Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Der Meteor

Das war ein altersgraues Gebäude in der Filsinger Gasse, stammte noch aus Münchens Urzeit, gotisch. Nach der Strasse zu ganz schmal, erstreckte es sich tief in den Häuserblock hinein, mit Höfen, Laubengängen, offenen Holzveranden den Stockwerken entlang. Die Treppe ging schnurgerade direkt von der Strasse aus bis zum Dach durch die ganze Tiefe des Hauses. – In den unteren Etagen waren die Büroräume und ein Teil der Druckerei. Die Redaktion war oben im vierten Stock.

Alle Redaktionen, die ich bisher gesehen hatte, wurden wie ein Heiligtum behütet. Der Besucher musste ein Formular ausfüllen, auf dem er seinen Namen und den Zweck des Besuches anzugeben hatte, dann erhielt er nach langem Warten Bescheid, ob und wann der Redaktör oder gar der allgewaltige Herr Chefredaktör zu sprechen sei. Das gab es beim Meteor nicht. Am Eingang war nicht ein mal eine Klingel. So klopfte ich. Es wurde nicht geöffnet, obgleich viele Stimmen von innen zu hören waren. Ich drückte die Klinke, und die Tür ging auf. Ich ging hinein und war gleich mitten im Heiligtum. Ein riesengrosser Raum, sichtlich durch Herausnehmen vieler Zimmerwände entstanden, in dem offenbar noch niemals Ordnung gemacht worden war. In der Nähe der vielen 131 Fenster standen breite Schreibtische, an den Wänden einige Regale voll Bücher, Zeitungen, Photographien, Manuskripte, die aber längst nicht mehr Platz darin hatten, herausgequollen waren und den grössten Teil des Fussbodens in unregelmässigen Haufen bedeckten. Auf einem der Haufen spielte ein Kind mit einer Puppe. Dazwischen stand hie und da ein Stuhl, auch einige Lehnstühle. Auf einem sass ein alter Herr mit rosigem Gesicht und weissem Haarschopf, blies recht schön auf einer Klarinette. An der Wand war ein Telephonapparat angebracht, damals eine neue Erfindung. An einigen Schreibtischen sassen Männer, auch einige Frauen, schrieben, sprachen laut miteinander und mit den vielen Menschen, die sich ausser ihnen in dem Raum aufhielten, hin und her liefen, kamen und gingen. Ab und zu versuchte Jemand zu telephonieren, bekam keine Verbindung, brüllte. Der Lärm und das Durcheinander überraschten mich so, dass ich erstarrt stehen blieb.

Ganz hinten an der Wand sah ich eine kleine Tür. Darauf war durch Heftzwecken ein Bogen Papier mit der Inschrift »Privat« befestigt. Neben dieser Tür eine Ottomane, auf der lag eine bleiche junge Frau, rauchte Cigaretten und las Manuskripte. Niemand schien mich zu bemerken. Allmählich kam ich ein wenig zu mir, dachte, der Redaktör müsse in dem Privatraum sein, bahnte mir mit den Füssen dorthin einen Weg durch das Papier, klopfte an.

Die Dame auf der Ottomane fasste mich beim Rockzipfel: »Was wollen Sie da drin? Sie werden ihn wecken!«

»Wecken?« sagte ich, »schläft denn der Herr Chefredaktör?« 132

»Unsinn, Washington schläft.«

Indem hörte man hinter der Tür ein Kind schreien. »Sehen Sie, Sie haben ihn geweckt!«, sie sprang auf, enthüllte ihre Brust, stürzte durch die Tür und kam gleich darauf mit einem Säugling zurück, der gierig an ihr trank. Mit ihm legte sie sich wieder auf die Ottomane, steckte eine frische Cigarette in den Mund, las in den Manuskripten, nahm mich nicht weiter zur Kenntnis.

Um mich bemerkbar zu machen gab ich ihr Feuer. Sie deutete mit der Cigarrette nach einem der Schreibtische: »Suchen Sie Quartaller? Da sitzt er.«

»Quartaller?! – Quartaller?!«, stammelte ich.

»Nun ja, wollen Sie nicht zum Herausgeber des Meteor?«

Wirklich, da sass Quartaller. Jetzt kannte ich ihn erst wieder. Er war ziemlich verändert, sah nicht mehr so brutal aus, vielleicht weil er sehr abgemagert war, eine grosse Hornbrille trug und die Haare nicht mehr als semmelblonde Wolle, sondern als lange, graue Strähnen seinen Kopf bedeckten. Welches Patentmittel mochte ihm das Kraushaar geglättet haben?

Er schien nicht überrascht, mich hier zu sehen, zog einen Stuhl heran, gab mir eine Cigarette. »Merkwürdig! Eben hatte ich an Sie gedacht. Sehen Sie hier!« Er zeigte mir einen Bericht über die geglückten Flugversuche eines Berliner Erfinders. Er korrigierte Einiges darin, befestigte zwei photographische Aufnahmen an dem Manuskript. »Daffodil!« schrie er. Zehn Stimmen wiederholten: »Daffodil! wo ist Daffodil?« In der Wand öffnete sich eine unsichtbare Tapetentür. Daffodil kam mit schnellem Gang, ein sehr junger dunkelhaariger Mensch mit energischem 133 Kinn, elegant und schmächtig. »Daffodil, geben Sie das sofort zum Satz! Halt, holen Sie mir erst die Nummer, in der wir damals über den Flugabsturz Witzgalls berichtet haben.« Daffodil überlegte einen Augenblick, dann eilte er zu einem der Papierhaufen, holte mit sicherem Griff das Gewünschte heraus, legte es auf den Schreibtisch.

Das Telephon läutete, – wieder und wieder. Endlich ging ein Fräulein hin, stenographierte auf einen Block, gab den Zettel Quartaller. Der warf einen Blick darauf und sagte zu Daffodil: »Berliner Erfinder soeben bei Flug abgestürzt. Tot. Geben Sie noch nicht in Druck. Blümel soll Parallele mit Sache Witzgall schreiben.« Dann machte er einen Papierball und warf ihn auf den immer noch Klarinette blasenden Herrn im Lehnstuhl, winkte ihm: »Bitte, einen Augenblick!« Er kam langsam herbei, ohne mit Klarinetteblasen aufzuhören. »Herr Emmaus – Herr Professor Steinbeis, der bedeutendste Physiker unserer Zeit. Professor, meinst du, dass ein Mensch ohne Gasballon fliegen kann? Willst du mir vielleicht sofort eine Abhandlung von vierzig Zeilen darüber verfassen?« Professor Steinbeis setzte sich an den freien Platz eines Schreibtischs, legte die Klarinette weg und begann zu schreiben. »Noch etwas warten, Daffodil. Inzwischen brauchen wir etwas zu trinken«, sagte Quartaller. Daffodil verschwand wieder hinter der Tapetentür, kam zurück mit einem Tablett voller Gläser, in Begleitung eines livrierten Dieners, der einen grossen Eiskühler mit Sektflaschen trug. Tablett und Kühler wurden auf eine freie Stelle des Fussbodens gestellt, Gläser auf den Schreibtischen verteilt, Champagner eingeschenkt. 134

Alle tranken mit grosser Selbstverständlichkeit, war scheinbar so der Brauch. »Herr Emmaus, ich hatte Ihnen doch damals geschrieben. Warum sind Sie nicht gekommen?«

»Ich wusste nicht, dass Sie es waren, die Unterschrift war unleserlich. Ich reagiere nie auf Briefe mit unlesbarer Unterschrift. Aufrichtige Menschen schreiben ihren Namen deutlich.«

»Ganz meine Meinung! Aber wozu Aufrichtigkeit? Tiere sind aufrichtig. Wenn Sie das wollen, genügt ein Hund.«

Professor Steinbeis legte seine Abhandlung vor, hatte offenbar schon vorher viel über die Frage nachgedacht. »Schwerer als die Luft kann man nicht fliegen«, erklärte er. Quartaller warf einen Blick auf das Geschriebene. »Ganz ausgezeichnet!« war sein Urteil. »Darf ich dir gleich das Honorar geben?« Er nahm zwei Hundertmarkscheine aus der Westentasche, überreichte sie mit leichter Verbeugung und der Frage: »Wie machen das dann aber die Vögel?« »Das ist Instinkt«, belehrte ihn überlegen lächelnd der Professor, »und Ausnahmen bestätigen eben die Regel.«

Die Geldscheine legte er in ein Briefkuvert, klebte es zu und empfahl sich. Ich bemerkte, dass sich von einem der Schreibtische ein Fräulein erhob und ihm nachging. Sie kam bald zurück, verbarg das Briefkuvert in ihrem Handtäschchen.

