Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Wege zur Kunst

Aber wie wird man Maler? Das wusste keiner von uns so recht. In der Schule hatte ich wöchentlich eine Stunde Zeichenunterricht gehabt, aber da wurden bloss geometrische Figuren gezeichnet und mit Preussischblau und Karminrot angetuscht, wofür man dann im Jahreszeugnis mit der Note ›ungenügend‹ quittiert bekam. Also wie? Wir hatten keinen Verkehr mit Malern, seitdem Onkel Nevermind auf einer Italienreise das mächtige Meisterwerk des grossen Tintoretto: »Canale Grande bei Mondschein« sehr teuer gekauft und meinem Vater mitgebracht hatte. Der hatte es über das Sofa gehängt und stolz einige Maler seiner Bekanntschaft zur Besichtigung eingeladen. Als die erklärten, es sei ein gemeiner, wertloser Öldruck, war natürlich der Verkehr mit ihnen abgebrochen worden. Der Tintoretto wurde allerdings einer Wohltätigkeitsverlosung gestiftet. Lord Nevermind redete sich darauf hinaus, dass er nur von englischer Kunst etwas verstehe, insbesondere bei Pferdebildern könne er unfehlbar beurteilen, ob es Vollblut sei.

Da fiel mir der Maler Bindewald ein, der bewohnte in unserem Hinterhaus ein Dachatelier, hatte einen gewissen Ruf als Germanenmaler. Ich war 26 schon einige Male bei ihm gewesen, wenn die Miete abzuholen war, und es hatte mir da gut gefallen. Er war klein, schwächlich, kurzsichtig und etwas krummbeinig. Er stand meistens vor einer riesigen Malstaffelei, als Germane kostümiert, sagte, das brauche er, um die richtige Wotanstimmung zu bekommen. In Felle gekleidet, mit aufgebundenem Haarschopf, geschnürten Sandalen, schwertumgürtet, waltete er in dem Atelier, das wie eine Hundinghütte aussah. Seine Palette war aus einem Schlachtschild hergestellt, als Malstock diente ihm ein Speer. Ich durfte ihm dann immer zusehen, wie er an seinem grossen Bild: »Einzug der Helden in Walhall« malte. – Also bekam ich schon einen Begriff von Malerei. War es nicht ein Wunder, aus schmieriger Ölfarbe so herrliche, kraftstrotzende Gestalten zu erschaffen? Von Zeit zu Zeit reichte ihm seine Frau oder eins der Kinder einen kühlen Trunk in einem mächtigen Horne dar. Das leerte er auf einen Zug, nachdem er vorher seinen Zwicker von der Nase genommen hatte, der nun an einem eisernen Kettchen herabbaumelte. Quer durch das ganze Atelier waren meistens Wäscheleinen gespannt, an denen Windeln trockneten. Im Hintergrunde hörte man Kinder schreien.

Bei ihm wollte ich mir Rat holen. Die Frau öffnete mir und rief ins Atelier: »Bindi! Herr Emmaus kommt um die Miete.« »Aber nein«, sagte ich, eintretend. »Sie brauchen überhaupt keine Miete mehr zu zahlen. Papa ist pleite. Die Gummiwarendämmerung ist über uns hereingebrochen. Ich wollte Sie nur etwas fragen.« Er grüsste würdevoll durch Senken des Speeres. »Herr Bindewald, wie werde ich Maler?« – »Wenn du dein Leben der bildenden Kunst weihen 27 willst, geziemt es sich, eine Akademie zu besuchen.« »Ja, welche? Ich habe gehört, in Paris ist es am besten.« »Nie und nimmermehr!« fuhr er auf. »Ich verachte alle wälsche Kunst. Keine Kunst ist mit der unseren vergleichbar. Hat je die Kunst der Herren Franzosen auch nur einen einzigen Professor hervorgebracht? – Weise mir Probestücke deines Schaffens.« »Ach, ich habe noch nicht versucht zu malen.« »– Dann Zeichnungen.« »Auch gezeichnet habe ich noch nicht.« »Gut, also du bist künstlerisch noch unverdorben. Aber um in die Akademie aufgenommen zu werden, musst du Gezeichnetes vorlegen. Hier hast du einen weichen Stift, hier Papier, zeichne etwas nach der Natur. Die Natur darf der Maler nie vernachlässigen, sie ist das Beste, was es in der Art gibt. Thusnelda, bring den Wald herein!« Die Gattin brachte eine kleine halbverdorrte Tanne in einem Blumentopf und stellte sie auf den Tisch. Ich zeichnete sie ab und – oh Wunder! – es ging ganz gut. »Nun zeichne das Antlitz meiner Gattin. Thus'chen, der Jüngling möchte dir die Erstlinge seiner Kunst darbringen. Stehe ihm Modell!« Es gelang mir merkwürdigerweise, war sogar ähnlich. Nun machte mir die Sache Spass. Ich durfte noch den Meister selbst, in Kampfstellung mit Speer und Palette, skizzieren und begriff, dass, um ein Maler zu werden, nichts nötig ist als der Entschluss.

