Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Schloss Glespelbrunn

Die EquipageAutos gab es damals noch nicht – war telegraphisch verständigt und erwartete uns an der Bahn, es war ein langer Weg. An einer Strassenbiegung stiegen wir aus, liessen den Wagen vorausfahren, um das letzte Stück des Weges zu Fuss zu gehen. Wir sahen ins Tal hinab. Da lag das Märchenschloss. Ein kleiner See, dunkel von der Spiegelung des hochaufsteigenden Waldes, langhalsige Schwäne zogen träumerisch ihre Bahn. Am Ende des Sees eine Insel. Dort ragten die Mauern des altertümlichen Schlosses unmittelbar vom Wasser auf, mit mächtigen Warttürmen. Das dunkle Rot des Sandsteinbaues hob sich feierlich ab vom schweren Blaugrün der Tannen. Über den Bergwald dämmerte der Morgen herauf. Leichte Nebel entschwebten dem Wasser. Weihevolle Stille, wie verzaubert. Sonderbare Rührung ergriff mich bei diesem wundervollen Anblick, Tränen waren mir nahe. Ich hätte andächtig niederknieen können. Deshalb sagte ich: »Na, jetzt wird uns aber das Frühstück schmecken!« Dem Grafen gab es einen Ruck, er antwortete nichts.

Wir wanderten um den See. Auf der Rückseite des Schlosses war die Insel nicht weit vom Ufer entfernt. Eine alte Zugbrücke führte hinüber. Der Graf wurde 49 wieder mitteilsam: »Durch Jahrhunderte war unsere Burg uneinnehmbar. Erst zu meiner Zeit ist es einem Gerichtsvollzieher gelungen, einzudringen. Deshalb habe ich einen grossen Teil des Grundbesitzes verkauft oder verpachtet, nur dieses Gebäude und die nächste Umgebung für mich behalten. Es ist sehr für sicheren Aufenthalt geeignet. Ein alter Freund von mir hat sich jetzt auch dorthin geflüchtet. Ist eine merkwürdige Sache mit ihm, erzähle es dir später.«

Wir schritten über die Brücke, durch das offene Portal, traten in einen grossen, kühlen, düsteren Vorraum. Im Kamin brannte ein Holzfeuer trotz des Sommertages. Der Diener meldete, dass er unser Gepäck schon hinaufgebracht habe. Sonst war kein Mensch zu sehen. Er führte uns über die Steintreppe in den oberen Stock zu unseren Zimmern. Aus einer Tür schaute ein Kopf heraus. Der Diener sagte: »Schlafen Sie ruhig weiter, Herr Kommissionsrat, es sind keine Neger.« Die Tür schloss sich wieder. Wir legten uns schlafen. Ich erwachte sehr spät und bekam das Frühstück ins Zimmer gebracht.

Unten in der Halle traf ich den Grafen im Gespräch mit einem auffallend hässlichen Herrn, breite aufgeworfene Lippen, der runde Schädel mit kurzem semmelblondem Wollhaar bedeckt.

»Das ist der junge vielversprechende Maler Emmaus und das ist Herr Kommissionsrat Quartaller, unser führender Kunsthändler. Die Bekanntschaft kann beiderseitig sehr wertvoll sein. Beide meine lieben Gäste. Ich hoffe, dass es hier einigermassen erträglich ist.«

Wieder mit dem Grafen allein, fragte ich ihn über Quartaller. »Das war ja sein Kopf, der, als wir 50 ankamen, so ängstlich aus der Tür geschaut hatte und der vom Diener beruhigt worden war, dass wir keine Neger seien.«

