Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Krieg

Ich hatte schon lange keine Zeitung mehr gelesen, wie auf dem Mond gelebt, wusste nichts von der Ermordung des Kronprinzen, nichts von dem Ultimatum an Serbien, nichts von Deutschlands Hilfe, und Vevi wusste nicht viel mehr.

Im Hotel liessen wir uns Alles berichten, man glaubte uns unsere Unwissenheit nicht, hielt uns für Spione, wie jeden Fremden in der Erregung jener Tage. Nur zögernd und mit heimlichem Geflüster gab man uns ein Zimmer, gewiss das schäbigste des Hotels. Verstimmt sassen wir darin bei unseren Koffern.

»Oh verflucht!« sagte ich, »also Krieg.«

»Nun wirst du wohl ein Held werden, Emmaus?«

»Nicht absichtlich. Überhaupt, ich darf ja garnicht einrücken, ich bin doch Gefangener.«

»Siehst du, Emmaus, wie gut, dass ich dich nicht befreit habe!«

Ich rief die Hoteldirektion an: »Ist das Ihr bestes Zimmer?« – »Bedauere sehr, es ist kein anderes frei.«

»Dann lassen Sie unser Gepäck wieder herunterholen, wir reisen ab.«

Muspet, mit feiner Empfindung für unsere Gefühle, hinterliess seine Visitenkarte im Zimmer.

Wir fuhren zum Bahnhof. Der nächste Zug in der Richtung nach Passau sollte um zehn Uhr gehen. Es 285 wurde viel später, und er war sehr überfüllt, an Schlafwagenplätze nicht zu denken, wir mussten froh sein, eng eingekeilt, überhaupt sitzen zu können. Muspet war sehr im Wege.

»In dieser Zeit mit so ein' grossem Viech zu reisen, das gehört verboten.«

»Erlauben Sie mal«, sagte Vevi hochnäsig, »wo sich unser Muspet doch als Kriegshund melden will! Der wird vielleicht mehr Franzosen fressen wie Sie.«

Sofort war er der Liebling des Coupés, man streichelte und fütterte ihn, eine dicke Frau wollte ihn durchaus auf den Schoss nehmen, war aber zu abschüssig.

Ich hatte noch Zeit gehabt, einige Nahrungsmittel und eine Menge Zeitungen zu kaufen, ersah aus diesen, dass die Weltgeschichte, nach jahrelanger Bescheidenheit, jetzt sehr überhand zu nehmen drohte. Sicher verdankte man das Daffodil und seinem Konzern. Hei! Wie würde der Meteor diese Zusammenhänge beleuchten! Wie würde Doktor Huber, der inzwischen Landtagsabgeordneter der Meteorpartei geworden war, in zündender Rede das Volk auffordern, den Rüstungsgaunern nicht in's Garn zu gehen, wie würde er messerscharf nachweisen, in welchen Abgrund die Verquickung von Staat und Politik führen muss.

»Meteor-Extranummer. Krieg!« wurde ausgerufen. Fiebernd vor Neugierde erwarb ich sie, wollte sie erst während der Fahrt in Ruhe ausschlürfen.

Da war es, als ob Alles um mich zusammenstürzte, beinahe wäre ich aufgesprungen und hätte die Notbremse gezogen. War das der Meteor oder die Standarte? Mit voller Lungenkraft blies er in die Kriegsposaune. 286

Schon die Titelzeichnung war mir ein lähmender Schreck. Sie hiess: ›Nun aber feste druff – –‹, zeigte einen deutschen Michel, der Engländer, Franzosen und Russen durch einen Fusstritt über den Abhang eines Felsens hinunterbefördert.

Darunter stand ein Vers: »Entente-Verbrüderung ist nur ein Bluff, – Wir lachen Hohn und hauen feste druff.«

Als Zeichner hatte Erich Horzel signiert. Wer war Erich Horzel? Der Manier nach sah die Zeichnung aus, als wäre sie von mir, bei näherem Zusehen hatte sie aber auch viel von Resniksen. Von dem war innen in der Nummer ein Bild, das zunächst der guten Meteor-Tradition zu entsprechen schien: Ein elegant eingerichtetes Büro, in dem der behäbige, gut gekleidete Direktor das hübsche Tippfräulein umgefasst hat und ihr diktiert, während daneben Haufen von Totenschädeln auf dem blutbefleckten Schreibtisch liegen. Text: »Der Krieg ist ein Geschäft wie jedes andere.«

Aber die Überschrift war: Firma Albion & Co.

Richtig, da war auch Eugen Lomohl selbst mit Kriegslyrik:

»Es geht in's Land auf heissen Sohlen – Der schwüle Erntemond August –
Das Vaterland ruft unverhohlen – Ich hab's gewollt, ich hab gemusst. –
Wie lieblich tönt das Schädelspalten, – Wenn grell des Krieges Flamme loht! –
Gott wird das deutsche Reich erhalten – Das eure Habsucht frech bedroht.«

Dazu hatte Gradl ein Bild gezeichnet, auf dem alles Nötige zu sehen war: Augustsonne, Ernte, Schädelspalten, Feinde, Verteidigung. 287

Von Doktor Huber war eine rührende Bauerngeschichte zu lesen, wo eine kernige Gebirgsbäuerin beklagt, dass sie nur sechs Söhne in's Feld schicken kann, weil der Bauer schon vor dreiundzwanzig Jahren von einem Wilderer erschossen worden ist und sie seitdem kein Mannsbild mehr angeschaut hat. Nix für ungut, sie hat ja nicht wissen können, dass das Vaterland soviel Soldaten brauchen würde. »Und wer von euch Buben kein eisernes Kreuz bekommt, der soll eins von Holz haben wie euer Vater selig«, ruft ihnen die Heldenmutter beim Abschied zu.