Herr Bindewald empfahl mir die königlich preussische Akademie Düsseldorf, ich solle dem Direktor Professor Mühling nur einen schönen Gruss von ihm bestellen, dann würde er mich zu einem berühmten Maler machen. Ich schaffte mir ein Skizzenbuch an und zeichnete jeden Tag unentwegt da hinein, bis mir 28 Onkel Nevermind 200 Mark gab und mich in den Zug nach Düsseldorf setzte. Er versprach, mir jeden Monat so viel zu schicken. Als ich am Bahnhof dort ausstieg, sah ich eine Gruppe älterer Herren aufgestellt, in Frack und Cylinderhut. Aus einem Coupé erster Klasse stieg ein grosser, würdevoller Mann, den sie mit tiefen Bücklingen ehrfürchtig begrüssten. Ich fragte den Schaffner, was das für ein Fürst sei. »Nein, das ist der Unterrichtsminister, und die Herren sind die Professoren der Akademie.«

Mein weniges Gepäck hinterlegte ich am Bahnhof und ging in die Stadt, um mir ein Zimmer zu suchen. Ich fand mich nicht zurecht und kam, wie es schien, in eine Vorstadt. Es fing schon an dunkel zu werden, und ich hatte Lust, eine Tasse Kaffee zu trinken, fand ein kleines Lokal, das hiess Eldorado. Es war sehr lang und schmal, nicht sauber, wenige Gäste bei abgestandenem Bier. Am unteren Ende war eine Art Bühne, zu der ein paar Stufen hinaufführten, davor ein Klavier, das eine alte Frau heftig bearbeitete. Auf der Bühne sassen vier müde Mädchen, stark und trostlos dekolletiert, in kurzen flitterbesetzten bunten Röcken, unter denen ein Gewirr von Spitze sichtbar war. Drei davon waren hässlich, eine war wunderschön, schwarzhaarig, glutäugig. Gerade stand sie auf und sang mit kecken Bewegungen, ganz im Frou-Frou-Stil jener Zeit, ein Lied, das begann: »Ich bin die Mercedes – mich kennt hier ein jedes« und nach jedem Vers den Refrain hatte: »Man sagt in Sevilla – ich will ja, ich will ja.« Dem schläfrigen Applaus – nur meiner war kräftig – dankte sie schelmisch, besonders zu mir hin, und sang, mich feurig anblickend: 29

»Wenn man ein süsses kleines Mädel hat,
Beneidet einen bald darum die janze Stadt.
Ein jeder saacht: Ach hätte
Ich sowas doch im Bette.
Ein liebes Mädel und ein Glas Champagnerwein,
Da kann man glüglüglüglüglücklich sein.«