»Er ist hier, weil er sich in der Burg am sichersten fühlt«, erzählte der Graf, »er glaubt, dass ihm Neger nach dem Leben trachten. Ich hielt das natürlich für eine Verfolgungsidee. Tatsächlich haben aber einige Male Neger heimlich nach ihm gefragt. Da hat Nachforschung ergeben, dass seine Angst doch einen realen Grund hat.« Der Inhalt der Erzählung war: Quartaller hat ein Riesenvermögen in Amerika erworben, auf sonderbare Art. Eines Tages hatte er bemerkt, dass er wie ein blonder Nigger aussehe und kam auf die Idee, das auszunutzen. Er liess sich in einer chemischen Fabrik ungeheuere Quantitäten einer bitter schmeckenden, grünlich schillernden, leicht abführenden Flüssigkeit herstellen, in eigentümlich geformte, bunt etikettierte Fläschchen verpacken, liess eine Menge Broschüren und Reklamen drucken. Dazu viermal seinen Kopf, in kolorierter Photographie, zuerst schwarz geschminkt, täuschend einem Neger gleich, dann etwas heller, dann noch heller, dann wie er in Wirklichkeit aussieht. Darunter stand: »So sah ich aus – so sah ich nach einem halben Jahr aus – so sah ich nach einem Jahr aus – so sah ich nach eineinhalb Jahren aus. – In jahrelangem Studium an den grössten Universitäten der Welt hat Professor Morton Davis, ein farbiger Gentleman, entdeckt, wie man ein Weisser werden kann. Antinegrin heisst seine epochale Erfindung. Er stellt sie seinen dunkelhäutigen Mitmenschen zur Verfügung. Besuchen Sie ihn in seinem Laboratorium Harlem-River-Street 46.« – Diese Vorräte nahm er mit nach Amerika, nannte sich dort 51 Professor Morton Davis. In dem New Yorker Negerviertel waren bald alle Mauern mit seinen Plakaten bedeckt, in den Negerkirchen wurde, gegen entsprechende Bezahlung, von den Kanzeln herab auf ihn aufmerksam gemacht, die Zeitungen brachten seitengrosse Inserate und verkündeten seinen Ruhm in spaltenlangen, ernsten Aufsätzen. Der Zulauf war riesig. In dichten Scharen drängten sich die Schwarzen in seine Räume. Jeder wollte ihn sehen, ihn sprechen, einige Flaschen des teueren Antinegrins kaufen. Er musste telegraphisch neue Vorräte bestellen und immer neue. Jeden Käufer machte er darauf aufmerksam, dass erst nach halbjährigem Gebrauch des Mittels die Wirkung einzutreten beginne. Viele arme Neger opferten ihre letzten Dollar, reiche legten sich grosse Vorräte zu. In Negerkreisen sprach man von nichts anderem.

Kurz vor Ablauf des halben Jahres war Professor Morton Davis verschwunden, tauchte wieder als Herr Quartaller in der Heimat auf, mit einigen Millionen Dollar Vermögen. Die Neger fühlten sich nicht nur beschwindelt sondern auch verhöhnt und, wenn sie ihn erwischt hätten, wäre es ihm nicht gut ergangen. Einstweilen nahm er seinen früheren Beruf als Kunsthändler wieder auf, das grosse Betriebskapital machte seine Geschäfte ungemein erfolgreich, auch Kommissionsrat wurde er. Unvorsichtigerweise liess er sich durch bedeutende Ankäufe einer amerikanischen Sammlung nach New York locken. Dort wurde er von einem der Hereingefallenen erkannt und musste schnell nach Europa zurück flüchten.

Seitdem fürchtet er sich. Der Graf fügte noch hinzu, dass Quartaller das Prinzip des Antinegrins auch im 52 Kunsthandel eingeführt habe, ich solle es mir einmal von ihm erklären lassen.