Und dann war noch ein ganzseitiges Bild von Erich Horzel. Da stand Kaiser Wilhelm, turmgross, in Ritterrüstung, den winzig kleinen Feinden gegenüber. Es hiess: ›Der Riese und die Pygmäen‹, und der Text lautete: Um gigantische Pläne zu verwirklichen, muss man selbst ein Gigant sein.

In diesem Sinne war die ganze Nummer konsequent und begeisternd durchgeführt. Vevi erbleichte beim Durchblättern. Lange überlegte ich, was ich nun tun solle und kam zu dem Ergebnis: Nichts. Ruhig in mein Gefängnis kriechen, Welt und Meteor dem Ablauf ihrer astronomischen Bahn überlassen.

Wir waren nur etwas bedenklich, ob es gelingen würde, meinen Mieter wieder auszuquartieren, er konnte sich ja auf den Vertrag berufen.

Die Reise war fürchterlich. Man hielt oft stundenlang an, um Militärtransporte passieren zu lassen. Häufig mussten wir umsteigen, in bereits überfüllte Züge, unter Drängen, Stossen, Schreien, dann enggepresst im Wagen stehen. Der arme Muspet wurde wiederholt auf die Füsse getreten, heulte, konnte das Ganze nicht begreifen. Reservisten rückten ein mit 288 kleinen Köfferchen. Auf allen Stationen wogende Menschenmassen voll Begeisterung. Vaterlandslieder ertönten. Eltern nahmen Abschied von ihren Söhnen, ernst aber gefasst, winkten. Dieses Fegefeuer dauerte fast zweieinhalb Tage. Endlich kamen wir um die Mittagszeit in Passau an, restaurierten uns erst einmal in der Bahnhofswirtschaft.

Kaum hatten wir uns ein wenig erholt, bemerkte ich Herrn Meetzsch, der reisefertig, mit Rucksack und vielem Handgepäck, hereinkam. Er tat, als hätte er mich nicht gesehen und wollte wieder entweichen. Ich erwischte ihn aber.

»Nee, Herr Emmaus, das is aber wirklich grossartch, dass ich Sie treffe«, plumps, setzte er sich an unseren Tisch, »da genn mer ja noch schnell zusammen ä Gläschen Bier schmettern. Ich muss nämlich fortmachen.«

»Herr Fabrikbesitzer Meetzsch – Comtesse Leibenfrost-Chuzky«, stellte ich vor. Er war aufgesprungen und verneigte sich tief.

»Ich steere die Herrschaften doch wohl nich? Nämlich nu is uff eemal Krieg, da kann'ch nich hier bleim. Ich mechte ä bisschen siegen. Für Kaiser und Reich. Hurrah.«

»Ja, das Vaterland ruft«, bemerkte Vevi.

»Nich wahr? Freilein Comtesse, un dabei waarsch doch so gemiedlich hier in der Sommerfrische, un vorausbezahlt hatte ich ooch. Vierhundertfünfzig Mark kriege ich retour von Herrn Emmaus für die übrigen drei Wochen. Die gann ich jetzt gleich mitnäm. Ich hätte sonst drum geschriem.«

»Da sind Sie leider im Irrtum, Herr Fabrikbesitzer«, entgegnete ich, »die Miete ist verfallen, im Gegenteil, 289 Sie schulden mir noch sechshundert Mark für einen weiteren Monat, denn es gibt eine Kündigungsfrist.«

Vevi mischte sich ein: »Herr Emmaus, vielleicht könnten Sie dem tapferen Krieger die Hälfte seiner Schuld nachlassen, wenn er sie sofort bezahlt.«

Wir einigten uns schliesslich auf zweihundert Mark, die mir Herr Meetzsch in bar überreichte, bestätigten uns beiderseitig schriftlich, dass alles geordnet sei. Er trank schnell sein Bier aus, verabschiedete sich herzlich und respektvoll.

»Viel Glorreiches!« wünschte ihm Vevi. Ich drückte ihr warm die Hand:

»Vevi, du hast Talent.«

Einstweilen stellten wir unser Gepäck am Bahnhof ein und wanderten hinauf nach Oberhaus, gingen über die Privattreppe zu meinen Zimmern. Vevi war überrascht, wie schön es da war.

»Und das soll eine Folterkammer sein! Da hätte ich selber Lust zu wohnen.«

»Wirst du auch, nur abwarten.« – Ich holte mir Frau Guggemos herbei. Sie war ganz verstört:

»Denken'S Ihnen nur, der Herr Meetzsch is weg, und Geld hat er von mir zurück verlangt. Aber ich hab's ihm zünftig gesagt, das kann er sich im Kamin naufschreiben, unser Herr Emmaus wird's ihm schon zeigen, dem Ganzandern, dem windigen.«

»Beruhigen Sie sich, Frau Guggemos, seien wir froh, dass er weg ist. Ich bleibe jetzt wieder bei Ihnen und zahlen werde ich Ihnen ebensoviel wie er, vielleicht sogar etwas mehr, wenn ich noch ein Zimmer dazu haben kann. Ich heirate nämlich.«

»Ist das vielleicht gar die Fräulein Braut? Nein, wie 290 mich das freut! Und so sauber!« Sie schüttelte ihr die Hand.

