Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Frau Katja

Durch die Politik hatte ich keine Zeit gefunden, an Vevi zu denken. Sie musste jetzt schon gesund sein. Ich begab mich in das Krankenhaus, zahlte die Rechnung. Der Direktor sagte mir, die Patientin könne jetzt als geheilt entlassen werden, ihre Lunge brauche aber noch Schonung. Ich bat, sie noch einen Tag dort zu lassen, ich würde sie dann selbst abholen. Jetzt sprach ich sie nicht, ich wollte erst überlegen, was nun weiter mit ihr geschehen sollte. Das war ein schwieriges Problem. Musste ich mich damit belasten? War es nicht das Einfachste, sie ihrem Pflegevater zurückzugeben, mich weiter nicht um den Fall zu kümmern? Der Gedanke machte mich so traurig, dass ich sah, ich würde es nicht übers Herz bringen. Aber was sollte ich mit dem Mädchen anfangen?

Daheim begrüsste mich Muspet schweifwedelnd. »Vevi kommt«, sagte ich zu ihm, und er führte einen Freudentanz auf, sprang zur Tür und wollte hinaus.

So machte ich mit ihm einen Spaziergang, in Gedanken versunken, er lief voraus. Auf einmal bemerkte ich, dass er mich in die Ehrhardstrasse geführt hatte, vor Quartallers Haus stehen blieb und mich fragend ansah. 248

»Das Tier ist gescheiter als ich. Ich muss Katja um Rat fragen.« Sie war glücklicherweise allein zuhaus, wir tranken Tee.

»Sie sind betrübt?« fragte sie mich.

»Allerdings, Frau Katja, und nur Sie können mir sagen, was ich tun soll. Sie sind so klug.« Dann erzählte ich ihr alles sehr ausführlich. Sie hörte mich aufmerksam an, dachte eine Weile nach, dann sprach sie:

»Allerdings, Sie dürften sich mit dem begnügen, was Sie für das arme Mädchen getan haben, dürften sie jetzt ihrer sogenannten Familie überlassen. Aber das können Sie nicht, denn Sie sind verliebt.«

»Ich halte es mehr für Mitleid, Frau Katja.«

»Dass Sie das meinen, zeigt, wie ernst der Fall ist. Aus Liebe und Mitleid wird eine Ehe. Ich schlage vor, dass Genoveva eine Weile bei mir bleibt, wenn sie Lust dazu hat. Sie soll erst wieder ganz zu Kräften kommen, dann wollen wir weiter sehen. Ich möchte sie morgen mit Ihnen vom Krankenhaus abholen. Wir haben hier mehr Zimmer als wir brauchen können.«

»Ich danke Ihnen herzlich, aber was wird Quartaller dazu sagen?«

»Quart wird ganz meiner Meinung sein Ich bin sehr neugierig auf Dorothys Tochter.«