Der Graf führte mich durch die sonderbar verwinkelten Räume des Schlosses, viele Jahrhunderte hatten daran gebaut und geändert. In gewölbten Gängen hingen dunkle Ahnenbilder. Am Ende einer düsteren, schmalen Treppe eine eiserne Tür zu einer niedrigen Kammer mit kleinem, schwer vergittertem Fenster. »Hier hat sich eine Tragödie abgespielt, als meine Uhrahnin den Uhrahnen betrog. Der ist aus den Kreuzzügen zurückgekommen, und die Sache mit dem jungen Minnesänger hat ihm nicht gefallen. So hat er ihn in dieses Verliess gebracht. Siebenundzwanzig Jahre schmachtete der Gefangene darin. Dann ist er eines Tages auf die Idee gekommen, ob er die Tür nicht öffnen könne. Sie war nicht verschlossen und er ist herausspaziert. Der Ritter hat gerade mit seiner inzwischen alt und dick gewordenen Gattin beim Abendschoppen gesessen, als der Minnesänger erschienen ist. Die beiden haben unbändig gelacht. ›Endlich hast du doch einmal bemerkt, dass das Schloss gar nicht zugesperrt war, nie.‹ Da erst hat den Minnesänger die Verzweiflung gepackt, er hat um eine Laute gebeten, hat sein letztes Lied gesungen und sich dann vom Turm in die Tiefe gestürzt. Sein Geist geht noch manchmal um. Keine zwei Töne singt er richtig. Ich würde ihn besser eingesperrt haben.« Er sah mich durchdringend an und wiederholte: »Ich würde ihn besser eingesperrt haben.« Ich sagte ihm, dass ich schrecklich gern einmal den Geist sehen möchte, aber er konnte mir nichts versprechen, oft habe man ihn jahrelang nicht bemerkt.

Indem war es mir, als sehe ich im Halbdunkel am 53 fernen Ende eines Kreuzgewölbes eine weisse Gestalt lautlos dahingleiten und in einer Tür verschwinden. »Da!« stiess ich hervor. Er drehte sich nach dem Ziel meines Blickes um. »Ach, das war wohl die Pflegerin meiner Frau.« – »Was, du bist verheiratet, Graf?« »Natürlich, alle besseren Grafen sind doch verheiratet«, lachte er. Dann wieder ernst: »Die Arme ist immer leidend, seelische Depressionen. Das bekommen Frauen so leicht, besonders wenn sie idealistisch und romantisch veranlagt sind. Romantik ist ungestillte Sehnsucht. Meine Gegenwart enttäuscht sie immer wieder. Wenn wir getrennt sind, schreiben wir uns sentimentale Briefe. Vielleicht hat sie immer mehr das Schloss Glespelbrunn geliebt als mich. Wenn sie die Schwäne auf dem See dahinziehen sah, schwärmte sie von Lohengrin. Im Anfang unserer Ehe wollte ich ihr einmal zu ihrem Geburtstag eine Freude machen. Ich verschaffte mir ein Lohengrinkostüm, um in einem Nachen stehend, von einem Schwan gezogen, bei ihr zu erscheinen. Versuche hatten gezeigt, dass kein Schwan ein Boot ziehen kann. Ich musste daher einen Burschen zum Rudern mit hinein nehmen. Alles ging gut. Der Schwan hatte ein breites hellblaues Band um den Hals, an dem er das Boot zog. Ich stand aufrecht darin. Es war sehr stimmungsvoll. Der Ruderbursche hatte leider den Sinn der Unternehmung nicht begriffen, bekam, als ich ins Horn blies, auf einmal die Idee, es ginge zu langsam, legte sich kräftig ins Zeug. Schnell hatte er den armen Schwan überholt, der wurde jämmerlich an seinem Band nachgeschleift, wäre beinahe ertrunken, schlug wild mit den Flügeln um sich, brachte das Boot zum Kentern. Im Wasser attackierte er mich wütend. Ich 54 konnte mich gerade noch, tropfnass, ans Land in Elsas Arme retten. Ich fand das sehr lustig, aber sie war tief enttäuscht und gekränkt, liess sich eine Woche lang nicht blicken. Es hat mir allen Nimbus bei ihr zerstört, auf immer.«

Beim Mittagsmahl war zwar für die Gräfin gedeckt, sie erschien jedoch nicht. Gegen Abend reiste der Graf ab, sagte, ich solle es mir gemütlich machen, bleiben so lange ich wolle, die Sache in Düsseldorf werde er schon ordnen. Wenn ich etwas brauche, stehe er stets zur Verfügung, einstweilen werde er mir Malutensilien schicken, damit ich die Kunst nicht vernachlässige.