Als Professor Steinbeis fort war, warf Quartaller die Abhandlung in den Papierkorb. Daffodil brachte Blümels Manuskript. Es wurde in Druck gegeben.

»Eigentlich bringen wir ja jetzt nicht mehr viele Reportagen«, bemerkte Quartaller, »nur ganz 135 besondere Sachen. Die wöchentlichen Photographien von den Kaiserreisen wurden mir zu langweilig. Das Publikum will sie allerdings sehen, habe dafür die ›Zeitwoge‹ gegründet, keine Nummer ohne Kaiserbild, Auflage schon über Hunderttausend. Katja war zwar dagegen, aber ich habe sie überstimmt. Ach so, Sie kennen Katja noch nicht. Katja!« brüllte er. »Katja!«

Katja erhob sich von der Ottomane, knöpfte ihre Bluse zu, gab den kleinen Washington Herrn Daffodil zum Halten, kam. Ich wurde ihr vorgestellt.

»Hörmal, Quart, ich habe gesehen, dass Papa wieder etwas schrieb. Lass sehen.« Quartaller zeigte auf den Papierkorb.

»Na, dann ist es gut«, atmete sie auf. »Er soll keine Wissenschaft für uns verzapfen, man wird ihn sonst nicht mehr ernst nehmen. Neulich sein grosser Artikel: ›Das weibliche Geschlecht – eine heilbare Krankheit?‹ hat zwar dem Blatt genützt, aber ihm selbst sehr geschadet.«

»Ah, Sie sind eine Tochter des berühmten Professor Steinbeis?« sagte ich ehrerbietig. Natürlich kannte ich sein berühmtes Werk: »Wann ging die Welt unter?« Es hatte einen unerhörten, internationalen Erfolg gehabt. In Europa und Amerika gab es keinen Menschen, der nicht davon gehört hatte. Hunderttausende hatten es gekauft und viele davon sogar die ersten zwanzig Seiten gelesen, auf denen die Behauptung aufgestellt wurde, dass die Welt bereits untergegangen ist, zu einem genau feststellbaren Zeitpunkt, dem achtzehnten Januar 1871. Man habe es bloss noch nicht gemerkt, denn es dauere oft Jahrtausende, bis ein kosmisches Geschehen in die Erscheinung trete. Auf den übrigen 136 965 Seiten war der wissenschaftliche Beweis für diese These erbracht, mit tiefsinnigen astronomischen, mathematischen und physikalischen Deduktionen, sie waren etwas schwer verständlich. An der Universität Boston wurde zu ihrer Erklärung ein eigener Lehrstuhl für Weltuntergang geschaffen.

»Und Sie sind mit Herrn Quartaller verheiratet? Ist das weil die Welt untergegangen ist?«

Beide schauten mich zornig an. Sie sagte: »Quatsch!«, und er deutete auf eine Zeitungsannonce, die, sauber auf Papier geklebt und eingerahmt, auf dem Schreibtisch stand. Darauf war zu lesen: »Wir zeigen an, dass wir uns heute in freier Ehe verbunden haben. Katja Steinbeis, Tochter des Professors Oswald Steinbeis, nebst Sohn Washington. – Quartaller, Herausgeber des Meteor, nebst Tochter Roswitha.«

»Sie können mich aber ruhig Frau Quartaller nennen, wenn Sie wollen.«

»Ja, Frau Quartaller, aber einen Augenblick, bitte! Ich kann so schnell nicht denken. Roswitha, das ist wohl das liebliche Kind, das da drüben auf dem Papierhaufen waltet? Aber sind Sie nicht seine Mutter? Jedes Kind muss doch mehr oder weniger eine Mutter haben.«

Katja lachte und hielt die Hand vor den Mund. Quartaller sah mich scharf an und sagte: »Das Kind stammt aus dem Schlosse Glespelbrunn, seine Mutter wählte ihm den Namen Roswitha.«

Ich habe ein ziemlich dummes Gesicht gemacht, vielleicht sogar ein bischen weinerlich, denn Katja, in deren Lachen nun auch Quartaller einstimmte, strich mir über das Haar und tröstete mich: »Nicht traurig sein, Herr Emmaus!« 137

So gab ich mir einen Ruck und entliess alle peinlichen Gedanken, begann ein sachliches Gespräch.

»Sagen Sie mir, Herr Quartaller, was will eigentlich der Meteor? Die meisten Nummern, die ich sah, waren so verschieden von einander, dass ich nicht klug daraus werde.«

»Ja, mein Lieber, dadurch unterscheiden wir uns eben von Allem, was es bisher gab. Jede Zeitung wurde mit einer vorgefassten Meinung angefangen. Der Herausgeber wollte irgend eine literarische oder künstlerische oder politische Idee durchsetzen, sein Blatt wurde schnell langweilig, verkalkte. Ich habe die Diktatur des Chefredaktörs ausgerottet. Der Meteor vertritt keine Weltanschauung, will weiter nichts als den besten Schriftstellern, Künstlern, Politikern, Wissenschaftlern, berühmten und noch unbekannten, Gelegenheit geben, frei und unbeeinflusst an die Öffentlichkeit zu treten. Jede Nummer ist die Summe der Leistungen ihrer Mitarbeiter. Jeder darf hier mitarbeiten, der etwas bedeutet. Und dass die Besten kommen, dafür sorgt die Höhe der Honorare. Der Meteor zahlt mehr als irgend ein anderes Blatt und zahlt sofort, nicht erst nach Erscheinen des Beitrags. Aber allmählich bildet sich doch ein Stamm von Mitarbeitern, und der Meteor bekommt ganz von selbst ein eigenes Gesicht. Bereits spricht man von einem Meteor-Stil in der Kunst. Die alten Stile haben abgewirtschaftet, und im Meteor haben die jungen Künstler zuerst der Welt gezeigt, welche Schönheit in eigentümlich geschwungenen Linien menschlicher Körper und pflanzlicher Gebilde liegt. In Graphik, Textilkunst, Möbeln, Geräten, ja Architektur setzt sich der Meteor-Stil durch. Auch in der Literatur bricht Neues hervor. 138 Die ›Briefe bayrischer Bauern‹, die Doktor Aloys Huber für uns schreibt, sind ganz etwas eigenartiges. – Ah, Herr Doktor, gerade habe ich von Ihnen gesprochen.«

Ein breitschultriger Mann war herangetreten, kurze Lederhosen, Gebirgstracht, sah wie ein Bauernbursche aus, bis auf den schwarz gerandeten Zwicker vor den Augen. Ein Dackelhund begleitete ihn.

»Grüss Gott, Herr Meteor. Ich hätte eine neue Idee. Ihr Roman geht ja in der nächsten Nummer zu Ende. Da hab' ich gemeint, ich übertrage die Bibel in's Bayrische, und Sie lassen sie in Fortsetzungen erscheinen. Hier wären die ersten Kapitel.« Quartaller durchflog ein paar Seiten des Manuskripts, war von dem Vorschlag entzückt.