»Dorothy?«

»Ja, das war ihre Mutter. Sie hiess Dorothy Browning, ich war mit ihr gut bekannt in meiner New Yorker Zeit. Ich schrieb damals für die ›American Post‹, Sie kennen ja diese Riesenzeitung, Dorothy war dort eine der Sekretärinnen, war ein entzückendes Geschöpf. Als sich Beverly Wilcox, der Besitzer des Blattes, mit ihr verlobte, wurde sie viel beneidet. Da warf 249 ihr das Schicksal Chuzky in den Weg, der war nur ein kleiner Reporter. Noch heute ist es mir unerklärlich, wie er es fertig brachte, Dorothys Liebe zu gewinnen. Für ihn verzichtete sie auf ihre Zukunft. Ich glaube sogar, dass Chuzky sie zu jener Zeit auch tief und aufrichtig liebte. Sie heirateten, büssten beide ihre Beschäftigung ein, und Wilcox sorgte dafür, dass sie keine neue fanden. Es ging ihnen schlecht. Chuzky blieb nichts übrig, als mit seiner jungen Frau nach Europa zurückzukehren, ich bezahlte ihnen die Reise. Sie haben dann in Berlin gelebt, ziemlich kümmerlich. Plötzlich starb Wilcox. In seinem Testament vermachte er Dorothy fünftausend Dollar. Chuzky sollte hunderttausend Dollar erben unter der Bedingung, dass die Ehe getrennt würde. Das erzählten sie mir, als ich sie in Berlin besuchte, lachten über die Zumutung, waren ja so verliebt ineinander und in ihr Kind. Immerhin, die fünftausend Dollar waren ihnen willkommen. Sie konnten jetzt sogar eine Sommerreise machen, begrüssten mich in München, als sie in die bayrischen Berge fuhren. Sie blieben lange dort. Dann kam eines Tages Chuzky sehr aufgeregt nach München, fragte mich, ob seine Frau vielleicht bei mir sei, sie sei plötzlich fortgefahren mitsamt dem Töchterchen, ohne ein Abschiedswort. Unauffindbar. Vielleicht erwarte sie ihn in Berlin, sie habe ihm vorgeworfen, dass die Sommerfrische nicht komfortabel genug sei. Er schien mir wirklich verzweifelt, ich versuchte, ihn zu trösten, versprach jede Hilfe. Er berichtete mir aus Berlin, Dorothy sei noch immer spurlos verschwunden, vielleicht nach Amerika. Er habe es der Polizei gemeldet, ja sogar ein Detektivbüro mit Nachforschung beauftragt, das habe sich einen grösseren Vorschuss zahlen lassen 250 und, wie üblich, nichts gefunden. Dann hörte ich nichts mehr von ihm. Als ich wieder einmal in Berlin zu tun hatte, suchte ich ihn auf. Er empfing mich sehr unfreundlich, behauptete, ich hätte Dorothy gegen ihn aufgehetzt. Er wolle jetzt nach Amerika fahren und sie dort suchen. Tatsächlich ist er nach New York gereist, hat dort die hunderttausend Dollar erheben wollen. Der Nachlassverwalter hat aber den Beweis der Trennung als ungenügend betrachtet. Chuzky ist unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Ich habe später gehört, dass er ein Lump war und auf unrühmliche Art zu Tode gekommen ist. Die hunderttausend Dollar werden wohl noch auf der Bank deponiert sein, vielleicht kann man sie für Genoveva retten. Arme Dorothy! Was Sie mir sagen, gibt eine furchtbare Lösung des Rätsels.«

Den Kopf in die Hand gestützt, verfiel sie in Nachdenken, dann strich sie sich über die Augen, als wollte sie etwas wegwischen, sagte lächelnd: »Ich finde es rührend, dass Sie gerade mich um Rat fragen, mich für klug halten. Ich habe doch Dummheiten genug gemacht.«

»Sie? – Ach ja, wo ist Daffodil?«

»In Prag, Direktor der Zralok-Werke.«

»Die grosse Waffenfabrik? Wie ist er dazu gekommen? Warum haben Sie das zugelassen?«

»Wenigstens habe ich nicht die Dummheit gemacht, ihn zu heiraten. Er wollte es, aber ich fand, dass ich zu alt für ihn bin, traute ihm auch nicht recht, so sehr ich ihn liebte. Ich wollte lieber selbständig sein, eröffnete eine Schule für rhythmische Gymnastik. Das war etwas Neues für Prag. Bei allen jungen Mädchen und dicken Damen der Gesellschaft gehörte es zum guten 251 Ton, täglich bei Katja Steinbeisova zu trainieren. Ich muss sagen, Daffodil verdankte ich, dass mein Unternehmen so bald reüssierte. Er gründete in Prag sogleich eine sehr erfolgreiche und einträgliche Annoncenagentur, gewann dadurch schnell Einfluss auf die Presse, veranlasste sie, grosse Reklameartikel über mein Institut zu bringen, mit ausgezeichneten Abbildungen. Wieder und wieder erschien er bei den Übungen mit seinem Photographen, und die Damen sahen mit Stolz ihre Schönheit in den Blättern veröffentlicht. Bald kannte er alle Tanz-Schülerinnen, stand mit ihnen auf freundschaftlichem Fuss. Ich hatte nichts dagegen, denn ich bin von Natur nicht sehr eifersüchtig.