Und schon kam sie die Stufen herunter direkt auf mich zu, stützte sich mit den Händen auf meinen Tisch, sah mir ganz nahe ins Gesicht und fragte: »Was wünschen der junge Herr zu trinken?« – »Eine Tasse Kaffee, bitte.« sagte ich. Da lachte sie laut und die anderen Gäste lachten mit. »I wo! Kaffee. Ich dachte, Sie sind ein Kavalier.« Das Herz klopfte mir stark, aber ich dachte an alles, was mich Onkel Nevermind gelehrt hatte, und blieb bei Kaffee. Sie brachte ihn und setzte sich neben mich, ganz nahe und flüsterte: »Gefalle ich dir denn nicht ein bischen?« »Doch, Sie gefallen mir sogar sehr gut. Ich möchte Sie morgen porträtieren.« »Pfui Teufel, Maler bist du! Ich dachte Portokassenjüngling. Aber du gefällst mir trotzdem. Du bist doch noch so jung, wie kannst du da schon Maler sein? Und wie ist es mit der Liebe?« »Ich bin vollkommen Autodidakt, das heisst niemand hat es mich gelehrt.« »So? Dann will ich es dir lernen.« »Können Sie denn malen?« »Nein, aber lieben.« Sie blieb den ganzen Abend bei mir sitzen, ging nur manchmal zum Singen hinauf. Die Alte vom Klavier nahm Mercedes beiseite und ich sah, dass sie leise auf sie einschimpfte. Wieder am Tisch, ermahnte sie mich: »Du musst eine Flasche Wein bestellen, sonst bekomme ich furchtbaren Krach, kannst ja einen billigen Mosel nehmen.« Das tat ich, 30 und wir unterhielten uns gut. Sie sei zwar geborene Spanierin, aus uraltem gräflichen Geschlecht, aber schon als kleines Kind von Zigeunern nach Düsseldorf verschleppt worden. Sie habe weit unter ihrem Stand geheiratet, einen Walzwerkarbeiter, jetzt sei er durch einen Unfall schon lange arbeitsunfähig, er bekomme nur wenig Unterstützung, und sie müsse verdienen. Die Prozente von den Getränken, das sei ihre ganze Einnahme. Sie tat mir so leid, dass ich doch eine Flasche Champagner bestellte und auch Abendessen für uns beide. Ich erzählte ihr auch alles von mir und dass ich eigentlich auf der Zimmersuche sei. »Ach, du Armer, dann bist du obdachlos! Heute ist es schon zu spät zum suchen.« Indem kamen zwei dicke Wachleute herein und geboten: »Polizeistunde!« Es war elf Uhr. Sie bekamen jeder ein Glas Bier, setzten sich und warteten noch eine Viertelstunde. Inzwischen hatte sich Mercedes umgekleidet. Sie sah nun nicht mehr so schön aus, in ihrem abgeschabten Kleid und Kopftuch, wie eine Fabrikarbeiterin damals aussah. Die Bezahlung der Zeche riss ein gewaltiges Loch in mein Barvermögen, ich ertrug es als Gentleman. Jetzt musste man fortgehen.

Als die Schutzmänner verschwunden waren, hängte sich Mercedes an meinen Arm und sagte: »Du kannst bei mir übernachten, wir haben ein Bett frei.« Ich fühlte, dass ich ein Wunder erleben würde, als wir eng umschlungen dahingingen. An den dunklen Stellen des Weges umhalste sie mich einige Male und küsste mich so gründlich, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Es war ein unendlich weiter Weg bis zu den Elendskasernen an der Bilker Chaussee. Ein hoher düstrer Häuserblock. Sie schloss die Haustür auf, 31 wir gingen durch einen dunklen Gang über einen Hof, so eng, dass nur ganz oben in der Mitte ein Stern hereinblickte. In wenigen, schmalen Fenstern war noch Licht. Im Dunkeln stolperten wir über Blech und zerbrochene Kisten, dann durch einen engen Eingang auf ausgetretener, schiefer Treppe in den fünften Stock. Sie zündete ein Streichholz an, schloss eine Tür auf. Ich sah, es waren noch mehr Türen da. »Das ist unser Gästezimmer.« Eine kleine Petroleumlampe mit rotem Schirm brannte darin. Ein dickes Bett mit blau kariertem Überzug, schräge Wände, kleines Dachfenster, neben eingedrückter Ottomane eiserner Waschtisch, am Waschkrug fehlte der Henkel. »Mach es dir bequem, Schatz, ich komme noch einmal nachsehen, ob du etwas brauchst.« »Warum müssen die ein Gästezimmer haben, noch dazu mit eigenem Eingang?« dachte ich. Während Mercedes hinausging, hörte ich Schritte im Treppenhaus und Stimmen, als ob viele Weiber durcheinandersprechen. Ich schaute hinaus. Mercedes rief über das Geländer: »Was ist los?«