Huber fuhr fort: »Und mein Freund, der Gradl Sepp, kann Zeichnungen dazu machen. Wird gut sein, dass er wieder mehr zeichnet. Seitdem er verliebt ist, fängt er an Poësie zu verbrechen, und das ist ein Mist. Da hinten sitzt er ja wieder bei der Fräulein Spannagl, hält sie von der Arbeit ab, hat die Hand an ihrer Taille und nimmt ihr Mass zu einem lyrischen Gedicht.« Ich schaute hin. Den Gradl kannte ich, er war damals einer der Begabtesten der Timmschule in Etzenhofen. Und das war das Fräulein, das vorhin das Geldkuvert von Professor Steinbeis bekommen hatte. Daffodil musste Gradl heranholen, ich fand es ziemlich unverschämt, wie er dabei Gradls Hand sanft von dem Busen der Dame entfernte und mit ihr verstohlen einen spöttischen Blick wechselte. Ich bemerkte, dass sie ein schönes, etwas puppenhaftes Gesicht hatte.

Dann lud Frau Katja mich und Doktor Huber ein, bei ihnen zu Abend zu essen, Ehrhardstrasse 19, am 139 besten wäre es, wir kämen gleich mit Quartaller hin. Sie ging etwas früher, mit den Kindern, die nach Haus geholt wurden.

Auf dem Wege sagte ich dem Doktor Huber viel Schmeichelhaftes über seine »Bauernbriefe« und über seine Idee, die Bibel in's Bayrische zu übersetzen, er könne der bayrische Luther werden. Das gefiel ihm weniger. »Wissen's, der Luther ist mir zu preussisch. Wie der die Bauern an die Grosskopfeten verraten hat, das war schon nimmer schön. Vor ihm ist es viel gemütlicher in Deutschland gewesen. Ohne Luther hätte es nie den preussischen Parademarsch gegeben. Aber unsere Bauern hier sind ihm nicht auf den Leim gegangen, die waren ihm zu schlau. Ich bin Advokat in Aubing, da kenne ich sie gut. Neulich haben sie mich elend geschlenkt, die Tropfen. Wissen'S ich hab doch die Etzenhofener Jagd in Pacht. Dort haben die Krähen schrecklich überhand genommen, haben viel Schaden angerichtet, Rebhuhneier und junge Hasen gefressen. Da hat der Förster gemeint, wir wollen sie vergiften. Ich habe ein Rattengift mitgebracht und wir haben giftige Fleischbrocken ausgelegt auf die Äcker. Aber nach der Ernte treiben dort die Bauern ihre Schweine auf's Feld, die haben die Krähen verscheucht und keine Krähe hat ein Fleisch angerührt. Wie ich nach der Jagd in der Dorfwirschaft sitze, kommt ein Bauer daher mit einer verreckten Sau auf dem Schubkarren, sagt: ›nix für ungut, Herr Doktor, aber die Sau hat das Gift gefressen, das wo Sie ausgelegt haben. Sie müssen zahlen.‹ Also habe ich den Schaden bezahlt und dem Bauern noch eine Mass Bier gekauft. Dann ist er fort mit dem toten Vieh. Nach einer Viertelstunde kommt ein zweiter Bauer mit einer 140 eingegangenen Sau daher. Das war mir sehr zuwider, und ich hab sie auch bezahlt. Und das ist so weiter gegangen. Einer nach dem anderen sind sie dahergekommen. Wie ich die fünfte gezahlt hatte, habe ich kein Geld mehr dabei gehabt, bin nach Aubing hinein und hab mir schnell vom Hierlbräu eins zu leihen genommen. Der ist mit nach Etzenhofen hinaus, und ich hab noch zwei Schweine zahlen müssen. Aber nach dem achten hat dann der Hierlbräu zu dem Bauern gesagt: ›Geh, Wastl, die Sau lässt du jetzt hier.‹ Sie blieb einstweilen auf dem Dunghaufen liegen. Und das war die letzte. Kein Bauer hat mehr eine gebracht. Da haben wir nachgefragt, und es war überhaupt nur eine verreckt, die hatten sich die sieben anderen Bauern ausgeliehen.«

Quartaller bat den Doktor Huber, das in seinem nächsten Bauernbrief zu bringen, aber so wie es der Bauer erzählen würde.

Quartallers Wohnung war im ersten Stock eines eleganten, neuen Mietshauses am Isarufer. Dicker roter Plüschbelag machte die Treppen kostbar. Die Zimmer waren ganz im Meteorstil eingerichtet, ohne eine einzige gerade Linie, alles geschlängelt, mit vielen geschnitzten Pflanzen und Blumen an giftgrün gefärbten Möbeln. Auf Tapeten und Vorhängen trieben mit Vorliebe Seerosen ihr Wesen, auch auf den Teppichen erfreuten sie das Auge, aus wasserblauem Grund aufsteigend, zwischen vornehmen Schwänen, die stolz darauf waren, ihre Hälse im Meteorstil abbiegen zu können. Alle Möbel sahen aus, als ob sie im Begriff wären wegzulaufen, besonders die Stuhlbeine schienen es sehr eilig zu haben. Viel chinesisches und japanisches Porzellan stand herum, an den 141 Wänden waren japanische Drucke und einige dunkle, alte Bilder.

»Schön haben Sie es hier«, sagte ich.

»Ja, nichtwahr? Alles von Professor Krüglin selbst entworfen. Ich könnte mich nicht mehr wohl fühlen zwischen Dingen, die nicht entworfen sind.«

Man ass auch von Meteorstil-Geschirr, mit Besteck, dessen Formen so bewegt waren, dass man jeden Augenblick fürchten musste, es würde davonhüpfen. Und das wäre schade gewesen, denn wie uns Quartaller erzählte, hatte Krüglin die Entwürfe dazu nur unter der Bedingung geliefert, dass sie in purem Gold ausgeführt wurden. »Nachträglich haben wir es allerdings versilbern lassen, um nicht protzenhaft zu erscheinen.«

Zum Essen wurde nur Champagner getrunken, ein Diener und ein Mädchen servierten, sehr korrekt, mit weissen Handschuhen, wie überhaupt hier vornehmer, geordneter Haushalt markiert wurde. Allerdings in einer Pause stand das Mädchen träumerisch abseits unter einer Palme und bohrte in der Nase. Frau Katja rief ihr halbblaut zu: »Marie, bessere Mädchen ziehen den Handschuh aus, wenn sie in der Nase bohren wollen.«

Nachher sassen wir, rauchend und Kaffee trinkend, in die bequemen Klubsessel versunken. Doktor Huber hatte seinen Dackel im Arm und eine lange Virginiacigarre im Mund, schlief ein, rauchte schlafend weiter, wenn sie ausging, wachte er auf, zündete sie neu an und schlief.