Eines Abends fragte er mich: ›Also du willst mich wirklich nicht heiraten? Aber vielleicht hast du recht, wenn du mich nicht magst. Dann heirate ich Lona Zralokova.‹

›Ich gratuliere‹, sagte ich darauf, ›sie ist eine der schönsten in der Schule, hoffentlich verfettet sie später nicht ebenso wie ihre Mama. Liebe oder Geschäft?‹

Er sah mir tief in die Augen: ›Ich liebe nur dich, Katja, nur dich. Aber es gibt Zwischenstufen, wo die zarten Gefühle gut mit dem finanziellen Hintergrund zusammenstimmen, zu einer grossen und edlen Harmonie verschmelzen.‹

›Immerhin‹, wendete ich ein, ›an dem Geld der Zralokwerke klebt Blut. Stört dich das nicht?‹

›Nicht besonders, und Zralok wird vielleicht auf Wunsch seines Schwiegersohns anstatt der Mordwaffen friedliche Gegenstände herstellen, Autos, landwirtschaftliche Maschinen.‹ So suchte er sich und mich zu beruhigen. Tatsächlich fabrizieren die Zralok-Werke jetzt auch Autos, sehr gute sogar. Sie haben sicher 252 Lomohls Buch ›Lyrische Reise im Zralokwagen‹ gelesen. Aber sonst dachte der alte Zralok nicht daran, die Waffenfabrikation einzuschränken oder gar sich aus dem Konzern der Rüstungsmagnaten zurückzuziehen. Daffodil hat mich enttäuscht. Er erzählte mir ganz naiv, die Vorräte der Waffenfabriken hätten sich jetzt in allen Ländern so angehäuft, dass nur ein europäischer Krieg die Rentabilität sichern könne. Er hat selbst an einer vorbereitenden Besprechung teilgenommen und Vorschläge ausgearbeitet, wie sich die Erhitzung der nationalen Gefühle in eine Belebung des Waffenmarktes umsetzen liesse. Er reist oft nach Wien und Berlin, und an der Riviera trifft er die englischen und französischen Beherrscher der Branche. Der Meteor glaubt, Kriege werden von den Politikern gemacht. Ganz richtig, aber heutzutage sind die Politiker bloss Werkzeuge der internationalen Waffenfabrikanten. Die brauchen einen Krieg, und sie werden ihn bekommen.«

Genoveva übersiedelte zu Frau Katja, fand sich schnell und selbstverständlich in die neue Umgebung, nur hatte sie noch viel zu lernen, besuchte ein Institut, war eine gute Schülerin. Auch sonst musste sie ganz neu aufgebaut werden, besass nicht einmal die nötigste Kleidung.

»Zahlt das Alles Herr Emmaus? Er soll nicht so viel für mich ausgeben!«

»Das braucht dich nicht zu genieren«, tröstete Katja sie, »Eva ist auch aus einer Rippe Adams hergestellt worden. Die Brieftasche sitzt ungefähr an der gleichen Stelle.«

»Und nun bin ich im Paradies –.«

Muspet zog zu ihr, und damit entliess ich das 253 Mädchen für eine Weile aus meinen Gedanken, denn der Ernst des Lebens trat an mich heran. Er tat das in Gestalt eines Gerichtsbeamten, der mir, gegen Quittung, ein Schreiben überreichte, ich solle bis spätestens zum 15ten Mai meine Festungshaft antreten. Mein Gesuch um weiteren Aufschub wurde abgewiesen, von Berlin war eine dringende Aufforderung eingelaufen, nicht länger zuzuwarten. Daffodil hatte dort bei einer Sitzung seines Konzerns den Fall zur Sprache gebracht und die Saumseligkeit der bayrischen Behörde getadelt.

Eschwege war ihm entgegen getreten, hatte gesagt, gerade sei er auf dem besten Wege, mich für die Rüstungsinteressen zu gewinnen, und überhaupt sei es eine Barbarei, einen bedeutenden Künstler jahrelang einzusperren. Er hat sich dadurch sehr geschadet, seine glänzend bezahlte Vertrauensstellung eingebüsst und musste nun versuchen, sich als Architekt eine neue Existenz aufzubauen. Es ist ihm nicht gelungen. Das habe ich aber erst geraume Zeit später – nach dem grossen Kriege – erfahren, als ich an einem heissen Frühlingstag mit meiner Frau eine Autotur längs den Ufern eines Vorgebirgssees machte.