»Noch eins, Frau Guggemos, was hat denn der Herr Kommandant dazu gesagt, dass ich fort war?«

»Der Herr Oberst? Der hat es garnicht gemerkt, man muss doch nicht gleich alles bereden, und der Dellinger hat ihm seine Augengläser bei Seite geschafft.«

»Gut. Und muss der Dellinger jetzt nicht einrücken?«

»I wo! Mit seinem doppelten Leistenbruch, für den hat er doch die Dienstmedaille bekommen.«

»So? Leistenbruch? Da wird die Urschel keine grosse Freude dran haben.«

»Da irren Sie sich aber, sie sagte, Leistenbruch ist viel schöner als Holzbein.«

Ich hatte Vevi vorerst im Hotel einquartieren wollen, aber Frau Guggemos bestand darauf, sie solle gleich mit in der Festung wohnen, natürlich in einem eigenen Zimmer.

»Das ist wegen der Schenier, bis einmal geheiratet ist.« Das Zimmer lag unmittelbar neben meinem, wurde gleich instand gesetzt, gelüftet, Bett frisch überzogen.

Sogar ein Bad war dabei. Ein reicher Bankier hatte sich das einrichten lassen, als er wegen Kleptomanie dort sitzen musste. Eigentlich hatte er eine Gefängnisstrafe bekommen, aber gegen Erlegung von dreissigtausend Mark war sie in Festung umgewandelt worden, und dann hat er später noch einmal dreissigtausend Mark gezahlt, und dafür ist ihm der Adel verliehen worden.

Die reizenden alten Möbel und die herrliche Aussicht entzückten Vevi, sie umarmte abwechselnd Frau Guggemos und mich. Das Abendessen in meinem Zimmer war sehr gemütlich. 291

»Später müssen wir auch eine Küche dazu haben«. meinte Vevi. Das Wort ›Küche‹ fiel mir schwer aufs Herz, Symbol und Quintessenz des Zustandes der Verehelichung. Wie war ich nur da hineingeglitten? So ganz selbstverständlich. Musste es sein? Noch konnte ich mich retten. Nein, ich konnte es nicht. Wie ein Wunder war Genoveva in meinem Leben erschienen, schon der Gedanke, dass sie wieder daraus entschwinden könne, liess mich in heissem Krampf erbeben. Wir waren uns Schicksal, gehörten zu einander. Als ob sie meine Empfindungen erraten hätte, zog sie mich in überströmendem Gefühl an sich.

»In Ewigkeit. Amen«, hauchte sie.

»All right«, sagte ich. »Nun wollen wir schauen, dass wir bald Deine Papiere bekommen, das Beste wird sein, wir fahren ein paar Tage nach München. Dieses Mal lasse ich mir aber Urlaub geben.«

Inzwischen war unser Gepäck heraufgebracht worden. Die Wirkung der anstrengenden Fahrt machte sich geltend, wir sagten uns bald Gutenacht.

Am nächsten Morgen meldete ich mich zum Besuche beim Kommandanten. Er war sehr gut aufgelegt.

»Sie kommen zu glücklicher Zeit, Herr Emmaus, gerade habe ich meine Augengläser wiedergefunden, ich hatte sie verlegt, Brille wie Einglas, habe Sie sehr vermisst. Sie fühlen sich hoffentlich wohl bei uns.«

»Danke, ausgezeichnet, Herr Oberst, ich bin gern hier. Aber darf ich Herrn Oberst um einen kurzen Urlaub ersuchen, ich muss auf ein paar Tage nach München fahren.« Seine Züge verfinsterten sich:

»Wird schwer gehen, ist gegen das Reglement.«

»Aber, bitt schön, Herr Oberst, vielleicht werde ich mich zum Heeresdienst melden müssen.« 292

»Heeresdienst, wieso?«

»Weil doch Krieg ist.«

»Was für ein Krieg?« Es zeigte sich, dass der Kommandant, seitdem er ohne Brille war, weder Zeitungen noch Briefe gelesen hatte. Hatte ich auf dem Mond gelebt, so lebte er auf dem Sirius. Nun wurde er sehr erregt.

»Festung Oberhaus muss natürlich in Verteidigungszustand gesetzt werden. Unsere Kanone ist von 1768. Werde sofort die Heeresleitung interpellieren.«

»Wenn ich mir bescheidenst eine Bemerkung erlauben darf, Herr Kommandant, Oberhaus ist eine gänzlich uneinnehmbare Festung. Ausserdem werden die Feinde in wenigen Tagen zerschmettert sein und nie so weit vordringen. Passau ist fest in unserer Hand. Ein Ausbau unserer Festung könnte leicht von der Verstärkung mehr gefährdeter Positionen ablenken. Ihn zu verlangen würde sowohl Herrn Oberst selbst wie der jetzt gewiss stark in Anspruch genommenen Heeresleitung nur unnötige Störung verursachen.«

Er dachte eine Weile nach, sah die Zeitungen durch, dann drückte er mir die Hand: »Sie sind zwar nur ein Civilist, aber offenbar strategisch begabt. Werde den Dingen ihren Lauf lassen. Diene damit dem Vaterland am besten. Urlaub genehmigt.«

Ich liess mir die Genehmigung schriftlich ausfertigen.