Ich fragte Quartaller, wie es gekommen sei, dass er seinen blühenden Kunsthandel aufgegeben habe, um Zeitungsherausgeber zu werden. 142

»Allzu blühend«, sagte er, »habe einiges Unangenehme damit erlebt, so dass er mir verleidet wurde. Ich erzähle es sonst niemandem, aber zu Ihnen habe ich Vertrauen. In einem kleinen böhmischen Dorf hatte ich ein verschollenes Hauptwerk Dürers, ›die grosse Anbetung‹, in einer Kirche entdeckt. Es war in sehr schlechtem Zustand, ganz verschimmelt und verdorben. Aus Kunstbegeisterung erbot ich mich, es kostenlos restaurieren zu lassen, die Kirchenverwaltung ging gern darauf ein. Ich hatte einen ausgezeichneten Spezialisten dafür. Er machte mir gleichzeitig eine Kopie, die vom Original absolut nicht zu unterscheiden war. Durch ein Versehen wurde dann die Kopie anstatt des echten Bildes zurückgegeben, unter heissem Dank der geistlichen Obrigkeit. Später hörte ich, dass eine grosse Galerie das Bild von der armen kleinen Gemeinde erworben hatte. Dort hängt es noch als Hauptzierde der Sammlung. Inzwischen war die japanische Kunst für Europa entdeckt worden, ich hatte hunderte von japanischen Meisterwerken importiert und sehr viel daran verdient. Gleichzeitig fing Japan an, sich für europäische Kunst zu interessieren, in Tokio war ein eigenes Museum dafür gebaut worden. Ich bot meinen Dürer an, schickte Photos und Expertisen, gedachte, ausser barem Geld, eine ganze Schiffsladung erlesenster japanischer Kunst dafür einzutauschen. Man war bereit, darauf einzugehen. Ich liess die riesengrosse Holztafel gut verpacken und fuhr von Hamburg aus mit dem japanischen Dampfer ›Nishi maru‹ nach dem fernen Osten, hatte das Bild natürlich hoch versichert. Die Fahrt verlief sehr angenehm, besonders weil ich auf dem Schiff eine entzückende junge Dame kennen gelernt 143 hatte. Sie war Journalistin, wollte Studien über die japanischen Frauen und ihre soziale Lage machen, die gleichzeitig in einer grossen amerikanischen und in einer deutschen Zeitung veröffentlicht werden sollten. Ausserdem wollte sie in Tokio über die japanische Ausgabe des Buches ihres Vaters ›Wann ging die Welt unter?‹ verhandeln. Sie brachte mir zuerst Interesse am Zeitungswesen bei. Ich war sehr verliebt in sie.« Er ergriff Katjas Hand.

Sie sprach, erst lächelnd, dann ernst: »Er gefiel mir auch. Ich fand ihn zwar sehr hässlich, aber ich liebe unternehmende Männer, die Ideen haben und die nicht an der Gleichberechtigung der Frauen zweifeln. Genau genommen war ich mir nicht klar darüber, was ich für ihn empfand. Wenn man auf einer weiten Schiffahrt ausschliesslich mit einem Manne zusammen ist, bekommt es leicht etwas von einer Hochzeitsreise, einer platonischen natürlich. In der wundervollen tropischen Nacht schauten wir, eng nebeneinander, über das Schiffsgeländer hinaus in die blaue Dunkelheit. Da tauchte plötzlich ein riesenhaftes, weissleuchtendes Kriegsschiff auf, ganz nahe vor uns, mit Kurs direkt auf uns zu. Seine Schornsteine rauchten nicht, kein Mensch war darauf zu sehen, es gab kein Warnungszeichen, alles war unheimlich still an Bord. Es kam mir vor, als ob das Schiff durchsichtig wäre, der Horizont und die kleinen Wellenkämme waren dahinter sichtbar. Schon war es bemerkt worden. Laute, schrille Warnungssignale tönten von der Nishi maru. Aber schweigend setzte es seinen Kurs fort, direkt auf uns zu. Wir waren starr vor Schreck. Mit dumpf knirschendem Krach rammte es unser Schiff. Das bekam Schlagseite. Viele Leute stürzten an Deck. Es 144 war allgemeines, aufgeregtes Durcheinander, Schreien, Verzweiflung. Um Schwimmgürtel wurde wild gekämpft, Rettungsboote wurden herabgelassen, überfüllt, kenterten. Wir beide wurden merkwürdig ruhig, hielten uns umschlungen, fühlten wohl das Gleiche: im Angesicht des Todes ein unbändiges Verlangen nach Leben und Liebe. Wir haben ihm nachgegeben. So wären wir dann, ohne Entsetzen und Grauen, süss in das Nichts hinabgeglitten. Das Schiff versank. Im letzten Rettungsboot schlugen sich die Menschen, stiessen Schwimmende zurück, die hineinkommen wollten, auf einmal trieb es Kiel oben. Ich versuchte zu schwimmen, verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, hatte mich Quart auf eine Art Floss hinaufgezogen. Er war ganz munter, sagte: »Weisst du, worauf wir sitzen? Auf Dürers Anbetung.« Wirklich, das war die grosse flache Kiste mit dem grossen Brett des Bildes darin, es war ein wunderbares Fahrzeug. Leider mussten wir mehrere Japaner, die sich zu uns herauf retten wollten, freundlichst und mit einiger Brachialgewalt ersuchen, wieder zu verschwinden. Nur einer Ratte, die geschwommen kam, erlaubten wir dazubleiben. Von der Nishi Maru war nichts mehr zu sehen, aber auch das andere Schiff war spurlos verschwunden. Wir sahen überall im Meer die Rückenflossen der Haifische. Viele Schwimmer stiessen einen letzten Schrei aus, bevor sie hinabgezogen wurden. Wir hielten uns in der Mitte unseres Flosses, trieben so dahin bis zum Morgen. Dann kam ein italienischer Dampfer in Sicht, der uns rettete.«

Sie schwieg nachdenklich und von der Erinnerung ergriffen. Quartaller setzte die Erzählung fort: »Als 145 man uns ins Boot zog, bat ich die Matrosen in meinem besten Italienisch, die Anbetung mitzunehmen. Sie lachten, glaubten wohl, ich rede im Fieber. Es wäre auch nicht möglich gewesen, das Floss mit in das Boot zu bringen. Aber die Ratte hüpfte hinein, bemerkte ich. Das italienische Schiff war auf der Heimfahrt nach Genua. Glücklicherweise hatte ich meine Brieftasche gerettet. Wir hätten vom nächsten Hafen aus die Reise nach Japan fortsetzen können, verzichteten aber darauf.

An Bord hielt man uns für ein Ehepaar, wir widersprachen dem nicht. In Genua equipierten wir uns neu, verbrachten dann ein paar herrliche Wochen in Bordighera. Von dort aus schrieb ich an die Versicherungsgesellschaft, um den Verlust des Bildes ersetzt zu bekommen. Katja hatte an ihre Blätter eine packende Schilderung des rätselhaften Schiffsunglücks geschickt, auch von der Rettung durch das Dürerbild erzählt. Wir lasen den Artikel, behaglich am Badestrand in der Sonne liegend.

Weniger behaglich wurde mir zu Mute, als in einer der nächsten Nummern eine Zuschrift jenes Galeriedirektors erschien, der das Bild aus der böhmischen Kirche gekauft hatte. Es müsse ein Irrtum vorliegen, denn die echte ›Grosse Anbetung‹ Dürers befinde sich wohlbehalten im Besitze des Museums.

Ich hätte ihm gern seine Freude gelassen, aber was würde die Versicherungsgesellschaft dazu sagen? Wir reisten ab.

Nach Ankunft in der Heimat war mein erster Gang zu der Versicherungsgesellschaft. Ich hatte die Police nicht mit auf die Reise genommen, so konnte ich sie vorlegen. Aus ihr ergab sich klar, dass ich bei 146 Totalverlust anderthalb Millionen Mark zu bekommen habe. Ob ich den Betrag gleich in Empfang nehmen möchte, fragte mich der Direktor etwas ironisch, was ich natürlich bejahte. »Ganz recht«, meinte er, »erst aber müssen alle Bedingungen erfüllt sein.« Er deutete auf einige graue Flecke des Versicherungsscheins, gab mir ein Vergrösserungsglas in die Hand. Da löste sich der graue Ton in Buchstaben auf, und ich konnte lesen, dass bei Versicherungen von über 50 000 Mark Wert Schadenersatz nur beansprucht werden könne, wenn einwandfrei nachgewiesen werde, dass erstens der Gegenstand tatsächlich den angegebenen Wert gehabt habe, zweitens, dass er wirklich total zu Verlust gegangen sei, drittens, dass dabei keinerlei Verschulden des Versicherungsnehmers vorliege. Und das hatte ich unterschrieben!«

»So eine Lumperei!« rief ich aus. – Doktor Huber erwachte, sagte: »Ja, Lumpen sind es, alle miteinander«, zündete sich die Cigarre neu an und schlief weiter.