Da überholten wir auf der staubigen Landstrasse einen sonderbaren Aufzug: Eine alte Frau fuhr schweisstriefend auf einem Schubkarren einen grossen Reisekoffer, der mit Blumen bedeckt war. Sieben Kinder, in verschiedenen Grössen abgestuft, gingen hinterher, vier davon waren Mädchen; die weinten. Die älteste, fast erwachsene Tochter, ein langes knochiges Ding, löste die Frau gerade bei ihrer anstrengenden Tätigkeit ab, da der Weg bergauf ging. Im Gesicht der mageren, kleinen Frau lag ein Abgrund von 254 Verzweiflung und Kummer. Ich hielt an und fragte, ob ich behilflich sein könne, vielleicht liesse sich der Koffer auf den Gepäckträger meines Wagens stellen. Sie lehnte, sehr höflich dankend, ab. Mir fiel ihre norddeutsche Aussprache auf.

»Aber Sie werden doch bei der Hitze den schweren Koffer nicht schleppen wollen! Hopp, aufladen! Wo wollt's denn hin?«

»Nach Seebrunn, wir wollen den Vater begraben, er ist in dem Koffer.«

Der Fall interessierte mich, und ich liess nicht locker. Es gelang, Koffer, Frau und drei Kinder im Auto unterzubringen, die vier grösseren sollten mit der Schubkarre und den Blumen zu Fuss nachkommen, es war nicht mehr sehr weit nach Seebrunn.

»Wir wohnen fernab vom nächsten Hof«, erzählte die Frau, »und wir haben gar kein Geld, nicht einmal für einen Sarg und ein Begräbnis. Die Bauern können uns nicht leiden, weil wir Fremde sind, sie nennen uns ›Reingeschmeckte‹, keiner wollte uns ein Fuhrwerk leihen. So lieb von Ihnen, dass Sie uns fahren, Herr Emmaus.«

»Was, Sie kennen mich?!«

Ich betrachtete sie genauer, nun schien sie mir gar nicht so sehr alt zu sein, und sie erinnerte mich an irgendwen.

»Natürlich, ich bin doch Frau Eschwege.«

»Rita!«, ich war erschüttert. Meine Frau, der ich Manches von unserer Bekanntschaft erzählt hatte, wandte sich ab und weinte, Ritas Augen blieben tränenlos und starr.

In Seebrunn haben wir dafür gesorgt, dass Eschwege anständig begraben wurde, sogar in einem Sarg. Rita 255 hat mir über ihr Leben berichtet: Es war Daffodil gelungen, Eschwege bei der Direktion der Kruppwerke als gefährlichen Pazifisten zu verdächtigen und seine fristlose Entlassung zu bewirken. Er wollte nun selbständig als Architekt arbeiten, aber sein Ruf war so geschädigt worden, dass er keine Aufträge bekam. Er fand eine Anstellung als Hilfskraft in einem Architekturbüro, denn er war sehr tüchtig. Aber auf Verlangen der Mächtigen wurde ihm bald auch dort gekündigt. Verbittert wandte er sich der sozialdemokratischen Agitation zu, veröffentlichte in Parteiblättern Artikel über die Hintergründe der Waffenfabrikation. Dadurch brachte er sich um jede Zukunftsmöglichkeit in seinem Fach. Und Parteibauten fielen ihm nicht zu, die waren längst bei alten Mitgliedern in festen Händen. Er litt sehr darunter, dass er ganz ohne Verdienst blieb. Wir lebten von dem, was mir mein Vater zukommen liess. Eschwege fuhr zu ihm nach Lübeck, fragte, ob dort nicht eine Tätigkeit zu finden sei, erzählte, wie es ihm ergangen war. Er musste sich sagen lassen:

»Nein, hier will, Gottseidank, niemand etwas mit Sozialdemokraten zu schaffen haben. Ich habe nur einen Rat: Schleunigst verschwinden.«

Und dann hörten auch die väterlichen Zuschüsse auf.