»Wilkens haben sie hoppgenommen.«

»Ich komme gleich runter.«

Ich fing an, mich auszuziehen. Im Treppenhaus war es sehr laut geworden, man lief auf und ab. In der Lampe bei mir war kein Petroleum mehr, sie russte und brannte immer dunkler. Wo blieb Mercedes? Irgendwo hörte ich Kinderstimmen, eins schrie. Es war unheimlich, ich öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Ich kam in die Küche, sie roch nach Fett und sauerem Schmutz, auf dem Sparherd stand ein Kaffeetopf. Unter der Dachschräge drängten sich zwei Betten, in einem lagen Kinder. Ein einäugiger Mann, 32 krank aussehend, totenbleich, nur mit Hose und Hemd bekleidet, sass in einem zerschlissenen Lehnstuhl, eine Krücke neben sich. Im Arm hielt er ein schreiendes, einige Monate altes Kind, das den Kopf voller Ausschlag hatte, und suchte es zu beruhigen. Er war nicht erstaunt über mein Erscheinen, sagte nur: »Halten Sie mal das Kind, im Herd ist noch Feuer, da ist Milch, die müssen Sie warm machen. Ich will sehen, wo Mercedes bleibt.« Er drückte mir das schreiende Kind in den Arm, nahm seine Krücke und humpelte hinaus. Ich hörte, wie er die Treppe hinuntertappte.

Es war nicht so leicht, mit dem Kind im Arm die Milch warm zu machen und in die Flasche zu füllen. Die Kinder im Bett wachten auf, fingen an zu weinen. Ich setzte mich zu ihnen: »Gleich bekommt ihr Milch.« Ich bemerkte, dass der Herd nur mit Papier geheizt war, ein paar Aufrufe und Mitgliederverzeichnisse lagen noch in der Kiste, die davor stand. Die Kinder wurden ruhiger. Auf dem Bett sitzend, das Kleine im Arm, schlief ich ein. In der Morgendämmerung wachte ich auf, da Fabriksirenen tönten. Ich hörte, wie die Leute im Haus die Treppen hinab zur Arbeit eilten. Weder Mercedes noch der Mann waren zurück gekommen, auch das »Gästezimmer« war leer.

Ich zog mich schnell an, schlich weg von den schlafenden Kindern. Im Treppenhaus fragte ich eine Frau, ob sie Mercedes nicht gesehen habe. »Sind Sie einer von ihre Freier? Na, geht mich nichts an. Die haben sie auch hoppgenommen und ihren Mann auch. Wilkens hat nicht dicht gehalten.«

Wie aus verweinten Augen blickte mir das trübe Haus nach, als ich davon eilte. 33

Es war sehr früh am Morgen, als ich wieder in das Innere der Stadt kam. Alles war noch verschlossen und verschlafen. Aber in einer altertümlichen Strasse tönte aus einer Gastwirtschaft feierlicher Gesang. Ich trat in das Haustor. Seitlich über einer Tür war ein grosses Schild: Akademischer Verein Amicitia. Ich ging hinein. Das war eine lange Wirtsstube. Die Fensterläden waren noch geschlossen. Das Gaslicht drang kaum durch den dichten Tabaksqualm. An den Wänden hingen in einer Reihe grünlich bronzierte Totenmasken. Auf dem grossen Wirtstisch lag aufgebahrt die Leiche eines jungen Mannes, in bischöflichem Ornat, die Mitra auf dem blonden gelockten Haupt, die Hände mit dem Krummstab über der Brust gekreuzt. In dem bartstoppeligen Gesicht floss es feucht aus einem Winkel des halbgeöffneten Mundes. Etwa zehn Jünglinge, jeder ein Glas in der Hand, schritten in langsamem Zug, schwankend vor Ergriffenheit, ernst und gemessen, um den Tisch mit dem immer wiederholten Grabgesang: »Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott – schon wieder einer tot.« Einer schien gefasster zu sein, war wohl etwas älter als die übrigen, dick aufgeschwemmt, schnurrbärtig, trug ein rotgrünweisses Band schräg über der Brust. Er gab jetzt das Zeichen zum Stehenbleiben, rief mit heiserer Stimme: »Kantus ex. Ein Trauerschoppen unserem viel zu früh dahingeschiedenem Amicitianer Rembrandt! Ich schliesse die Kneipe. Dämmerschoppen nächsten Mittwoch.« Sie tranken ihre Gläser aus, stellten die dann neben die Leiche.