Quartaller fuhr fort: »Ich ging zu meinem Rechtsanwalt. Das Ergebnis der Besprechung war, dass Punkt 2 und 3 leicht zu erfüllen seien, aber Punkt 1 würde schwierig sein, und, nachdem ich ihm erzählt hatte, unter welchen Umständen ich Besitzer des Bildes geworden war, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht. Er riet mir, die Sache unter allen Umständen und zu jedem Preis schleunigst aus der Welt zu schaffen. Der einzige Ausweg sei, den Versicherungswert auf 50 000 Mark zu ermässigen, dann würden die verschärften Bedingungen wegfallen.

Er hat dann selbst mit der Versicherung verhandelt, hat zu dem Direktor gesagt: ›Diese Art von Police mit unleserlichen Bedingungen verstösst nicht nur 147 gegen die guten Sitten, sondern auch gegen einige Paragraphen des Strafgesetzbuchs. Ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, meinem Klienten den versicherten Betrag voll auszuzahlen.‹ Worauf ihm der Direktor die Zeitung mit der Berichtigung des Galeriedirektors vorlegte und bemerkte: ›Unsere Nachforschungen sind noch im Gange.‹

›Einstweilen kann ich dann ja den Staatsanwalt veranlassen, Ihre Policen ein wenig zu prüfen‹, antwortete der Anwalt. So haben sie sich hin und her gehackelt und schliesslich auf 90 000 Mark geeinigt. Beide Parteien waren froh, so glimpflich davonzukommen. Immerhin hatte ich nichts dabei verloren.

Aber dann war noch ein anderer Fall, der sehr unangenehm aussah. Vor einiger Zeit hatte ich von dem italienischen Bildhauer Rossi ein ungeheuer seltenes Stück erworben: die einzige Plastik Raphaels, eine wundervolle Madonna, in gefärbtem Wachs modelliert. Der Direktor der preussischen Sammlungen, Geheimrat von Wackes, hatte sich das Unikum nicht entgehen lassen. Ich hatte es ihm, aus alter Freundschaft, für dreiviertel Millionen Mark überlassen. Nun wurde die Echtheit des Kunstwerks bezweifelt, der Geheimrat in der Presse stark angegriffen. Um seinen Ruf als grösste Autorität der Kunstwissenschaft besorgt, liess er es von einer Kommission anerkannter Fachleute prüfen. Sie stellten fest, dass die Formgebung zweifellos die Raphaels sei, aber das Material der Plastik sei nicht Wachs, sondern Paraffin. Das habe es zu Raphaels Zeit zwar noch nicht gegeben, ebensowenig wie die verwendeten Anilinfarben, doch sei es ihm, als grossem Genie, vielleicht möglich gewesen, diese Dinge eigens für seine Zwecke zu erfinden und 148 herzustellen. Bedenklich sei es auch, dass das Innere der hohlen Figur mit Zeitungspapier ausgefüllt sei, das entschieden nicht der Renaissancezeit entstamme, Nummern der Times von 1875. Wackes liess mich nach Berlin kommen, zeigte mir das Gutachten. Zu allem Unglück war Rossi kurz zuvor gestorben, und ich konnte nicht einmal nachweisen, dass ich die Plastik von ihm hatte. Der Geheimrat raste. Ich bot ihm Rückerstattung des Kaufpreises an. ›Das fehlte mir gerade noch!‹ brüllte er, ›dann wäre meine Unfehlbarkeit für immer zerstört, meine Expertisen würden wertlos. Ich besitze Einfluss genug, um die Veröffentlichung des Gutachtens zu unterdrücken, die Presse zum Schweigen zu bringen. Ich verlange von Ihnen nur zwei Dinge: Sie müssen unverbrüchliches Stillschweigen darüber bewahren, dass Sie mich hineingelegt haben, und Sie müssen sich verpflichten, aus dem Kunsthandel für immer zu verschwinden.‹ Ich musste ihm das schriftlich geben, und die Sache war erledigt. Sie begreifen wohl, dass mir durch solche Erfahrungen die Freude am Kunsthandel genommen worden ist. Katja hatte immer gesagt, das sei kein Beruf für mich, Kunsthändler seien Vampyre, die sich von den Leichen toter und vom Blut lebender Künstler nähren.«

Frau Katja stimmte bei: »Ich habe herausgefunden, dass der Kunsthandel genau das Gegenteil vom Zeitungswesen ist. Der Kunsthändler will an nur Wenige teuer verkaufen, der Zeitungsherausgeber an Viele billig. Bisher allerdings wollte auch der möglichst billig einkaufen, und das war ein Irrtum. Einige Leute in Amerika hatten schon länger entdeckt, dass sehr hoch bezahlte Beiträge die Qualität und den 149 Erfolg eines Blattes bedingen. Wir haben dieses Prinzip hier eingeführt und dadurch neues Leben in den Zeitungsbetrieb gebracht, gezeigt, welche ungeahnten Möglichkeiten es da gibt.«

Es war spät geworden, und ich wollte mich verabschieden. »Sie werden doch noch nicht schlafen gehen«, sagte Quartaller, »wir wollten noch in's Kolosseum auf die Redoute.« Es war nämlich Faschingszeit, überall ergab man sich Tanzvergnügungen, mehr oder weniger maskiert, die in den Kolosseumssälen waren die beliebtesten.

Bei dem Stichwort »Kolosseum« wachte Doktor Huber auf: »Jessas! Da hab' ich ganz vergessen, dass ich mich im Kolosseum mit der Corietta zusammenbestellt habe, die wird mir einen schönen Krach machen.«

Wir fuhren alle vier in einer Droschke hin. Doktor Huber war ganz munter geworden, erzählte während der Fahrt viel von Corietta. »Sie ist eine Tänzerin aus Tahiti, tritt im Viktoria-Varieté mit ihrem Partner Gagino auf. Das ist ein schrecklicher Mensch, nutzt das arme Mädchen furchtbar aus, bedroht ihre Unschuld. Sie ist nämlich noch ganz unverdorben. Das habe ich gleich gekannt. Sie hat mir sehr gefallen, weil sie so ein rassiges schwarzes Geschau hat. Nach der Vorstellung bin ich mit ihr und dem Gagino in eine Weinwirtschaft gegangen. Sie hat mich heimlich mit der Fussspitze angestossen, und ich habe sie unter dem Tisch bei der Hand gefasst und dann bei den Knieen und so. Und der Gagino hat nichts gemerkt, weil ich ihm immer frisch eingeschenkt habe. Aber er war doch nicht so betrunken, wie ich meinte, denn auf einmal hat er mich um fünfzig Mark 150 angepumpt und dann hat er gesagt, er könne nicht länger bleiben, weil er am nächsten Tag früh aufstehen müsse und üben, ich soll die Corietta heimbegleiten, er sehe, ich sei ein Kavalier und er könne sie mir anvertrauen. Wie er fort war, hat die Corietta zu weinen angefangen und hat mich gebeten, sie von Gagino zu befreien, sonst würde der ihr schliesslich etwas antun und sie wolle doch ein sittsames Mädchen bleiben. Sie hat mich sehr gedauert, und ich habe ihr gesagt, sie solle von ihm weggehen, sie könne zu mir nach Aubing ziehen. Einstweilen ist sie mit mir in's Hotel gekommen. Aber am Morgen hat sie dann wieder geweint, weil sie sich vor Gagino gefürchtet hat, und sie ist zu ihm zurückgekehrt. Ich war dann oft mit ihr beisammen, und sie hat mich auch in Aubing besucht und sie möchte mir dort die Wirtschaft führen.«

Indem waren wir beim Kolosseum angelangt. Die Garderobefrau wollte zuerst den Dackel nicht aufbewahren. Während wir darüber noch verhandelten, kam eine Gesellschaft junger Leute lustig in sehr animierter Stimmung die Treppe herunter, wollten ihre Garderobe holen. Sie lärmten und lachten, hielten sich untergefasst, drei Mädchen, die dabei waren, wurden abgeküsst, handgreiflich, tief in den Kleiderausschnitt hinein, sie juchzten ein wenig, gaben die Küsse schallend zurück. Auf einmal riss sich der Dackel los, sprang an dem einen Mädchen freudig kläffend in die Höhe.