So besann ich mich wieder auf meine Malerei, fing an, Blumenstilleben zu malen, farbige, angenehme Bilder. Sie fanden gern Abnehmer, ja, mit einer grossen Kunstfirma bekam ich einen sehr günstigen Vertrag, die Farbendrucke nach meinen Blumenbildern sind in der ganzen Welt verbreitet. Das Familienleben war glücklich, wenigstens blieb kein Jahr der Kinderwagen leer. Einige sind wieder gestorben. Unsere Älteste 256 heisst Emma. Dann kam der Krieg. Eschwege war voller vaterländischer Begeisterung und sah eine Möglichkeit, sich von dem pazifistischen Verruf zu reinigen. Er hat sich im Feld ausgezeichnet, das E. K. 1. bekommen, ist Offizier geworden. In Belgien wurde er gasvergiftet, davon hat er sich nie ganz erholt. In dem Elend der Nachkriegszeit hatten Viele das Verlangen, auf dem Lande zu leben, ihren eigenen Kohl zu bauen, schlossen sich zu Kolonien zusammen. Eschwege fing wieder an zu hoffen. Mit ehemaligen Kameraden gründete er eine Siedlungsgemeinschaft. Sie legten ihre geringen Ersparnisse in dem Unternehmen an, auch ich hatte durch meine Blumenbilder ein Weniges erübrigt. Die Grundstücke und die noch fehlenden Geldmittel wurden uns creditiert. Keiner verstand etwas von Landwirtschaft, und so wurde uns ungeeignetes, torfiges Land hier am See viel zu teuer aufgehängt. Eschwege entwarf sehr nette Häuschen, alle halfen selbst mit bauen. Als die Kolonisten mit ihren Familien einzogen, wurde ein Fest gefeiert, man war fröhlich.

Die Freude währte nicht lange. Die ungewohnte Arbeit war den Siedlern und ihren Familien zu anstrengend, der feuchte Boden erforderte schwierige Drainagen, es wuchs nichts. Nässe und Schimmel war an allen Wänden, Streit und Elend herrschte. Eschwege sollte an allem schuld sein. Er wurde als Schwindler denunziert, auf Rückerstattung verklagt, allerdings freigesprochen. Eines Tages war die Siedlung verlassen, die meisten Häuser sind Ruinen, jetzt wohnen nur wir noch dort. Die Gläubiger wollten alles versteigern lassen, glücklicherweise fand sich kein Bieter. Wir graben und pflanzen Gemüse und Kartoffeln zum Essen. 257 Auch Blumen, die male ich dann und verdiene noch immer ein wenig damit, nicht mehr viel, gerade dass wir am Leben bleiben. Ich unterrichte die Kinder selbst, die Dorfschule liegt weit entfernt, und dort wurden sie von Lehrer und Mitschülern wie Auswurf der Menschheit behandelt. Ein aufreibendes Leben. Eschwege hat es nicht ausgehalten, er hat schon lange gelegen.« – – –

Aber damals, als ich zur Verbüssung meiner Strafe abkommandiert wurde, ahnte ich noch nichts von diesen Zusammenhängen und den Intrigen im Hintergrund, wunderte mich nur darüber, wer Lomohl die Geldmittel gegeben haben mochte, mit denen er ein Konkurrenzunternehmen des Meteor gründete. Es hiess ›Die Standarte‹, war in allen Äusserlichkeiten unserem Blatt genau nachgeahmt, legte sich auch eine Standarten-Partei zu. Schon die erste Nummer zog scharf gegen unsere ›Vaterlandslosigkeit‹ zu Felde. Lomohl hatte seine Poësie jetzt ganz auf diesen Ton gestimmt.