Ich war tödlich erschrocken. Alles war so rätselhaft. Von dem Maler Rembrandt hatte ich schon gehört, auch ein Selbstporträt von ihm gesehen, der 34 Aufgebahrte sah wirklich so aus. Ich stürzte auf den Bebänderten zu: »Um Gotteswillen, was ist passiert? Seit wann ist Herr Rembrandt tot? Woran ist er gestorben?«

»Am Suff«, antwortete der, tippte mich mit dem Zeigefinger auf die Brust: »Wer bist du, wie kommst du da herein?«

»Mein Name ist Emmaus, ich will auf die Akademie.«

»So? Dann keile ich dich für die Amicitia.« Er umarmte mich, gab mir einen Kuss, der nach Bier roch. Die anderen waren offenbar von dem Trauerfall zu sehr erschüttert, um von mir Notiz zu nehmen, sie setzten ihre Hüte auf und wankten hinaus. Wir beide blieben noch. Er fasste mich unter den Arm: »Ich heisse Tillmanns, mit dem Kneipnamen Trikkes. Jetzt wollen wir Kaffee trinken, damit wir nüchtern werden.«

Wir gingen hinüber in die Gaststube. Da sassen schon Rheinarbeiter in blauen Kitteln, Holzpantinen an den Füssen, tranken Schnaps, den sie Schabau nannten (letzte Silbe betont). Die gemütliche Wirtin brachte uns Kaffee und Brot.

Trikkes belehrte mich: »In der Amicitia bekommt jeder einen Kneipnamen. Hardekopp zum Beispiel ist Rembrandt genannt worden, weil er ihm so ähnlich sieht. Vielleicht würde er auch ebensogut malen wie Rembrandt, aber er hat keine Zeit dazu, weil er immerfort saufen muss. Nicht einmal eine Wohnung hat er, säuft bis er umfällt, dann wird er immer mit dem Ornat bekleidet und aufgebahrt. Da liegt er bis gegen Abend. Dann wacht er auf und fängt wieder an.«

»Gottseidank, dass er lebt!« seufzte ich erleichtert. 35

»Was, das nennst du leben?«

Etwas misstrauisch fragte ich, weshalb die Totenmasken an den Wänden seien und erfuhr, dass jedem neu Eingetretenen sein Gesicht in Gips abgegossen und als Maske aufgehängt werde.

Rembrandt tat mir leid. Aber bald danach hat ihn die Köchin der Rattenburg, so hiess die Wirtschaft, auf den Weg der Enthaltsamkeit gebracht, wenigstens der alkoholischen. Er ist Photograph geworden, hat sie geheiratet und lange Jahre als braver Familienvater in Halberstadt gelebt. Später hat er wieder angefangen zu malen, ganz altmeisterlich, die Bilder mit Rembrandt signiert und sie nach eigenem Verfahren geräuchert. Sie sind jetzt eine Zierde mancher Museen.

Als Trikkes hörte, dass ich noch kein Zimmer habe, riet er mir, mich in der Rattenburg einzuquartieren, mit ganzer Pension, billig und gut. Das tat ich auch. Er half mir mein Gepäck von der Bahn holen. Ich zeigte ihm meine Zeichnungen. »Wird man mich in der Akademie aufnehmen?« »Ganz gewiss, denn Talent hast du nicht viel. Das ist den Professoren lieber, da können sie zeigen, was für tüchtige Lehrer sie sind. Ihr Glanzstück ist beispielsweise der Historienmaler Schluckes. Er kam absolut talentlos her, und jetzt, nach fünfzehnjährigem fleissigem Studium, ist er schon einer unserer genialsten Maler, Spezialität: Schlachten Friedrichs des Grossen, wird bald selbst Akademieprofessor.« Wir gingen zusammen zur Akademie. Mit einigem Bangen betrat ich das Atelier des Direktors Professor Mühling. Ein eisgraues, verhutzeltes Männchen, sass er auf einer gepolsterten Leiter vor einem mächtigen Bild, das in 36 lebensgrossen Figuren die Himmelfahrt Christi darstellte, malte mit vielen kleinen spitzen Pinseln daran.