Sie war als Indianerin kostümiert, hatte blauschwarzes Haar, bräunliche Hautfarbe. Beim Anblick des Dackels veränderte sich sofort ihre Haltung »Also meine Herren, auf Wiedersehen! Ich bleib noch ein bissel. Grüss dich Gott, Loisl, bist du doch noch gekommen! Waldl, jetzt sitz schön beim 151 Garderobefrauerl!« Schon stieg sie mit Doktor Huber die Treppe zum Saal hinauf, so schnell war das gegangen, dass ihre heitere Gesellschaft begrifflos stehen blieb. Sie tauchten unter in der dicht gedrängt tanzenden Menge, unermüdlich waren die beiden, kein Tanz wurde ausgelassen. Ein merkwürdiges Bild: der blonde, bäuerliche Huber und die schlanke zierliche Exotin mit ihren schlangenartigen Bewegungen, es war als ob ihn eine Viper umzüngelte. Der »Frassee« war, wie immer, der Höhepunkt der Tänze, artete zu einer wilden Orgie aus, bei der die Weiber hochgehoben, in der Luft herumgeschwenkt, von gierigen Händen abgegriffen wurden, alles durcheinanderschrie und lachte, der Rhythmus zeitweise ganz verloren ging.

Wir sassen zuerst etwas abseits in einer Loge, wo wir Professor Steinbeis an einem Tisch mit Fräulein Spannagl vorgefunden hatten. Das Dirndlkostüm passte gut zu ihrem hübschen Puppengesicht mit der blonden Gretchenfrisur.

Ein maskierter Harlekin trat an unseren Tisch, trank von unserem Sekt und sagte zu dem Professor: »Gib fei Obacht auf dein Töchterl, dass sie dir nicht ausgespannt wird.«

Der Professor wurde rot und etwas verlegen, lachte dann: »Du wirst schon auch eine finden, lass mir mein Vergnügen, man ist ja nur einmal alt.«

»Na dann Prost!«, trank der Narr ihm zu, »weil's gleich ist, die Welt ist ja doch schon untergegangen, hast du gesagt.«

Steinbeis war nämlich eine stadtbekannte Persönlichkeit, und gerade jetzt, in einer Tanzpause, erhob sich grosses Halloh, da sechs Steinbeise, Klarinette blasend im Gänsemarsch durch den Saal wanderten. 152 Die Masken waren täuschend ähnlich, der weisse abstehende Haarschopf, das alte, rosige, etwas weiche Gesicht, das kleine Bäuchlein. Alles lachte, auch der Professor selbst. Er erhob sich, ging hinunter an die Spitze des Zuges und führte ihn, dirigierend, an. Jubelnder Applaus. Dann brachte er seine sechs Ebenbilder mit an unseren Tisch, der durch einen zweiten vergrössert wurde. Alle bekamen Champagner, tranken viel. Fräulein Spannagl sass zwischen zwei Steinbeisen, die sie von beiden Seiten küssten. Der eine wollte sie auf seinen Schoss ziehen, der andere wollte es nicht zulassen, packte ihre Beine. Stühle fielen um, Sekt floss über den Tisch. Die beiden Steinbeise kamen in's Raufen. Ein anderer Steinbeis trat herzu, hob das Dirndl auf und führte es sehr korrekt, mit leichter Verbeugung zum Tanzen. Die Raufenden wurden bald getrennt, aber ihre Maskierung war zerstört, und man sah, dass der eine Herr Daffodil war, der andere Herr Gradl. Als Fräulein Spannagl nach einiger Zeit wieder am Tisch erschien, mit ihrem Tänzer, hatte der sich bereits in der Garderobe entsteinbeist, stellte sich als Assessor von Schneemöller vor. Fräulein Spannagl tanzte nur mehr mit ihm. Von allen sieben Steinbeisen blieb schliesslich der echte allein zurück, eine Klarinette hatte man ihm dagelassen, auf der blies er die Tanzmelodien mit, trank sehr viel.

Als ich mit Frau Katja getanzt hatte, fragte ich sie: »Liebt Professor Steinbeis Fräulein Spannagl? Könnte ja ihr Vater sein.«

»Ist er und deshalb liebt er sie.«

Ich war überrascht: »Also ist sie Ihre Schwester. Wieso heisst sie dann Spannagl?« 153

»Stiefschwester, und sie heisst so nach ihren Adoptiveltern, meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Papa ist dann später zu wissenschaftlichen Untersuchungen nach Borneo gereist. Von dort hat er diese Tochter mitgebracht. Auf der Rückreise hat er den Kapitän des Schiffes veranlasst, sie zu adoptieren, der hiess Spannagl. Warum er das gemacht hat, war mir lange ein Rätsel, bis ich einmal seine geheimen Aufzeichnungen über die Forschungsergebnisse von Borneo zu lesen bekam. Er war dorthingefahren, um Blutanalysen an Orang Utangs vorzunehmen. Dabei war es für den Forscher wichtig, festzustellen, ob Mensch und Orang Utang sich zusammen fortpflanzen können. Papa hat es experimentell bewiesen. Es wurde eine Tochter, und sie hatte, körperlich und geistig, nur väterliche Eigenschaften geerbt, nichts erinnerte an ihre Mama. So sollte es Geheimnis bleiben, wer ihre wirkliche Mutter war. Sie selbst ahnt es nicht, denkt, sie sei ein aussereheliches Kind des Professors, und ihre Mutter sei dann an den Kapitän verheiratet worden. Ich bitte Sie um strengste Diskretion, Herr Emmaus, allerdings würde es Ihnen ja auch niemand glauben.«

Dadurch ist mir Fräulein Spannagl eine sehr interessante Erscheinung geblieben. Ihr ferneres Schicksal ist tragisch genug gewesen. Der Assessor von Schneemöller hatte sich auf jener Redoute in sie verliebt. Er ist dann in den diplomatischen Dienst eingetreten, hat schnell Carrière gemacht. Als Botschaftsrat hat er sie geheiratet. Es ist eine glückliche Ehe gewesen, besonders als sie nach zwei Jahren ein Kind erwarteten. Es ist ein Sohn geworden, aber alsbald nach der Geburt hat sich etwas Furchtbares gezeigt: 154 ein völliger Rückschlag auf die Grossmutter. Das Kind war durchaus ein Orang Utang. Professor Steinbeis hat den Fall wissenschaftlich hochinteressant gefunden und in der Freude seines Herzens dem Vater den Zusammenhang erklärt. Der hat sich sofort eine Kugel durch den Kopf geschossen. Seine unglückliche Gattin hat im Irrenhaus geendet. Zuerst hat man gemeint, es würde möglich sein, den jungen von Schneemöller als Menschen aufwachsen zu lassen, ihn vielleicht zu dem väterlichen Beruf zu erziehen. Dann war man aber genötigt, ihn dem zoologischen Garten zu schenken.

Doch an jenem Redouten-Abend herrschte ahnungslose Fröhlichkeit, die dem Herrn Assessor von Schneemöller nur dadurch etwas getrübt wurde, dass eine ziemlich robust aussehende Dame in gelbem Domino ihn mit dem Fächer auf die Schulter klopfte und zum Tanzen aufforderte. Wie wir später erfuhren, war sie die Gattin seines Vorgesetzten, und so konnte er sich dem nicht entziehen. Sie liess ihn nicht so schnell wieder los.

Fräulein Spannagl, ein bisschen enttäuscht, war dann nicht mehr so abweisend gegen Gradl und Daffodil.