Beim Abschied sagte er mir: »Ich fürchte, man wird Sie nicht zum Heeresdienst zulassen, solange Sie Gefangener sind. Aber vielleicht können Sie begnadigt werden.«

Muspet durfte nicht mit nach München fahren, blieb aber ganz gern bei Frau Guggemos. Auf der 293 Bahn waren schon wieder etwas geordnetere Verhältnisse, so dauerte die Reise nicht viel über einen Tag. Die Stadt fanden wir von heftiger Kriegsbegeisterung erfasst. Nie zuvor hatte ich das gute München so im Tiefsten erregt gesehen. Doch! – einmal – im Jahre 1895, als der Bierpreis auf vierundzwanzig Pfennige der Liter erhöht werden sollte. Auch damals hatte es überall lärmende Dispute auf den Strassen gegeben, Umzüge mit Gesang. Gedräng um die neuesten Bekanntmachungen, vom Volkszorn zerstörte Lokale. Jetzt drängte man sich um die ersten plakatierten Frontberichte, einige Cafés und Restaurants hatte die wütende Menge demoliert, weil die Musik dort ein ausländisches Stück gespielt hatte oder auf der Speisekarte noch immer das Wort ›Roastbeef‹ stand. Aus den rauchenden Trümmern leuchtete der Anschlag: »An feindliche Ausländer wird nichts verabreicht«, dazu hatte ein Patriot mit Rotstift geschrieben: ›höchstens Watschen‹. Extrablätter voll gewaltiger Siege wurden ausgerufen, gierig konsumiert, eine alte Frau war so begeistert, dass sie plötzlich aus vollem Hals Hurrah schrie, ihren Schirm aufspannte und in der Luft herumschwenkte, Eier, die sie in einem Korb trug, hoch empor warf, so dass sie sich wie explodierende Granaten gelb über die Passanten ausbreiteten. Unter Lachen und Weinen umarmte sie einen Polizisten und fiel schliesslich bewusstlos hin. Ein Herr, der eine ausländische Zeitung in der Hand trug, war daran sofort als Spion erkannt und übel zugerichtet worden. Es war eine schwedische Zeitung, aber wer konnte sich mit der Prüfung solcher Einzelheiten aufhalten?

Unser erster Weg war zu Frau Katja. Nur der alte Diener war in der Wohnung. Wir erfuhren von ihm, 294 dass Frau Katja zu ihrem Vater gezogen sei, mitsamt den Kindern. Professor Steinbeis bewohnte eine schöne Villa im Herzogpark. Ich telephonierte hin, Frau Katja bat uns, sofort zu ihr zu kommen. Sie empfing uns erregter, als ich sie je zuvor gesehen hatte.

»Jetzt habe ich endgiltig Schluss gemacht mit Quartaller. Haben Sie gesehen, wie er den Meteor zugerichtet hat? Ein Mensch ändert sich nie. Jetzt, wo es darauf ankam, unsere humanitären Ziele durchzusetzen, hat er sie verraten und verkauft, unwiederbringlich, an ihre schlimmsten Feinde. Schade, dass Sie nicht hier waren! Aber Sie hätten den Lumpenstreich auch nicht verhindern können. Von Daffodil war ja nichts anderes zu erwarten. Doch bei Quartaller habe ich immer wieder an einen guten Kern geglaubt. So dumm war ich! Billig hat er sich seine Gesinnung ja nicht abkaufen lassen. Er sagte mir ganz offen: ›Katja, wirst du denn nie begreifen, dass Ideale nur den Zweck haben, den Preis zu erhöhen? Jetzt scheffeln wir Gold.‹ In einer Auflage von fünf Millionen Exemplaren wird der Meteor gedruckt, vier davon übernimmt der Rüstungskonzern, bar, zum vollen Preis, schickt sie gratis an die Frontkämpfer. Ausserdem hat die Militärverwaltung Extra-Ausgaben des Meteor bestellt, ganze Waggonladungen davon werden im neutralen Ausland zu Propagandazwecken verteilt, Text in die Sprache der betreffenden Länder übersetzt. Lomohl zeichnet als verantwortlicher Redaktör. Doktor Aloys Huber hat über Nacht seine Einstellung vollkommen geändert: er glüht von ehrlicher Kriegsbegeisterung. Mein Vater versuchte, das Unheil aufzuhalten, schrieb dem Meteor einen flammenden Aufruf zum Schutze der bedrohten Civilisation. Der 295 wurde nicht abgedruckt. Verhaftung wegen Landesverrats drohte. Nur sein hohes Alter und seine internationale Berühmtheit haben ihn bisher davor bewahrt. Er hat den Glauben an Europa verloren. Wir reisen nach Amerika, bleiben dort. Genoveva, möchtest du nicht mitkommen? Dort war ja die Heimat deiner Mutter. Ich habe schon alles dazu vorbereitet, alle deine Dokumente habe ich besorgt. Du könntest da drüben vielleicht auch die Erbschaft ausgefolgt bekommen.«

Vevi umarmte Katja: »Ihre Fürsorge ist rührend, ich danke Ihnen von Herzen. Aber ich kann nur dort sein, wo Emmaus ist. Was meinst du zu Amerika?« wandte sie sich an mich.

