist die Festung denn strategisch von Bedeutung?«

»Selbstverständlich, im Jahre 1219 hat sie die anstürmenden Ungarn abgewehrt. Die Bewirtschaftung liegt in den bewährten Händen der alten Frau Guggemos. Wenn Sie betreffs der Verpflegung oder der Einrichtung besondere Wünsche haben, so wenden Sie sich an sie. Für Kost und Wohnung sind ihr wöchentlich dreissig Mark im Voraus zu zahlen. Als Ordonnanz bedient Sie mein Dellinger, es steht Ihnen aber auch frei, eine Civilperson zu Ihrer Bedienung einzustellen. Ich müsste Ihnen eigentlich das Ehrenwort abnehmen, dass Sie nicht fliehen werden. Aber es wird Ihnen schon hier gefallen, da braucht es das nicht. Passau ist eine hochinteressante Stadt, schreibe an einem Werk über ihre geschichtliche Vergangenheit.« Er zeigte auf die Manuskripthaufen, die den Schreibtisch bedeckten. Nachdem er mich noch für den Nachmittag eingeladen hatte, den Kaffee bei ihm im Garten zu trinken, war die Audienz beendet.

Frau Guggemos, die Haushälterin, stellte sich mir in meinen Gemächern vor, nahm ihr Geld in Empfang und liess sich über meine Lebensgewohnheiten aufklären. Aus ihrem alten Vollmondgesicht strahlte ungehemmte Neugierde, sie wollte meine Lieblingsspeisen 272 wissen, was ich verbrochen habe, ob ich ein Studierter sei, ob katholisch, vermögend, verheiratet oder wenigstens ein bisserl verlobt.

Da war der Kommandant viel taktvoller. Er stellte keinerlei Fragen an mich, als wir in der Gaisblattlaube des Festungsgärtchens beim Nachmittagskaffee zusammen sassen. Doch, mit der Gesprächigkeit der Einsamen, hatte er das Bedürfnis sich mitzuteilen. So erfuhr ich alles über sein Leben.

Als junger Offizier hatte er die Leibwache Ludwigs II., des Königs von Bayern, befehligt, in jenen Tagen, da den sein furchtbares Geschick ereilte. Den Irrenarzt, der damals mit seinen Wärtern nach Schloss Berg gekommen war, um den wahnsinnigen König fortzubringen, hielt Oberst von Pressath jetzt noch immer für einen Abgesandten des ränkevollen Preussen. Der König hatte befohlen, diese preussischen Verbrecher gefangen zu nehmen und ihnen bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen. Der gehorsame Offizier war, hoch zu Ross, an der Spitze seiner Gardisten zum Schloss gezogen, hatte die Wärter fesseln und in den Keller sperren lassen. Ihren Anführer hatte man nicht zu fassen bekommen, denn inzwischen hatte sich die Tragödie schon vollendet. König und Irrenarzt lagen ertrunken im See. Die näheren Umstände sind nie aufgeklärt worden.

Der brave Offizier hat für seine Treue keine Anerkennung gefunden, im Gegenteil, sie hat ihn unmöglich gemacht. Aber, als den am besten über die Vorgänge Unterrichteten, musste man ihn vorsichtig anfassen, so wurde er nicht verabschiedet sondern, unter Beförderung zum Oberst, als Kommandant der Festung Oberhaus kaltgestellt. 273

Auch mich betrachtete er als Opfer preussischer Umtriebe, versicherte mich seiner vollen Sympathie.