»Feurige Helden seid mir gegrüsst!
Labsal sind euch die donnernden Schlachten.
Frieden und Menschlichkeit gilts zu verachten.
Blutigst wird Frevel der Feinde gebüsst.«

So lautete der erste Vers seines programmatischen Gedichts. Es ist in die deutschen Schul-Lesebücher aufgenommen worden. Der Meteor liess alle direkten Angriffe unbeantwortet, begann nur eine Reihe literargeschichtlicher Aufsätze, deren erste den Lyriker Eugen Lomohl behandelten. Voller Lob und Anerkennung seines dichterischen Werkes, mit vielen Zitaten daraus, die zufällig das genaue Gegenteil seiner jetzigen Gesinnung bezeugten. Eins davon fing an: 258

»Will denn der Kriegsgott die Erde noch immer mit seiner lastenden Rüstung beschweren,
Dass sich die Blümlein vor Sehnsucht verzehren
Tief in der Dunkelheit drückender Qual?
Möchten so gerne die Menschen beglücken,
Wiesen und Hügel möchten sie schmücken,
Aber sie können nicht heben noch rücken
Ihn den Gewaltigen, starrend in Stahl.«

Auch sein Lebenslauf wurde ausführlich und liebevoll geschildert: Schon in frühester Jugend war seine dichterische Begabung mächtig hervorgequollen, so oft in des alten Lomohl Zuckerbäckerei den Bonbons bei der Verpackung Poësie beizulegen war. Dann, als Knabe, verwendete Eugen den Vorrat väterlicher Süsswaren als Propagandamittel seiner Friedensbestrebungen, wenn ihn die viel kräftigeren Kameraden prügeln wollten, weil er, ein Musterschüler, nur auf das Studium bedacht war und jede Teilnahme an kampfartigem Sport ablehnte. Später konnte der konsequente Pazifist sein Militärjahr nicht abdienen, da er beim Knall der Schiessübungen stets von schweren Nervenkrisen befallen wurde. Männlich und zielbewusst erduldete er die Spottreden, die ihm das eintrug, und als ein Corpstudent es gar zu arg trieb und ihm im Laufe eines Gesprächs eine Ohrfeige verabreichte, beschämte er den Rohling durch die verächtliche Äusserung: »Seien Sie froh, dass ich keinen Ehrbegriff habe, sonst müsste ich Sie jetzt zum Duell fordern.«

Der erste Artikel schloss mit einem photographischen Bildnis des Poeten aus der Zeit, da er noch mit langer blonder Dichtermähne in einer Art Biedermeierkostüm unter uns wandelte. Es zeigte ihn Flöte 259 blasend, bei einem blühenden Baum, um ihn herum hüpften fröhlich bändergeschmückte Lämmlein auf der Wiese. Darunter war sein blutrünstiger Heldengesang abgedruckt.

Lomohl wollte uns verklagen, aber wir überzeugten seinen Rechtsanwalt, dass wir den Wahrheitbeweis erbringen würden. So musste er ihm abraten. Die Angriffe der ›Standarte‹ gegen uns wurden schwächer, bald hat sie den Kampf aufgegeben und ist mit einer geschickten Drehung in eine Automobilzeitung umgewandelt worden. Auf diese Weise ging das Kapital nicht verloren, und Lomohl konnte seine Stellung behalten.

Dieses siegreiche Scharmützel hat Doktor Aloys Huber allein geplant und durchgeführt, ich hatte da bereits den Schauplatz der Ereignisse verlassen. Ganz still und ohne jeden Abschied hatte ich mein schweres Geschick auf mich nehmen wollen. Aber als ich mit Packen meiner Koffer beschäftigt war, öffnete sich leise die Tür. Mit grossen ängstlichen Augen stand Genoveva im Atelier. Wie ein verirrtes Reh. Mit einer Schultasche. Es war mir einigermassen peinlich. In meiner Verlegenheit sagte ich: »Du kommst aus der Schule? Schulmädchen riechen nach Butterbrot.«

»Butterbrot riecht gut«, antwortete sie ernst.