»Vevi, ich möchte lieber hier bleiben. Ich will noch nicht an Europa verzweifeln, kann mich nicht so schnell losreissen. Das ist sehr gut, Frau Katja, dass Sie sich Vevis Papiere verschafft haben. Wir brauchen sie gerade. Wir wollen uns nämlich heiraten, je eher je lieber.«

Katja war voller Freude darüber, küsste Vevi auf die Backe, mich auf die Stirn, gab uns so ihren Segen.

Im Verlaufe unseres Beisammenseins fragte ich Frau Katja, wer dieser Erich Horzel sei, der mich anscheinend beim Meteor ersetzen sollte.

»Die Welt ist ein Kasperltheater«, erklärte sie, »zur rechten Zeit springt immer der rechte Spezifankerl hervor. Der Augenblick brauchte seinen Erich Horzel, und siehe, er war da. Er kam aus Magdeburg. Dort war er Reklamezeichner im Geschäft seines Vaters: Willibald Horzel, Versandhaus für Patentartikel, eine wichtige Inseratenkundschaft des Meteor. Erich entwarf die Annoncen, in denen die herzigen, praktischen Neuheiten angepriesen waren, in unerschöpflicher 296 Abwechslung, zu Schmuck und Vervollkommnung des Heims. Sie erinnern sich gewiss an das Eichhornlicht: eine rotierende Trommel, in der ein gefangenes Eichhörnchen immerzu rundum laufen musste, setzte einen kleinen Dynamoapparat in Bewegung und lieferte die Kraft für ein Tischlämpchen. Dann die Lesestütze der gebildeten Hausfrau, auf die sie das Buch auflegen konnte, während sie gleichzeitig den Kochtopf umrührte. Und Grosspapas Kraftperlen. Und der Schnarchdämpfer, durch den das eheliche Schlafgemach erst zum wahren Paradies wurde, und die unfehlbare Wünschelrute zum Auffinden verlorener Kragenknöpfe und der musikspendende Irrigator und der automatische Nasenbohrverhinderer für die lieben Kleinen und der Beinformer Adonis mit dem Wahlspruch ›Kampf gegen Ix und O‹. So brachte Willibald Horzel jede Woche eine neue Kultursegnung auf den Markt, hatte eine Annoncenseite im Meteor fest gepachtet, auf der sein Sohn Erich sie in verlockenden Zeichnungen darstellte, ein glänzendes Geschäft. Der Krieg schuf neue ungeahnte Möglichkeiten. Willibald Horzel wirft sich auf die Herstellung von Schanzkörben nach patentiertem Verfahren, die Heeresleitung hat sie millionenweise bestellt. Schon hat er auch die Prothesenfabrikation aufgenommen, behauptet, seine Erzeugnisse übertreffen die natürlichen Gliedmassen. ›An Horzels Prothesen – Wird die Welt genesen.‹ Auf dem Wege über die Inserate war es ihm gelungen, in den inneren Kreis der Meteorleitung einzudringen. Ein anderer seiner Söhne, Rechtsanwalt Dr. Hugo Horzel hatte beim Rüstungskonzern die Stellung eines Syndikus ergattert, er führte die Verhandlungen, die unseren Meteor den Waffenfabrikanten in die Hände spielten. 297 Erich Horzel bekam dabei einen sehr einträglichen Mitarbeitervertrag und eine leitende Stellung in der Redaktion. So sass plötzlich, niemand wusste recht wieso, die Familie Horzel teilhabend und tonangebend in unserem Betrieb. Herr Emmaus, Sie haben doch dort Rechte, die Sie wahren sollten.«

»Ja, ich will mir zuerst mal die Gesellschaft anschauen. Haben die immer noch Mittwoch nachmittags Sitzung?«

»Nein, soviel ich weiss, ist sie jetzt Donnerstags.«

»Gut, ich will morgen hingehen.«

Vevi blieb in der Steinbeis-Villa. Ich suchte meinen Advokaten, Dr. Wurmbrand, auf, hauptsächlich um ihn zu befragen, wie ich am besten den alten Leibenfrost an einem Einspruch gegen die Verehelichung seiner minderjährigen Tochter hindern könnte. Der Anwalt lachte:

»Sie brauchen ihm überhaupt nichts zu sagen. Es gibt ein neues Gesetz: Kriegstrauung. Die ist ohne die ganzen langweiligen, zeitraubenden Formalitäten. Man legt einfach die Legitimationspapiere dem Standesamt vor, erklärt sich vor zwei Zeugen bereit, einander zu heiraten, zahlt fünf Mark und kann gleich auf die Ausfertigung warten. Natürlich kann man sich nachher noch kirchlich trauen lassen, so wie man nach dem Diner einen Kaffee trinken kann, gebräuchlich aber nicht notwendig.«