Ich bemühte mich auch ein wenig um sie, vermutete nach Frau Katjas Erzählung verborgene Urwald-Leidenschaften bei ihr. Aber nichts deutete darauf hin, und ich kam zu der Ansicht, das sei vielleicht nur ein Scherz gewesen. Wir führten sie in's Bierstübel hinunter, wo eine Bauernkapelle spielte. Bei Weisswürsten und Bier war es dort lärmend fidel. Der Assessor konnte Fräulein Spannagl oben im Saal nicht mehr finden, ging verstimmt nach Haus, während sie unten bald in Gradls, bald in meinen, bald in Daffodils 155 Armen lag. Schliesslich führte Daffodil sie zur Garderobe, kleidete sie an und entschwand mit ihr. Gradl blieb traurig zurück, hatte zuviel Bier getrunken, weinte: »So ein ekelhafter Schmock, ich verstehe nicht, was die Weiber an ihm finden, und mich können alle nicht leiden, und nicht einmal Gedichte soll ich machen, sagt der Doktor Huber. Mein Herz muss schweigen und ich leide still – denn dieses Mädchen liebt Herrn Daffodil.«

Ich bin in diesem Fasching noch auf viele Redouten gegangen. Auf einer der letzten traf ich eine lustige kleine Colombine, die sich gleich zu mir gesellte, vielleicht weil ich zufällig als Pierrot kostümiert war. Ich tanzte fortwährend mit ihr, aber sie wollte sich durchaus nicht demaskieren.

»Deine Stimme kommt mir so bekannt vor«, sagte ich.

»Ja? Ich habe dich gleich erkannt. Hast du das Hasenmädchen geheiratet?« Plötzlich wurde es mir klar. »Rita!« rief ich, »endlich treffe ich dich einmal wieder.«

An diesem Abend tanzten wir nicht mehr, wir mussten uns zu viel erzählen. Sie hatte ihre Gesichtsmaske abgelegt, war noch schön, aber einige Linien hatten sich eingegraben, die auf Leid deuteten.

Sie sprach von ihrer Kunst. »Ich male jetzt arme Frauen, müde Arbeiter, Kinder aus den Elendsvierteln. Nicht nur malerisch interessieren sie mich, auch menschlich fühle ich mich von ihrem Schicksal ergriffen.«

»Ja, ich habe einige deiner Bilder und Radierungen gesehen. Wirklich ausgezeichnet! Ich verstehe, dass 156 du mit Vorliebe arme Leute malst, sie sitzen ja viel ruhiger Modell als reiche.«

»Ach, nimm mir nicht meine Begeisterung! Ich zweifle so schon viel an mir. Oft denke ich jetzt, das ist alles Unsinn, was ich mache, fühle, wie mir das Leben zerrinnt. Jene Nacht mit dir – ich kann sie nicht vergessen.«

»Du hast dich also immer noch nicht für die Liebe entschieden, sie schliesst doch die Kunst nicht aus.«

»Einmal im März, als es hier regnerisch, neblig und kalt war, bekam ich Verlangen nach Sonne und Süden, fuhr nach Taormina, Tag und Nacht ohne Unterbrechung. Dort kam ich mir vor wie in einem verzauberten Land. Alles blühte und duftete und glänzte. Am ersten Abend traf ich Nino.«

»Wer ist Nino?«

»Er war ein ganz junger italienischer Marineleutnant, fast noch ein Knabe. Wir hatten uns nie zuvor gesehen, nur vielleicht im Traum, es war, als kennen wir uns schon lange. Er lud mich ein, mit ihm aufs Meer zu rudern. Das Boot glitt sanft dahin, und er sang mit schöner Tenorstimme. Alles an Nino war mild und zart. Dann geleitete er mich hinauf zu meinem kleinen Albergo. Wir sassen noch lange als die einzigen Gäste vor dem Haus im Garten mit dem Blick über Felsen und Meer, speisten, tranken ein wenig Wein. Er wagte kaum mich zu berühren, aber er sank vor mir nieder und stammelte, dass er mich liebe und dass ich immer bei ihm sein solle. Ich streichelte sein Haar und küsste ihn auf die Stirn. Er ist dann die Nacht über bei mir geblieben. Es war eine wundervolle Nacht. Am Morgen hat er gefragt, wann wir heiraten werden. Einstweilen haben wir uns mit 157 einem langen, innigen Kuss verabschiedet, weil er zum Dienst auf das Schiff musste, das erst am nächsten Tag spät zurückkommen sollte.

Ich bin noch am selben Mittag abgereist, ohne eine Zeile zu hinterlassen, direkt, ohne Aufenthalt, bis ich wieder in München war. So habe ich mir das Wunder dieses Traums bewahrt.«

»Und Nino?«

»Ist tot. Kurz darauf habe ich in der Zeitung gelesen, dass er dort beim Baden im Meer von einem Haifisch getötet worden ist.«

»So etwas Komisches! Die wahre grosse Liebe, und ein Haifisch frisst sie dir auf.« Ich musste sehr lachen, obgleich ich es zu unterdrücken suchte.

Rita war ein bisschen gekränkt: »Ich habe das Gefühl, als ob ich Nino meiner Kunst geopfert hätte, und ich frage mich manchmal, ob Liebe nicht mehr wert ist als Kunst. Lachen kann ich darüber nicht.«

Wirklich schien ihr das Weinen nahe. Sie tat mir leid. Ich nahm sie auf meine Kniee, umarmte sie, als ob ich ein Kind trösten wollte. Ich spürte, wie sie ganz weich und hingebend wurde, und das berührte mich tief. Wo ist die Grenze zwischen Mitleid und Liebe? Zum ersten Male hatte ich eine warme, grosse Empfindung für Rita, war davon ganz erfüllt.

»Sei nicht traurig, Kindchen, wir beide zusammen, das ist das Glück.«

»Ach, Emmaus«, hauchte sie und küsste mich so heiss, als ob sie mich verschlingen wollte. Zum Teufel! da fiel mir auf einmal der Haifisch ein, und ich platzte los in unbändigem Lachen. Sofort war alles aus. Sie glaubte sich verhöhnt. Ich versuchte vergeblich, sie zurückzuhalten, sie stiess mich kräftig von 158 sich und war fort. Nun tat sie mir noch mehr leid. Ich fühlte mich höchst sonderbar bewegt.

»Aha, das ist Liebe«, dachte ich. »Vorsicht! nicht unter die Haut gehen lassen!«

Ich setzte mich in den Winkel einer stillen Loge, rauchte eine Cigarette, um mein Gleichgewicht wieder zu finden. In der Nebenloge sprachen zwei Männer miteinander, eine Stimme glaubte ich als die des Doktor Huber zu erkennen. Ich lüftete den Abteilungsvorhang ein bisschen, dort sass er in der Tat, mit einem mageren, schwarzhaarigen Mann, der als Stutzer der Direktoirezeit kostümiert war. Nun sprachen sie leiser: »Also, Gagerl, was zu viel ist, ist zuviel. Fünfzehntausend, das kann ich nicht dermachen. Sagen wir die Hälfte!«

»Wenn es zu teuer ist, brauchst du sie ja nicht zu nehmen. Weisst du, ich bin dein Freund und ich rate dir, nimm sie nicht. Sie bleibt dir nicht. Ist keine Frau für dich. Gehabt hast du sie ja eh schon.«

»Und du hättest sie nicht schnell noch heiraten sollen. Hör', Gagerl, und das ist mein letztes Wort: Achttausend und du musst gleich um die Scheidung eingeben, und morgen wird der Vertrag unterschrieben. Ich kann nun mal ohne das Korietterl nicht leben.«

»Na, wenn ich dir einen Gefallen damit tue, Loisl, abgemacht! Und morgen wird protokolliert und gezahlt.«

»Schön, und hier hast du einen Taler als Drangeld, ist bei die Bauern so der Brauch beim Kuhhandel.«

Ich hörte, wie sie sich kräftig die Hand drückten, so kräftig, dass Gagino aufschrie.