Jene Ereignisse, die seine Laufbahn zerstört hatten, lagen nun schon viele Jahre zurück. Im ersten Zorn hatte er damals seinen Abschied nehmen wollen. Er war mit der schönen jungen Witwe eines Münchner Millionärs verlobt, gedachte nun, als Privatmann, sich dem Rennsport zu widmen. Aber sie wollte ihn nur als Offizier heiraten, und da hatte sie keine Lust, in Passau zu versauern. Sie zerstritten sich, und die Verlobung wurde aufgehoben. So übernahm er den Posten, blieb unvermählt und einsam. Längst hätte er jetzt das Recht auf Pensionierung gehabt, man wollte jedoch den Mitwisser unbequemer Geheimnisse nicht aus der Dienstverpflichtung entlassen. Bitter beklagte er, dass man ihn, den Sprossen eines der ältesten Adelsgeschlechter, zum Kerkermeister entwürdige, noch dazu habe man seine Standesgenossen, Offiziere, die wegen Duells auf Festung kamen, nie nach Oberhaus geschickt, sondern auf die Feste Landsberg. Er hat Trost in schriftstellerischer Tätigkeit gesucht, ein fünfaktiges Drama ›Burg Treuwahn‹ verfasst, das seine Leidensgeschichte als mittelalterliche Legende behandelte, teils im Versmasse Shakespeares, teils in dem des Nibelungenliedes. Leider ist es bei keinem Münchner Theater angenommen worden, wegen bühnentechnischer Schwierigkeiten; die grosse Szene sei nicht darstellbar, wo der getreue Ritter sich selbst die Haut abzieht und sie seinem königlichen Herren darreicht, der ihn gnädig ersucht, sie wieder anzulegen, während ihn gleichzeitig von hinten der Dolch des Meuchelmörders trifft. In Berlin steht das Theater maschinell auf höherer Stufe, und man hat diese Bedenken nicht gehabt 274 ›Burg Treuwahn‹ ist dort ein Zugstück geworden. Bei der Jubiläumsaufführung, der fünfhundertsten, hat man unbedingt des Autors Anwesenheit verlangt. Er hat seinen Widerwillen überwunden und ist nach Berlin gefahren.

Oh bittere Enttäuschung! Dort ist sein Trauerspiel als lustiges Stück, als Posse, aufgeführt worden, und das barbarische Publikum hat sich in Lachkrämpfen gewälzt. Man hat ihn auf die Bühne geschleppt, Lorbeerkränze überreicht. Tränenden Auges hat er nur sagen können: »Das hier ist das Trauerspiel meines Lebens. In Berlin wäre selbst Hamlet ein Lacherfolg geworden.« An Tantiemen hat ihm das Stück ein Vermögen eingetragen. Das konnte aber seinen Gram nicht lindern. Er werde, sagte er, der stupiden Welt keine Tragödie mehr schenken, wenn er auch noch viel Schmerzliches erlebt habe, das dringend nach dramatischer Behandlung verlange. So den Fall Eierer.

Eierer war ein junger protestantischer Theologiestudent, ernst seiner Wissenschaft ergeben. Über die Auslegung einer Stelle der heiligen Schrift war er mit seinem Professor in Meinungsverschiedenheiten geraten, so heftig, dass sich der Professor zu Tätlichkeiten hinreissen liess. Im Verlaufe der Rauferei hat der Student dem Theologieprofessor ein Ohr abgebissen, ist zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt worden. Nun gab es damals auf Oberhaus jeden Donnerstag zum Mittagessen Schweinsohr mit Sauerkraut und Erbsenpüree. Eierer stierte entsetzt auf das gesottene Ohr, war einer Ohnmacht nahe. Als sich das Schweinsohr jeden Donnerstag wiederholte, hielt er es für einen Teil seiner Strafe, selbstquälerisch zwang er sich es aufzuessen. Aber die ganze Zeit lebte er in Angst vor dem 275 Donnerstag, verfiel in Trübsinn. Schliesslich ist er an einem Donnerstag auf die Zinne des Turmes gestiegen. Das Schweinsohr im Mund, das Haupt mit Erbsenpüree gesalbt, den Rock mit Kraut beschmiert, hat er sich in die Tiefe gestürzt. »Fürwahr eine Tragödie Shakespeareschen Ausmasses!«

»Erschütternd! Und Herr Oberst dürfen sie der Menschheit nicht vorenthalten!«

Er liess sich nicht überreden, wollte seine Zeit ganz historischen Studien widmen.

In den folgenden Wochen habe ich viele Landschaften gemalt, wenn mich nicht gerade unser Meteor dringend um eine Zeichnung ersuchte.

Ich sass unten am Ilzfluss und aquarellierte von da eine Aussicht auf die Festung. Ein Turist stand lange Zeit hinter mir und schaute zu. Dann sagte er: »Da is es hübsch oben, wer wohnt denn eegentlich dort?«

»Ich.«

»Ach nee? Da mecht'ch gleich in de Sommerfrische. Vermieten Se nischt?«

Das war eine gute Idee. Ich schaute mir den Mann an. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, klein, blass, blond, breithüftig, ixbeinig, trug den Strohhut mit einem Gummibändchen am Rockknopf aufgehängt, also aus Sachsen.

»Wird Ihnen zu teuer sein«, wehrte ich ab.