Schwieriger fand er die Frage, wie ich meine Rechte gegen den Meteor wahren könne. Man würde den Fall sicher zu einem Kampf zwischen Pazifismus und Wehrwillen verdrehen, keine Rechtsangelegenheit, sondern nationaler Belang. Bei einem Prozess würde kein Gericht zu meinen Gunsten entscheiden, möge das 298 Recht noch so klar auf meiner Seite sein. Später, wenn sich die Wogen der Vaterland-Begeisterung etwas geglättet hätten, könnten sich vielleicht doch wieder gerechte Richter finden. So sei es wohl das Beste, die Sache vorerst dilatorisch zu behandeln, einstweilen nur formell zu protestieren. Er verfasste ein Schreiben, in dem er als mein Rechtsvertreter energisch Einspruch gegen die Verletzung meiner ideellen und materiellen Interessen erhob und sich die Wahrung meiner Rechtsansprüche vorbehielt. Es wurde als eingeschriebener Brief an die Meteordirektion abgesandt. Mein Vorhaben, in der nächsten Meteorsitzung persönlich zu erscheinen, hielt er für gewagt, mindestens dürfe ich nicht ohne seine Begleitung hingehen. So beschlossen wir es.

Am nächsten Vormittag ging ich mit Vevi auf das Standesamt. Professor Steinbeis und Katja begleiteten uns als Trauzeugen. Vevi war ein bisschen enttäuscht, dass sie keinen Myrtenkranz brauchte, dass wir in gewöhnlichem Strassenanzug waren und ich ihr nicht einmal ein Brautbukett spendiert hatte. Ich wollte sie trösten und sagte:

»Wir können uns ja danach noch vor dem Altar trauen lassen.«

Zu meinem Erstaunen wollte sie nichts davon wissen: »Dazu bin ich zu religiös. Man soll Gott nicht mit seinen sexuellen Angelegenheiten belästigen, besonders wo er jetzt so viel zu tun hat, um die deutschen Soldaten zum Siege zu führen. Jeden Tag wird er in allen Kirchen darum angefleht. Sicher ist er schon ganz nervös.«

Aber selbst Professor Steinbeis fand es gar zu unzeremoniell, dass wir vom Standesamt aus nicht 299 einmal ein Glas Wein trinken gingen, sondern mit der Elektrischen heimfuhren. Ich zahlte wenigstens die Billette.

»Psychologisch interessant!« erklärte mir Professor Steinbeis, »Im Unterbewusstsein haben Sie deutlich Furcht und Abscheu vor der Ehe; tritt durch Vernachlässigung der Zeremonien in Erscheinung. Unwillkürlich. Jede, noch so unbeabsichtigte, Unterlassung ist seelisch begründet. Sie haben sogar vergessen, Eheringe zu besorgen. Liebe Genoveva, du brauchst gar kein weinerliches Gesicht zu machen. Dass Emmaus sich trotz seiner Ehefeindschaft mit dir verheiratet hat, zeigt gerade, wie stark seine Liebe zu dir ist.«

Ich umarmte sie: »Professor Steinbeis hat recht. Unverzeihlich, dass ich die Ringe vergessen habe. Wir kaufen sie jetzt gleich.« Das taten wir, und bei dieser Gelegenheit schenkte ich ihr eine schöne Perlenkette, um die Psychologie aufzuheben.

Am Nachmittag wollte ich Dr. Wurmbrand zur Meteorsitzung abholen. Ich hatte dazu mein Meteorpartei-Kostüm angezogen. Der Advokat erschrak; »Wissen Sie nicht, dass sich die Partei aufgelöst hat und dass ihre Abzeichen verboten sind?« – Ich wusste es nicht, eilte nachhaus und zog mich um. So kamen wir etwas verspätet hin und fanden schon die ganze Gesellschaft versammelt. Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf, als ich, dicht neben Dr. Wurmbrand, mit dem Meteorgruss eintrat. Alle waren in militärischen Uniformen, sassen in den bequemen Klubsesseln um den grossen Tisch, auf dem Tee und Bier serviert war, haufenweise Manuskripte, Schreibpapier, Zeichnungen lagen. Doktor Huber war, Cigarre im Munde, eingeschlafen, erwachte mit weit aufgerissenen Augen. Wenn ein 300 Gespenst in der Versammlung erschienen wäre, hätte sie nicht entsetzter sein können. Quartaller fand zuerst seine Fassung wieder; kam freudestrahlend auf mich zu:

»Ach, das ist aber schön, lieber Emmaus, dass Sie wieder einmal kommen. Nein, wie mich das freut!«

»Ja, lieber Quartaller, ich hatte Sehnsucht nach Ihnen. Aber bin ich hier recht? Sieht wie ein Kriegsrat aus.«

»Sie meinen, weil wir in Feldgrau sind? Wir haben uns natürlich alle zum Heeresdienst gestellt, wurden leider für unabkömmlich erklärt, können dem Vaterland hier mehr nützen als an der Front.«

»Selbstverständlich. Darf ich den Herren meinen Rechtsbeistand vorstellen? Herr Dr. Wurmbrand.« Man erhob sich, grüsste korrekt. Doktor Huber zündete seine Cigarre wieder an, sprach:

»Sehr erfreut, Herr Kollega, aber Sie werden schon entschuldigen, zu unseren Sitzungen haben leider Aussenseiter keinen Zutritt. Nix für ungut.« Ich antwortete:

»Lieber Herr Doktor Huber, das ist mir neu. Darf ich Sie bitten, mir diese Bestimmung in den Statuten zu zeigen? Ausserdem sehe ich hier mehrere Aussenseiter, Herren, deren Bekanntschaft zu machen ich noch nicht das Vergnügen hatte, und nach Paragraph 11a der Statuten kann ohne meine Zustimmung hier niemand aufgenommen werden.« Doktor Huber entgegnete: »Es freut mich, dass Sie so gut über die Rechtslage informiert sind. Wir stehen jetzt aber unter einem höheren Gesetz: Kriegsrecht bricht Friedensrecht. Was die Militärverwaltung als der Vaterlandsverteidigung dienlich erachtet, hat zu 301 geschehen. Deshalb sind bei unseren Sitzungen jetzt zwei Bevollmächtigte der Berliner Heeresleitung anwesend, Herr Hauptmann von Schunke, Herr Regierungsrat Oberleutnant Pippenzupp.«

Sie erhoben sich, kurz grüssend.