Später hat Trikkes mir erklärt: Als Napoleon Düsseldorf eroberte, stahl er die grosse kurfürstliche Sammlung der besten Rubensbilder und schenkte sie dem bayrischen Hof, sie ist noch jetzt in der Münchner Pinakothek. Nur die Himmelfahrt, das schönste und wertvollste Bild, konnte man damals beiseite räumen. Professor Mühling fand später an dem Bild Zeichenfehler, Übertreibungen des Kolorits und eine allzu sinnliche Auffassung. Seit siebenunddreissig Jahren war er nun mit der Übermalung beschäftigt. Sie war sein Lebenswerk. Kurz vor meiner Ankunft hat dann die preussische Regierung grossmütig auch dieses Werk der Münchner Rubens-Sammlung schenken wollen. Freudig bewegt kamen die Münchner Galeriedirektoren hin, um das Bild zu holen. Bei seinem Anblick brachen sie in Tränen aus und erklärten, sie wollten Düsseldorf doch nicht berauben.

Ich half zuerst dem Direktor seine Tabakspfeife suchen. Dann nahm er meine Zeichnungsmappe entgegen, fragte, ob ich Historienmaler werden wolle oder nur Landschaftsmaler. Unsicher, was nützlicher sei, antwortete ich: »Beides«. Also musste der Sekretär mich zu den beiden in Betracht kommenden Professoren führen. Der dicke, vollbärtige Historienmaler Professor Urschleim lag in seinem Atelier, hemdärmlig, mit Sammtpantoffeln, auf dem Sopha und las die Zeitung. Im Hintergrund stand sein Kolossalbild »Die Kindheit des Bachus«, das ihm der Staat vor zwölf Jahren abgekauft hatte. Jedes Jahr entstanden Risse und Abblätterungen in der Ölfarbe und er bekam es immer zur Reparatur. So war er seitdem nicht 37 mehr dazugekommen, wieder etwas Neues zu malen. Er blieb ruhig liegen und sagte hinter der Zeitung hervor: »Haben Sie schon Akt gezeichnet?« »Ich weiss nicht – was ist das?« »Den nackten Menschen natürlich. Es gibt nichts Schöneres und Erhabeneres als die nackte menschliche Gestalt.« Ich wollte zeigen, dass ich auch etwas von Kunst verstehe und bemerkte: »Mir kommt ein nackter Mensch immer komisch vor, Herr Professor, dieselbe Farbe wie ein Schwein.« – »Nun, Sie werden zuerst Antiken zeichnen, nach Gips, bis Sie grün und blau werden, dann wird Ihnen die schweinerne Komik schon vergehen.«

Da dachte ich, ich werde vielleicht doch lieber Landschaftsmaler, liess mich vom Sekretär zu dem Landschaftsprofessor führen. Ja, der malte wenigstens. Eine Menge gleichgrosser Waldbilder waren auf Staffeleien zu sehen. Auf einigen spazierte ein Reh unter den Bäumen, auf anderen ein Fuchs. Die standen ausgestopft im Atelier und brauchten nur abgemalt zu werden. Die Bäume malte er nach Studien, die er draussen gemacht hatte. Er versprach, mich zuerst im Baumschlagzeichnen zu unterrichten, Linden seien immer rundlich, Eichen mehr gezackt, Tannen spitzig. Später dürfe ich mir dann die Natur ansehen. Er ginge stets mit seinen Schülern auf Studienreise. »Oh fein! Und wird da das Reh und der Fuchs auch mitgenommen?« fragte ich. »Sie müssen erst Anatomie und Perspektive absolvieren«, fand er nun. »Wenn Sie das Examen bestanden haben, kommen Sie wieder. Adieu.«

Der Sekretär, ein freundlicher alter Herr, klopfte mich auf die Schulter: »So dürfen Sie es nicht 38 machen. Sie schaden sich. Die Hauptsache in der Kunst ist, dass man sich nicht schadet.«

Eine Frau trug eine Schüssel mit Schlagsahne vorbei: »Bitte, wo ist die Malklasse von Professor Söhnlein?« »Da die dritte Tür.« »Scheint eine Art Konditorei zu sein«, dachte ich. »Darf ich 'mal hineinschauen?« Der Sekretär führte mich hin. In dem grossen, blendend hellen Raum standen etwa 6 Malschüler mit ihrer Leinwand und ihren Staffeleien und Paletten und Pinseln um einen erhöhten Tisch. Die Schlagsahne wurde darauf gestellt, da waren schon zwei ganz ebenso gefüllte Schüsseln. Der Sekretär klärte mich auf: »Die Schüler müssen die drei Schüsseln nebeneinander so abmalen, dass man die Verschiedenheit der drei Stoffe erkennen kann.« Ich sah nun genau hin und bemerkte tatsächlich, dass Seifenschaum und Schlagsahne und Eierschaum zu unterscheiden waren. »Das ist die letzte Prüfung. Wenn sie das können, dürfen die Schüler in die Meisterklasse aufrücken.«