»Na, heeren Se mal, ich habe doch die Trikotaaschenfabrik in Chemnitz, Reinhold Meetzsch und Co. Die geht ganz von alleene. Da mach ich im Sommer eegal fort, weil's in Chemnitz so stinkt. Meine Liddie is mit den Kindern in de säksche Schweiz, ich habe eegentlich die Donau runter fahren wollen, mit'n Dampfschiff, nach Wien. Aber hier wäre enne scheene Bleibe.« 276

»Kostet 150 Mark die Woche, zwei Zimmer mit voller Pension.« Jetzt wollte ich weitermalen, verabredete mit ihm Zusammenkunft nachmittags an der gleichen Stelle.

Als er fortgegangen war, packte ich zusammen und eilte hinauf, nahm mir Frau Guggemos vor.

»Dreissig Mark die Woche ist eigentlich sehr wenig. Da können Sie doch nichts ersparen. Möchten Sie nicht lieber hundertfünfzig haben?«

Ihr Vollmond strahlte hell. »Sie sind ein Braver. Herr von Emmaus, das hab ich gleich gemerkt, da werd ich ja reich.«

»Gewiss, Frau Guggemos, ich möchte Sie reich und glücklich sehen. Natürlich, ich kann so viel nicht zahlen, aber ein Freund von mir, Herr Meetzsch aus Chemnitz, will meine Zimmer den Sommer über mieten und vielleicht auch für länger.«

Eine Wolke beschattete den Vollmond. »Ach so, Herr Emmaus, – geht denn das?«

»Alles geht. Hundertfünfzig Mark die Woche. Siebentausendachthundert Mark im Jahr! Wer lang fragt, geht lang irr.«

»Ja, schön wär's schon, und dann kann der Dellinger auch bald die Urschel heiraten, wissen'S, seine Braut, wo mein Enkelkind is, werd gleich reden mit ihm.«

Dellinger gelang es schnell, die letzten Bedenken der Frau Guggemos zu beseitigen. Am Nachmittag ging ich mit Herrn Meetzsch hinauf. Er war entzückt von der schönen Sommerfrische.

»Da mechte ich eegal wohnen. Wenn die Kinder ämal gross sin, kriegen se die Fabrik un ich ziehe mit meiner Liddie wech von Chemnitz. Da koofe ich Ihnen 277 den ganzen Zimt hier ab. Kennen Sie Chemnitz? Nee? Sin Se froh! Professor Pubius hat gesagt, in Chemnitz müsste die Urheimat des Menschengeschlechts sein, denn dass da Eener nachher von woanders hätte hingemacht, das kennte mer sich nich denken.«

Ich liess ihn einen Mietvertrag unterschreiben: monatlich im Voraus zahlbar, Einzug in der nächsten Woche. So lange musste er noch im Goldenen Stern wohnen bleiben, konnte ja inzwischen schöne Ausflüge machen, in den bayrischen Wald oder nach Schärding.

Seitdem ich von München fortgefahren war, hatte ich Vevi nur einmal eine Ansichtskarte geschickt, jetzt schrieb ich ihr einen Eilbrief:

»Liebe Vevi! Du hast wohl jetzt Ferien. Ich möchte mit Dir eine Reise machen, vielleicht nach Wien. Wenn Du Lust dazu hast, fahre am Montag mit dem Nachtschnellzug nach Passau. Beiliegend dreihundert Mark. Dein Emmaus.«

Telegraphisch bekam ich Antwort: »ja. brauche ich brautkleid? vevi.«

Ich drahtete zurück: »brautkleid unnötig badeanzug myrtenkranz emmaus.«

Ich packte einen Koffer und liess ihn an den Dampfschiffhalteplatz bringen. Was von meinen Sachen zurückbleiben sollte, übergab ich Dellinger zur Aufbewahrung. Am Dienstag früh war ich pünktlich an der Bahn, der Zug hatte viel Verspätung, und plötzlich war er eingefahren, ehe ich es noch wusste. Ich merkte es erst, als mich Muspet freudig bellend ansprang. Den hatte ich ganz vergessen, war nicht sehr erfreut darüber, dass er mitgekommen war. Gerade konnte ich noch Vevi beim Aussteigen helfen, wir begrüssten uns herzlich. 278

Besorgt fragte sie: »Sind Sie entsprungen?«

»Nachher erzähle ich dir Alles, jetzt sollst du erst frühstücken. Dein Gepäck schicke ich schon zum Dampfschiff, es fährt halb zwölf.«

Wir hatten uns zum Frühstück in die Bahnhofsrestauration gesetzt, als Vevi erschrocken auffuhr: »Wieviel Stück waren es?«