»Natürlich, das habe ich ja gemeint.«

»Und Tabak riecht auch gut, bei Ihnen wenigstens.«

Ich lachte: »Solche Komplimente machen sich Hunde, die sich beschnüffeln.«

»Möchten Sie nicht Mauspetz mit in die Festung nehmen, dass Sie nicht so allein sind?«

»Das wird nicht gehen, liebes Kind.«

»Werden Sie dort an die Kette gelegt?« 260

»Vielleicht.«

»Ich will mit Ihnen fahren. Ich werde Ihnen jeden Tag Blumen in das Burgverliess bringen. Sie waren so lieb mit mir.«

»Ein Gefangener darf höchstens von seiner Frau besucht werden.«

»Kann ich nicht Ihre Frau sein?«

»Du bist ja noch viel zu klein.«

»Ich bin beinahe so gross wie Sie.« Tatsächlich bemerkte ich nun, dass sie in der kurzen Zeit erstaunlich gewachsen war.

»Schau, Vevi, du musst vernünftig sein. Du bist fast noch ein Kind, und wenn ich vier Jahre hinter Gittern geschmachtet haben werde, bin ich möglicherweise ein Greis.«

Ich holte eine Flasche roten Südwein herbei, schenkte uns ein.

»Also auf ein frohes Wiedersehen.« Wir stiessen an, sie leerte das Glas fast mit einem Schluck, liess es wieder füllen.

»Ich will aber kein Kind mehr sein!«

Wirklich schien sie mir ganz erwachsen, wie sie jetzt den Oberkörper zurückbog, dass ihre jungfräulichen Brüste hervortraten, und wie sie mich, leise lächelnd, durch die dunklen langen Wimpern hindurch anblickte.

»Und wir kennen uns ja noch viel zu wenig, Vevi. Wir haben uns noch nicht einmal einen Kuss gegeben.«

Das hätte ich nicht sagen sollen; mit schneller kurzer Bewegung küsste sie mich, wie ein pickendes Vöglein, auf den Mund.

»Da!« sagte sie. Und nun wurde es mir schwer, die Wärme meiner Gefühle zurückzuhalten. Ich umarmte 261 sie heiss und heftig. Sie schlang die Arme um meinen Hals. So standen wir uns nah gegenüber, die Schultasche hielt sie noch in der Hand, und sie baumelte auf meinem Rücken. Ein bisschen komisch. Das brachte mich zur Besinnung.

»Nein, Vevi, wir wollen ganz brave Kinder sein.«

Sie legte die Tasche weg und trank in einem langen Zug den ganzen Wein direkt aus der Flasche. Das gefiel mir nicht, und ich blickte sie etwas erstaunt an.

»Also, lebwohl für heute«, sagte ich kühl und schob sie sanft zur Tür hinaus. Ich blieb verwirrt zurück. Da bemerkte ich, sie hatte die Schultasche liegen lassen. Ich stürzte hinaus und wollte sie ihr nachbringen. Aber Vevi stand draussen an die Wand gelehnt, wie erstarrt.

»Du musst den Abschied nicht so schwer nehmen«, sagte ich.

»Oh Gott«, stöhnte sie. Ich nahm sie wieder mit hinein.

»Schau Vevi, ich liebe dich ja, sei nicht traurig.«

Ihre Hände waren eiskalt, ihr Mund zuckte. Sie konnte gerade noch hervorbringen: »Ach, das ist es nicht«, als sie sich schon heftig übergeben musste. Sie lag dann, fast bewusstlos, auf dem Divan, kam nach einer Weile wieder zu sich, sah die rote Bescherung.

»Blutsturz?« hauchte sie entsetzt.

»Nein, Malaga«, beruhigte ich sie und gab ihr ein Glas Wasser.

»Ach, nun graust es Sie ganz gewiss. Sie werden mich niemals heiraten.«

»Allerdings so schnell wohl nicht.«

Sie suchte sich, schwankend und bleich, einen Putzeimer und säuberte den unappetitlichen Fleck. Sie wagte nicht, mich anzusehen, sank darauf, leise 262 weinend, wieder in die Polster. Sie tat mir leid. Um ihr zu zeigen, dass es mich nicht vor ihr ekelte, setzte ich mich zu ihr auf den Divan und küsste sie.

Die Abenddämmerung brach herein, und wir sind noch lange, innig vereint, beieinandergeblieben, Raum und Zeit vergessend.

Ich begleitete sie dann heim, und wir haben uns ziemlich formell verabschiedet. 263

 


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