Ich meinte: »Vielleicht können sie noch ein rohes und ein gekochtes Ei nebeneinander malen, dass man sie unterscheiden kann.« Der Sekretär schüttelte betrübt den Kopf: »Sie schaden sich, Sie schaden sich, so werden Sie nie ein berühmter Künstler.«

Ich beschloss, brav zu sein, trat am nächsten Tag mit dem vorgeschriebenen Papierrahmen und härtestem Zeichenstift in Professor Urschleims Klasse bei den Gips-Antiken an. Da standen sie, weiss und tot, die Apollos und Aphroditen und Diskoswerfer. Ich sollte nur das linke Auge eines Hermes-Kopfes zeichnen, es müsse viel genauer werden als eine Photographie, vier Wochen solle ich daran arbeiten, er 39 werde mich nicht eher davon loslassen, bis es ganz richtig sei. Ich begriff, warum der Laokoon so schrecklich gähnte. Wenn Pythia den alten Griechen die gipserne Zukunft geweissagt hätte, wäre uns vielleicht deren ganze Kunst erspart geblieben, denn an sich waren sie keine so üblen Menschen, das hatte ich auf der Schule gelernt. – Mir war die Kunst ja glücklicherweise nicht so wichtig, aber die meisten Mitschüler hielten sich für Genies und litten sehr. Punkt Zwölf stürmten alle hinaus. Ich blieb etwas zurück, schnitt vom Zeichenpapier einen breiten Streifen ab, schrieb mit grossen Buchstaben darauf: »Papa, weisst du nicht, dass man beim Gähnen die Hand vor den Mund halten muss?!« Den befestigte ich mit Reissnägeln quer über die Laokoongruppe. Dann ging ich auch.

Nachmittags war Anatomieunterricht, den erteilte ein Anatom, Professor Sürdiek, teils theoretisch, teils, wenn Leichen vorhanden waren, indem er diese sezierte. Die Mitschüler erzählten, dass es ihm besonderen Spass mache, unsere Nerven dabei auf die Probe zu stellen. Es sei noch jedes Mal einigen übel geworden. Und gerade heute hatte der Rhein ihm wieder so ein Lehrmittel geliefert. Schon vor der Tür roch es fürchterlich nach Karbol. In dem weissgetünchten Raum, dessen eine ganze Wand das Fenster einnahm, lag auf erhöhtem Eisengestell die Leiche, mit einem Tuch bedeckt. Ein wenig Rheinwasser tropfte noch darunter hervor. Auf einem kleinen Tisch daneben waren die chirurgischen Instrumente ausgebreitet. Einige Kübel standen bereit, ganz hinten an der Wand eine sargartige Kiste. Das gesund gerötete Gesicht des ziemlich jungen Professors war durch 40 stundentische Schmisse und einen goldenen Zwicker geziert. Er und der Diener waren in weisse Aerztekittel gekleidet. »Ich werde Ihnen heute einige Muskeln herauspräparieren, damit Sie ihre Form besser begreifen, zuerst den rectus femoris, den glutaeus maximus, dann den latissimus dorsi, gedenke aber auch, Ihre allgemeinen anatomischen Kenntnisse zu erweitern.« Und zu dem Diener gewendet: »Abdecken!«

Mit einem geübten Ruck riss der die Decke weg.

Da lag, feucht grünlich schimmernd, eine entkleidete Frau. Es stieg mir schwer vom Magen auf und ich traute mich nicht, genau hinzusehen. »Ach Unsinn! man muss alles lernen«, sagte ich mir und richtete den Blick auf ihr Gesicht. Ein grässlicher Schreck krampfte sich um meine Brust: Mercedes! Zitternd hielt ich die Hände vors Gesicht. Einige Schüler murmelten etwas. Professor Sürdiek tat, als wenn er nichts gemerkt hätte, dozierte spöttisch lächelnd weiter: »Ich möchte Ihnen jetzt die Gehirnwindungen erklären, werde zuerst das cranium blosslegen.« Ich hörte, wie er einige Instrumente fasste und damit hantierte. Tiefe Stille herrschte. Die Hände sanken mir herab.