»Zwei Koffer und die Handtasche.«

»Keine Schachtel?«

»Nein.«

»Jessas, dann habe ich die beim Umsteigen in Regensburg liegen lassen. So ein Unglück! Der Myrtenkranz war drin.«

Ich lachte: »Nicht so schlimm, du brauchst ihn nicht so notwendig, es war ja nur Spass.«

»Aber der Büchsenöffner war auch dabei und die Feile und die Zange und die kleine Eisensäge, das ganze Werkzeug, um Sie aus der schauerlichen Einsperrung zu befreien.« Ihre Tränen flossen, ich konnte sie beruhigen:

»Das brauchen wir noch weniger. Ich habe mein Gefängnis vermietet.«

»Und sollen wir den Mietling nicht befreien? Wird er nicht jetzt statt Ihrer gefoltert? Sind Sie sehr gefoltert worden? Lieber Herr Emmaus, sagen Sie mir die ganze Wahrheit, ich bin auf Alles gefasst.«

Sie war rührend in ihrer warmherzigen Sorge um mich und schön und schlank, und sie verzehrte vier Buttersemmeln zum Kaffee und ass drei Eier, und ich war rettungslos verliebt in sie.

»Jetzt wollen wir ein bisschen spazieren gehen, liebes Kind, wir haben noch Zeit, ich will dir die Stadt 279 zeigen. Du und Muspet, ihr braucht Bewegung nach der Fahrt.«

Vom Tal sah die alte Festung wirklich ein wenig ernsthaft aus. Vevi schauerte bei dem Anblick. »Armer Herr Emmaus, Sie müssen furchtbare Tage dort durchlebt haben. Wie froh bin ich, dass ich Sie jetzt befreit habe!«

So stark vermag die Einbildungskraft zu wirken.

»Ja, du liebe, ich bin dir herzlich dankbar, dass du gekommen bist.«

»Ich habe die ganze Zeit immer nur an Sie gedacht. Meine Mathematikaufgaben habe ich verpatzt und im Französischen habe ich die Note: ›ungenügend‹ bekommen. Ich habe mir gewünscht, Ihre Leiden mit Ihnen tragen zu können, aber Sie hatten mir gesagt, ich dürfte Sie nur als Ihre Frau besuchen. Muspet hätte uns gegen die Folterknechte verteidigt.«

»Eigentlich bist du ja meine Frau – seitdem wir den Malaga zusammen getrunken haben.«

»Genügt sowas? Ich dachte nicht, dass das so einfach geht, so ohne Pfarrer und ohne Amt.«

»Das ist es eben. Und du bist noch minderjährig, da brauchen wir die Einwilligung deines Vaters zum Aufgebot. Ich weiss eigentlich nicht einmal, wie du heisst.«

»Genoveva Leibenfrost.«

»Nein, das ist nicht so sicher, und wenn der alte Leibenfrost wirklich als dein Vater gilt, wird er Schwierigkeiten machen, mindestens viel Geld für die Einwilligung haben wollen.«

»Dann ist es schade, dass mein richtiger Vater verschwunden ist.«

»Doch nicht, der hätte noch mehr verlangt. Mit den Behörden wird es Schererei geben, warten wir also 280 lieber noch damit. Einstweilen machen wir uns keine Sorge und wir reisen als Herr und Frau Emmaus. – Du musst ›du‹ zu mir sagen.«

»So mitten auf dem Spaziergang? Das geht doch nicht gut.« Ihre Augen wurden gross und nachdenklich, sie hängte sich an meinen Arm, schmiegte sich dicht an mich. Muspet umtanzte uns.

»Du hast recht, Vevi, ein bisschen Zeremonie soll sein.«

Ich küsste sie. Lange konnten sich unsere Lippen nicht trennen, wir waren beide tief innerlich bewegt, wortlos.

Dann sagte sie: »Emmaus, wirst du mir bei meinen Aufgaben helfen? Die Lehrerin verlangt, dass ich in den Ferien nachhole, was ich deinetwegen vernachlässigt habe. Meine Schulbücher sind im Koffer.«

»Gewiss! Wir wollen sie dann in die Donau werfen.«

Es war eine wundervolle Fahrt, fast als einzige Passagiere neben Kisten, Ballen und Bierfässern, mit dem etwas altmodischen Dampfschiff auf dem sonnenbeschienenen Strom, zwischen bergigen Ufern, blühenden Gärten, Wäldern und Felsen, die oft steil und so nah herantraten, dass sich rauschende Wirbel im Wasser bildeten. Wir sonnten uns geraume Zeit in Liegestühlen, nebeneinander, Hand in Hand, auf dem Verdeck. Möven begleiteten das Schiff streckenweise, Vevi warf ihnen Brot zu. Muspet meinte, es wäre für ihn, sprang danach, wäre beinahe über Bord gefallen. Vevi hatte aufgeschrieen, dann lächelte sie wieder glückselig:

»Ich dachte nicht, dass es so schön in der Welt sein kann. Man sollte überhaupt nur Hochzeitsreisen machen.« 281

»Leider ist das nicht der einzige Zweck des Lebens.«

»Bitte nicht so ernsthaft, Emmaus! Hat das Leben überhaupt einen Zweck? Welchen Zweck haben die Sonne und die Blumen und die Möven dort? Nur wenn etwas unangenehm ist, findet man, dass es einen Zweck hat.«

»Vielleicht soll man nicht Zweck sagen, sondern Ziel. Alles bewegt sich unabänderlich auf ein Ziel hin, man kann das Gottes Willen nennen oder Naturgesetz.«

»Aber unangenehm ist das. Du solltest etwas dagegen tun, Emmaus. Du bist doch so gescheit.«

»Du verlangst, dass Wunder geschehen, liebe Vevi. Ich warte auch darauf. Oft habe ich geglaubt, sie wären möglich, und dann sind sie immer nur ein Traum geblieben.«

»Unsinn! Alles ist Wunder, und auch die Bibel ist voll davon, also können sie nicht gegen Gottes Willen sein. Im Gegenteil, ich glaube, sie machen ihm Spass.«

Abends kamen wir nach Linz. Erst am nächsten Morgen zeitig sollte ein Schiff nach Wien weitergehen, so blieben wir im Hotel, als Emmaus mit Frau. In jenen glücklichen Zeiten brauchte man keinen Pass. Wir soupierten in der lauen Abendluft auf der Hotelterrasse, bei milder Musik, unter vielen ziemlich eleganten Menschen, gingen bald schlafen.

In der Nacht schreckte Vevi auf, stöhnte: »Lasst ihn los, ihr dürft ihn nicht rösten, er wird schon ganz knusprig.«

Sie schlang die Arme um mich, flüsterte: »Nein, der Henker kann dir nichts tun, Muspet beisst ihn hinten in die Hose.« 282

Beim Frühstück sagte sie: »Die Lehrerin hat uns aufgegeben, wir sollen einen deutschen Aufsatz machen: Der schönste Tag meiner Ferien. Ich weiss schon, was ich hineinschreibe, auch von der Nacht Einiges. Die wird schauen.«

»Nun hör' endlich auf von deiner Schule, Vevi, wir beide sind ja schon ziemlich erwachsen.«

»Aber ich möchte so klug werden wie du.«

»Eine Frau ist immer klüger als ein Mann.«

Morgennebel wallten noch auf der Donau, als wir weiterfuhren. In Melk stiegen wir aus, verbrachten einen herrlichen, sonnigen Tag in dem schönen, alten Ort, besichtigten das Kloster, wanderten zwischen heissen Rebgärten, badeten im Fluss, tranken Abends eine Flasche Wein bei der hochgelegenen Schenke am Ufer, bevor wir uns zurückzogen.

Am nächsten Tage war es ein grösserer, moderner Dampfer, der uns nach Wien brachte. Die Flussufer weiteten sich, schilfbesäumt, zu grünenden Ebenen, dann stiegen in der Ferne hellblaue Bergsilhouetten am Horizont auf, Häuser zeigten sich, Fabriken, Lagerplätze, Silos, der Dampfer legte an.

Wien wirkte an dieser Stelle nicht imponierend, wir waren ein wenig enttäuscht. Die Stadt, weit und vornehm gebaut, sagte uns besser zu, da wir im Taxi zum Hotel Imperial fuhren. Alle Strassen wimmelten von Menschen, Lärm und Aufregung. Viele drängten sich um Plakate, die angeschlagen waren, lasen sie und brachen in laute Rufe aus. Frauen weinten, Männer knöpften sich energisch den Rock zu und entfernten sich festen, eiligen Schritts. »Die Wiener sind sehr nervöse Leute«, konstatierten wir. 283

Beim Aussteigen konnte sich Vevi nicht enthalten, den Fiaker zu fragen: »Sind die Wiener immer so närrisch?«

»Aber, bitt schön, gnä' Frau Baronin, wann doch bereits der Krieg erklärt is.« 284

 


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