Ich schrieb an Onkel Nevermind, berichtete allerdings das Meiste nicht wahrheitsgemäss. Meine aristokratische Bekanntschaft hat ihm sehr imponiert. Nur mit Mühe konnte ich ihn von seiner Absicht abbringen, mich auf Glespelbrunn zu besuchen.

 

Am Abend spielte ich mit Herrn Quartaller eine Partie Billard. Dann sassen wir bei Whisky und Soda vor dem Kamin zusammen. Er riet mir sehr dazu, mein Studium in München fortzusetzen – zu jener Zeit bedeutete diese Stadt noch etwas in der Kunst. Er werde mir später gern nützlich sein, Welterfolg hänge heutzutage nur vom Kunsthändler ab. »Bilder sind eine Ware« setzte er mir auseinander, »allerdings keine Ware wie Getreide oder Petroleum oder Tuch, Dinge, die wirklich gebraucht werden, Kunstwerke haben nur eingebildeten Wert, ähnlich wie beim Briefmarkengeschäft, aber mit einem grossen Unterschied: Eine Briefmarke wird hoch bezahlt, wenn sie nur in wenigen Exemplaren existiert, selten ist. Ein 55 Maler muss sehr viel produzieren, damit seine Bilder teuer werden, einen Marktwert bekommen. Wenn nur zwei Sammler einen Emmaus haben, ist er billig. Wenn aber zweihundert Sammler einen haben, wollen die übrigen Tausende auch einen besitzen, um jeden Preis, und dann muss der Maler Emmaus eben tausende malen und bekommt viel Geld. Das Rentabelste ist, eine Gruppe junger, armer Maler zu einer neuen Kunstrichtung zu veranlassen, ihre Arbeiten zu billigem Preis einzulagern und dann in grosser Aufmachung auf den Markt zu werfen. Gern entdeckt man auch alte Meister, von denen die Kunstgeschichte noch nichts weiss, kauft Alles von ihnen auf, was zu haben ist, natürlich für ein Nichts. Dann lässt man von den berühmtesten Kunsthistorikern Monographieen über sie schreiben, leiht Bilder von ihnen an staatliche Museen aus, gibt andere auf Auktionen, wo sie, mit einiger Hilfe, sensationelle Preise erzielen. So entstehen neue Werte – aus nichts erschaffen – ein Wunder.« – Gefiel mir sehr gut, und am liebsten wäre ich gleich Kunsthändler geworden. Doch schliesslich, was der Maler macht, ist noch ein grösseres Wunder: Mit ein bischen Leinwand und Farben Leben hervorzaubern, seine private Welt. Das wollte ich lieber zuerst versuchen.

 

Einstweilen blieb ich noch in Glespelbrunn. Mittags erschien die Gräfin. Nach den Worten des Grafen hatte ich sie mir zart und träumerisch vorgestellt, aber sie war ungewöhnlich gross, sah fast aus wie ein schlanker Jüngling, obgleich sie nicht mehr recht jung war. Die Haare trug sie, damals eine Seltenheit, ziemlich kurz. Auch von der Gemütsdepression war 56 nichts zu bemerken, sie schritt daher wie ein Festzug. Ein Page hätte besser zu ihr gepasst, als die Pflegerin, von der sie immer begleitet wurde, die auch beim Essen neben ihr sass und ihre Diät beaufsichtigte. Herrn Quartaller schien die Gräfin nicht leiden zu können, beachtete ihn kaum, und er gab sich offenbar auch keine Mühe, ihr zu gefallen. Auf mich machte sie einen tiefen Eindruck, und ihre dunkle, weiche Stimme ergriff mich so stark, dass ich zuerst rot und verlegen wurde, als sie sie an mich richtete. Sie interessierte sich sehr für Kunst, verstand leider viel mehr davon als ich. Als sie hörte, dass ich einige Landschaftsstudien machen wollte, erbot sie sich, mir die schönsten Stellen zu zeigen, vielleicht würde ich einmal mit ihr ausreiten, fragte, ob ich gern reite. Glücklicherweise war ich daheim manchmal mit Lord Nevermind ausgeritten. Ich erzählte ihr von ihm. Sie schwärmte von England, sagte, sie würde am liebsten dort wohnen, um an der Bewegung für das Frauenstimmrecht teilzunehmen, die dort stürmisch ins Leben getreten war.