»Und nun werde ich das os frontalis durchsägen.«

Ich sah, wie er die Säge an den Kopf der Toten setzte. Wahnsinnige Erregung tobte in mir. Wie durch einen Nebel erinnere ich mich, dass ich auf ihn zusprang, ihn am Arm packte und brüllte: »Das tun Sie nicht:« Er versuchte mich abzuschütteln: »Verrückt geworden, was?« »Das tun Sie nicht!« schrie ich noch einmal. Aber er liess sich nicht abhalten.

Ich weiss nur noch, dass ich ihm einen gewaltigen Kinnhaken versetzt habe und dass er hinfiel. 41

Als ich wieder zur Besinnung kam, fand ich mich ohne Hut, durch die Strassen irrend. Was war geschehen? Erst allmählich stieg das greuliche Bild wieder vor mir auf. Ich muss Fieber gehabt haben, Frost schüttelte mich, in meinem Kopf war es wirr. Doch fand ich noch den Weg zur Rattenburg, ging sofort ins Bett und schlief.

Erst spät am nächsten Morgen wachte ich auf, besann mich und suchte mir über Alles klar zu werden, war nicht zufrieden mit mir. »Ich habe mich nicht als Gentleman benommen, ich hätte es mir nicht unter die Haut gehen lassen sollen«, sagte ich mir. Nach dem Frühstück war ich wieder im Gleichgewicht, ging in die Akademie, als ob nichts gewesen war. Im Zeichensaal sagte man mir, der Professor habe schon nach mir gefragt, ich solle zu ihm ins Atelier kommen. Zu meiner Verwunderung empfing er mich sehr freundlich. »Ei, ei! Was machen Sie für Sachen?! Nerven, Nerven. Aber die Schüler haben schon oft geklagt, dass Sürdiek sie unnötig mit solchen Dingen quält. Nun hat er es. Ich werde ihm sagen, dass er selbst daran schuld ist, sobald ich ihn sehe. Er soll sich beim Fall etwas verletzt haben und in Behandlung sein.« Er drückte mir die Hand und geleitete mich mild zur Tür.

»Ach noch eins wollte ich fragen«, rief er mich zurück. »Wissen Sie, wer den lustigen Zettel am Laokoon befestigt hat?«

Ich hatte das durch die Ereignisse total vergessen und antwortete: »Nein – ach so – ich.«

Stracks änderte sich Haltung und Gesicht des Professors: »So! Also das haben Sie auch verbrochen! Schämen Sie sich nicht, herrliche Meisterwerke so 42 schamlos zu verhöhnen? Und Sie möchten ein Künstler werden! Kommen Sie mir nicht wieder unter die Augen, bevor die Professoren-Konferenz über Ihre Schandtaten entschieden haben wird.«

 

Ziemlich niedergedrückt holte ich meine Zeichensachen aus der Klasse. Die Mitschüler, besonders die Amicitianer darunter, schüttelten mir warm die Hand: »Das hast du grossartig gemacht. Jetzt wirst du allerdings herausfliegen. Wir halten treu und fest zu dir. So möchte man auch boxen können. Gib doch Box-Unterricht.« Dankbar gedachte ich Onkel Neverminds, der es mich gelehrt hatte. Auch Abends in der Amicitia wurde ich als Held gefeiert. Das waren wirkliche Freunde!

Zu den Amicitia-Abenden kam auch immer der Gönner und Mäcen des Vereins Graf Glespel, er fühlte sich nur in der Gesellschaft von uns Jünglingen wohl, hatte mit allen Bruderschaft getrunken. Weich streichelte er meine Hand. »Wenn du jetzt die Akademie verlassen musst, sei nicht traurig. Wenn es dir Spass macht, kannst du einstweilen eine Box-Schule eröffnen. Ich miete dir ein Lokal, besorge Sandsäcke, Boxhandschuhe und was man so braucht. Jeder wird es lernen wollen, war ja die beste Reklame.« Gern nahm ich den Vorschlag an. Einige Tage gingen mit Vorbereitungen hin. 43

 


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