»Ihre Abwesenheit als Festungshäftling hat verhindert, dass bei Aufnahme neuer Mitarbeiter Ihr ungeheuer wertvoller Rat eingeholt wurde. Ich bin aber überzeugt, dass auch Sie die genialen Leistungen Erich Horzels voll und ganz zu würdigen wissen.«

Erich Horzel hüpfte auf mich zu: Grosser Kopf, hohe Stirn, trotz seiner Jugend bereits Glatze, eingesäumt von schwarzem Lockengekräusel, spitze in die Höhe stehende Nase zwischen Apfelbäckchen, niedliches herzförmiges Mündchen, Augen schwarzglänzend und unvermittelt wie Heidelbeeren, magerer kleiner Körper, an dem überraschend ein Bäuchlein hervortrat. Beide Hände streckte er mir entgegen in überströmender Herzlichkeit, stiess beim Sprechen ein wenig mit der Zunge an.

»Der schönste Augenblick meines Lebens, verehrter Herr Emmaus! Ihr geringster Schüler legt Ihnen seine volle Bewunderung zu Füssen. Immer war es mein sehnsüchtigster Traum, Ihnen selbst von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen zu dürfen. Er ist erfüllt. Ich bin beglückt.« Er versuchte mich zu umarmen, sprang komisch einen Schritt zurück und verneigte sich tief. Er stellte mir dann seinen Bruder vor, Syndikus Dr. Hugo Horzel.

»Er fehlt bei keiner Sitzung, interessiert sich ungeheuer für den Meteor, hat immer schon gefragt, ob Sie nicht bald wieder tätig sein werden.«

»Und inzwischen«, bemerkte ich, »sind meine letzten 302 Zeichnungen, die ich aus Passau gesandt hatte, nicht veröffentlicht worden.«

»Sch! Sch!« wehrte er ab, »das war nur in Ihrem eigenen Interesse. Auf der einen hatten Sie Kanonen als Kühe gezeichnet, die von Waffenfabrikanten gemolken werden, auf der andern Politiker, die sich prügeln, während die Soldaten der verschiedenen Völker lachend zuschauen und die Waffen weggeworfen haben. Sie wären sicher vor ein Kriegsgericht gekommen, vielleicht erschossen worden.«

Die beiden Brüder verzogen sich ein wenig in den Hintergrund, flüsterten miteinander, schlüpften dann zeitweilig in ein Nebenzimmer. Dr. Wurmbrand hatte es bemerkt. Als sie zurückgekommen waren, ging er in jenes Zimmer, kam bald leise lächelnd zurück, nahm mich zu einer Unterredung beiseite. Erich Horzel bot mir seinen Sitz an:

»Meister, nehmen Sie Ihren Platz ein. Bier oder Tee?« Doktor Huber sah ihn wütend an, wollte etwas sagen, Horzel winkte ihm ab.

Indem hörte man schwere Tritte aussen vor der Tür, sie wurde aufgestossen. Eine Militärpatrouille, sechs Mann hoch, stampfte herein, von einem Feldwebel geführt.

»Wo ist der Festungsgefangene Emmaus?« rief er dröhnend. Ein leerer Raum entstand um mich und Dr. Wurmbrand.

»Mein Name ist Emmaus. Sie wünschen?«

»Sie sind aus dem Festungsgefängnis entsprungen. Marsch!« Er packte mich.

Die Soldaten nahmen mich in ihre Mitte.

»Bei Fluchtversuch werden Sie erschossen.« Dr. Wurmbrand trat auf den Feldwebel zu, wies ihm ein 303 ernsthaft aussehendes Schriftstück. Der warf einen Blick darauf.

»Geht mich nichts an, Haftbefehl besteht.«

Unter Totenstille wurde ich abgeführt. Dr. Wurmbrand ging in einigem Abstand mit. Als wir draussen waren, hörte ich schallendes Gelächter aus dem Sitzungszimmer, Doktor Hubers tiefe, volle Stimme mischte sich mit dem wiehernden Diskant der Horzels.

Auf der Strasse erregte mein Transport einiges Aufsehen.

»Einen Spion haben's derwischt«, hörte ich. »Schämen'S Ihnen!« rief ein würdiger Herr aus seinem Vollbart, eine Marktfrau wollte mich anspucken, traf aber einen Soldaten, musste die Flucht ergreifen. Ich wurde in eine Kaserne gebracht, durch endlose Gänge geführt, in eine kleine Zelle gesperrt, vor dem vergitterten Fenster war aussen ein Brett, so dass nur wenig Licht eindringen konnte. Eine Holzpritsche war das einzige Möbel. Ich setzte mich darauf, hörte die Wache draussen auf und ab gehen. Erst spät am Abend wurde die Tür geöffnet. Draussen stand Dr. Wurmbrand und der Feldwebel.