»Seid ihr nun endlich fertig mit euerem 159 Schmarren?« tönte die schrille Stimme Coriettas. »Nun komm, Gago, jetzt wollen wir zum letzten Mal miteinander tanzen.«

Ich verliess die Loge, um das zu sehen. Die Tänzerin war in einem leichten Empirekostüm, halbnackt. Es bildete sich bald ein Zuschauerkreis um die beiden, der ehrfürchtig flüsterte: »Corietta und Gagino.« Und sie tanzten fabelhaft, wenn auch etwas akrobatisch, so doch wirklich schön und mit hinreissendem Schwung.

Riesiger Applaus folgte, besonders von Doktor Hubers kräftigen Händen. Ich hörte, wie er murmelte: »Ist ja halb geschenkt.«

Drüben, an eine Säule gelehnt, sah ich Rita stehen. Sie hatte ihre Maske wieder aufgesetzt, darunter waren in dem weissen Gesichtspuder zwei senkrechte dunklere Streifen, wohl von Tränen. Das rührte mich. Sie war nicht allein, ein grosser Matrose hatte sie unter den Arm gefasst und sprach eindringlich mit ihr, sie hörte aber offenbar nicht zu. Ich ging hin.

In der Nähe bemerkte ich, dass der Matrose eine Frau war, starkbusig aber mit schmalen Hüften. Ich vernahm ihre tiefe Stimme: »Ich habe es dir ja immer gesagt, die Männer sind für die Liebe total ungeeignet.« Dann tanzten die beiden miteinander, und ich wollte heimgehen. Wie ich noch in der Garderobe war, kam Rita aus dem Saal, von der Matrosin fast mit Gewalt zurückgehalten, die in ihren Bemühungen von zwei anderen weiblichen Masken unterstützt wurde, eine als Bäckerbursche kostümiert, eine als Ritter, mit aufgeklebtem Schnurrbart. »Nein, du darfst jetzt noch nicht fort. Wir können dich so nicht dir selbst überlassen, wäre unverantwortlich.«

»Lasst mich doch allein, das ist das Beste für mich.« 160

»Einsamkeit kann gut sein, es kommt nur darauf an, ohne wen man ist. Du bleibst jetzt da und übernachtest heute bei mir.«

»Pfui Teufel! Nur das nicht!« rief Rita unwillkürlich. Wie Furien stürzten sich die drei Weiber auf sie, schimpften sie: »Mannstolles Frauenzimmer, Hündin.« Der Matrose riss sie an den Haaren, der Ritter zog seinen Blechdegen. Rita taumelte, weinte noch mehr. Ich trat herzu, bot ihr den Arm, sagte lächelnd: »Die Herren scheinen nicht zu wissen, wie sie sich einer Dame gegenüber zu benehmen haben.« Die Angreifer, geschmeichelt dass man sie für Männer hielt, verstummten, zogen sich zurück.

Im Wagen – Georgenstrasse 142 B hatte ich dem Kutscher zugerufen – fragte ich Rita: »Was waren das für Weiber?«

»Ich habe sie im Verein für soziale Fürsorge kennen gelernt, sie sind im Vorstand, waren bisher immer sehr nett zu mir. Oh, Emmaus, ich bin dir so dankbar. Nichtwahr, du lachst mich deshalb nicht wieder aus?«

»Nein, ich nehme dich sehr ernst. Ich fürchte, ich liebe dich ein bisschen, und das willst du ja nicht haben.«

»Doch! Ich will es und ich will leben.«

In der Nacht hat Rita in meinen Armen von Taormina geträumt, flüsterte »Nino« und küsste mich mit halbgeöffnetem Mund. Als ich am Morgen aufwachte, war sie nicht mehr neben mir.

Ich fand sie im Atelier, unbekleidet stand sie ganz versunken in den Anblick meines Hinrichtungs-Bildes. Nie hatte ich etwas Schöneres gesehen als diesen zierlichen Körper. 161

»Du wirst dich erkälten«, sagte ich, hob sie auf und trug sie in's Bett zurück. Dann lagen unsere Gesichter einander zugewandt auf dem Kopfkissen, ganz nahe, und ich liess meine Augen durch ihre Züge wandern wie durch eine liebliche Landschaft.

»Du hast Fortschritte gemacht«, sagte sie.

»Du auch.«

»Ich meine das Bild! Ich halte es für wirklich bedeutend. Nie werde ich so frei schaffen können, bleibe immer von den kleinen Zufälligkeiten der Natur abhängig. Deinen ganzen Abscheu vor der Ehe hast du darin ausgedrückt. Vernichtend aber grossartig.«

»Wann werden wir heiraten?«

»Ist das ein Citat oder ein Vorschlag, Emmaus?«

»Kein Vorschlag, ein Ultimatum.«

Wir kleideten uns an. »Zu dumm, kein Kleid, keine Toilettesachen habe ich da! Kann ich deine Zahnbürste benutzen, Emmaus?«

»Ja, und ich nach dir. Das ist die wirkliche Liebe, wenn es einen nicht vor einer gemeinsamen Zahnbürste graust.«

Dann sassen wir beim Frühstück, sie hatte den Mantel über ihrem Kolombinenkostüm an. Ich sagte: »Also, wann heiraten wir?«

»Immer.«

»Wieso immer? Heisst das nein?«

»Wir haben ja heute geheiratet und so soll es ewig sein. Alle die greulichen Formalitäten so einer Hinrichtung! Und dann würde meine Familie mir verzeihen, und du hättest Schwiegereltern und Schwägerinnen. Ich möchte dich nicht als Onkel sehen. Und wir würden alt zusammen werden und Gewohnheitstiere. 162 Der Wein schmeckt längst nicht mehr, und man bleibt bei den leeren Flaschen sitzen.«

»Rita, freie Liebe ist etwas furchtbar Spiessiges. Denke an Quartaller!«

Ich erzählte ihr von seinem Inserat.

Es klopfte an der Tür. »Wer ist da?«

»Quartaller.« Ich zögerte.

»Lass ihn ruhig hereinkommen«, meinte Rita.

»Ah, Sie haben Besuch, Herr Emmaus. – Störe vielleicht? Wollte schon lange mal Ihr Atelier sehen.«

»Freut mich. Wir sind gerade erst von der Redoute heimgekommen. Rita, das ist der Herr Meteor-Quartaller, das ist Rita Kläusgen. Sie hätten längst Arbeiten von ihr abbilden sollen, die soziale Note fehlt bisher im Meteor.«

»Das will ich sehr gern, ich bin schon immer ein Bewunderer ihrer Kunst. Aber was haben Sie da für ein fabelhaftes Bild!« Er betrachtete es lange. »Da tut es mir fast leid, dass ich nicht mehr Kunsthändler bin. Darf ich es im Meteor reproduzieren, ja? Wie heisst es? Hinrichtung eines Junggesellen? Oder wohl einfach Die Ehe? Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie so satirisch veranlagt sind.«

»Der Teufel soll alle Satire holen, ich bin nur Maler.«

»Können Sie mir nicht jede Woche eine farbige Zeichnung in der Art wie dieses Gemälde machen? Es gibt noch so viele ungehobene Schätze.«

»Vielleicht, aber erst möchten Sie doch Werke von Fräulein Kläusgen bringen.«

Wir fuhren in Ritas Atelier, es war immer noch in jenem Gartengebäude. Quartaller erwarb dort das Reproduktionsrecht einer Reihe von Zeichnungen, die 163 er sich so aussuchte, dass er sie zu einem Cyklus: »Die Ärmsten« verwenden konnte. Er bat um die Erlaubnis, unter jede ein entsprechendes Gedicht setzen zu dürfen, der Lyriker Eugen Lomohl würde sicher den richtigen Ton finden. 164

 


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