»Entlassen!« sagte der, kein Wort der Entschuldigung. Wir gingen fort.

»Das haben Sie gut gemacht, Herr Doktor, ich danke Ihnen.«

»Na ja, der General musste Sie natürlich wieder loslassen, da Sie mit bewilligtem Urlaub in München sind. Nur gut, dass wir die Bestätigung vorzeigen konnten. Ich habe ihn auch gefragt, ob Ihnen die Festungshaft im Gnadenwege erlassen werden würde, damit Sie sich zum Heere melden können. Er hielt es für ausgeschlossen: Einem Pazifisten werde man 304 keinen Tag seiner Strafzeit schenken. Dem Bürofräulein in der Redaktion wollen wir eine schöne Bonbonniere stiften, war doch nett von ihr, mir zu berichten, dass Horzels der Stadtkommandatur telephoniert haben, der berüchtigte Festungssträfling Emmaus sei ausgebrochen und man könne ihn in der Meteorsitzung festnehmen. Immerhin wird es gut sein, wenn Sie bald auf Oberhaus zurückkehren, sonst bekommt der brave Oberst von Pressath noch Unannehmlichkeiten.« Ich sagte, dass ich schon am nächsten Tage reisen wolle, und wir verabschiedeten uns.

In der Steinbeisvilla hatte man sich mein langes Ausbleiben nicht erklären können. Ein nettes kleines Festsouper war hergerichtet, wartete vergeblich auf mich. Professor Steinbeis hatte versucht, Vevi damit zu trösten, dass Zuspätkommen zu den Mahlzeiten ein wissenschaftlich festgestelltes Merkmal des verehelichten Zustands sei. Sie war sehr beunruhigt, meinte, sicher sei mir etwas passiert. Endlich – endlich kam ich, stürmisch und mit Tränen begrüsst, berichtete kurz, was mir zugestossen war.

»Ich fühlte, du warst in Gefahr, lieber Emmaus. Viele Vaterunser habe ich im Stillen gebetet, nun bin ich froh, dass sie genützt haben.« Das Essen war zum Teil etwas verbraten, aber doch noch sehr gut, und dem herrlichen Wein hatte es nichts geschadet, dass er einige Stunden älter geworden war. Professor Steinbeis war innerlich bewegt, leerte sein Glas auf eine bessere Zukunft:

»Wer hätte gedacht, dass alle unsere Weltverbesserungsideen so leicht und im ersten Ansturm weggewischt werden könnten? In Amerika wird festerer Boden für sie sein, von dort aus wird sich der 305 Meteorgedanke durchsetzen.« Ich konnte ihm nicht ganz beistimmen:

»Gerade in Amerika scheint mir die Verknüpfung von Staat und Politik sehr eng zu sein. Es ist nur ein geographischer Zufall, dass sie dort so selten zu kriegerischen Verwicklungen führt. Alle fünf Jahre ist Präsidentenwahl. Die Wahlkampagne kostet immer so viel wie ein kleiner europäischer Krieg, kann nur von Milliardären und Grossindustrie finanziert werden. Die wollen dann etwas haben für ihr Geld. Ihre Interessen sind Amerikas Politik, und der Staat ist nicht unabhängiger davon als irgend ein europäischer. In Europa ist die Lage deutlicher und wird eher zu Krise und Heilung kommen.« Es war sehr spät geworden, und ich wollte mich verabschieden. Vevi war enttäuscht, dass sie nicht bei mir sein sollte.

»So etwas nennt sich nun Brautnacht! Überhaupt richtig heiraten musst du erst noch lernen.« Ich liess mich gern überzeugen und gab nach. Als wir bei mir ankamen, war sie so müde, dass sie schon beim Auskleiden einschlief.

»So was nennt sich nun Braut!« sagte ich, aber sie hörte es nicht mehr. Um so lieblicher war der erste Morgen unserer Ehe, und wie sie uns dann den Frühstückstisch deckte und Tee kochte, hatte ich das wärmende Gefühl angenehmer Spiessbürgerlichkeit.

Wir verbrachten noch einen Tag mit allerhand Besorgungen, denn wir würden vielleicht mehrere Jahre nicht wieder nach München kommen.

»Ich habe das Gefühl, als seien wir im Begriff eine lange Forschungsreise in exotisches Gebiet anzutreten.«

»Meinst du die Ehe, Emmaus? Glücklicherweise haben wir uns ein bisschen informiert. Aber du hast recht, 306 was wissen wir eigentlich von einander? Weiss ich, was du tun würdest, wenn ich dir andauernd von der Schändlichkeit der Dienstboten erzählte, den ganzen Tag Klavier spielte, mit der Stricknadel die Ohren ausputzte, Knoblauch essen, rosa Flanellunterkleidung tragen würde? So wenig wie du weisst, was ich tun würde, wenn du mich mit der Frau Guggemos betrögest, wenn du versuchtest beim Küssen die Cigarre im Mund zu behalten, wenn du mir von den Hämorrhoiden deines Grossvaters und den unübertrefflichen Zwetschenknödeln deiner Mutter erzählen würdest.« 307

 


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