»Und warum tun Sie das nicht?«, fragte ich. Sie beugte sich zu mir und flüsterte:

»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.«

Später nahm mich die Pflegerin beiseite und warnte mich, wenn ich mit der Gräfin ausreite oder spazieren gehe, solle ich sehr Obacht geben, sie leide an krankhafter Selbstmordmanie, dürfe keinen Augenblick allein gelassen werden.

Aber als ich sie am nächsten Tag bei ihrem Spazierritt begleiten konnte, sah sie gar nicht nach Lebensüberdruss aus. – In ihrem Reitdress fand ich sie noch bewundernswerter. 57

»Es muss doch langweilig sein, immer die Pflegerin um sich zu haben.« »Ja, ich bin hier wie eine Gefangene. Früher einmal habe ich einen Anfall von Verzweiflung gehabt, wurde zu Nervenärzten geschleppt, seitdem ist meine Freiheit dahin. Eine Frau ist in diesem Lande ja nur eine Sache.«

»Ihr Herr Gemahl hat mir die Geschichte von dem Minnesänger erzählt. Sie kennen sie ja gewiss. Vielleicht geht es Ihnen auch so, dass Sie nur die Tür zu öffnen brauchen.«

»Ja, der arme Minnesänger! Meine Pflegerin behauptet, sein Geist sei ihr schon zweimal begegnet, er sei Laute spielend und leise singend durch den Gang geschwebt und dann in seinem Gefängnis verschwunden. Sie war ausser sich vor Schreck. Um sie zu beruhigen habe ich ein Sicherheitsschloss dort anbringen lassen und den Schlüssel an mich genommen.«

Wir ritten morgens durch den Wald an einen Bach, stiegen von den Pferden, lagerten uns ins moosige Gras unter einem Baum. »So ein herrlicher Sommertag hat mich immer ein wenig traurig gemacht«, sagte sie, »ich hatte stets das Gefühl, er vergeht, ohne dass ich etwas damit angefangen habe. Heute aber bin ich froh.«

»Ja, gnädige Frau, alles Schöne gibt uns eine Sehnsucht und den Wunsch, dass etwas damit geschehe und dass es ewig bleibe«.

»Und doch, mein Lieber, ist alles auf dieser Welt nur einmalig. Kein Augenblick kehrt genau so wieder, nie, nie. Das bedrückt mich oft. Morgen schon ist diese gelbe Blume hier verwelkt, die Forelle da im Bach ist schon im nächsten Augenblick verschwunden und wir werden nie wieder genau so im Gras liegen, 58 nie wieder über uns zwischen den Ästen dieselben Sommerwolken ziehen sehen.« Sie blickte mit grossen Augen starr vor sich hin.

Dann hatten wir uns auf einmal umschlungen und küssten uns, alles um uns vergessend. Wie zur Entschuldigung stammelte ich nachher: »Sie sind so schön, ein Wunder.«

Ihre geschlossenen Lider zitterten. Nach einer Weile hauchte sie: »Nein ewig – ewig.«

Wir schauten uns, ohne etwas zu sagen, lange in die Augen, drückten uns die Hände. Merkwürdig fühlte sich ihre lange, schmale Hand an, wie Lindenholz, hart und samtig. Als Knabe einmal, in einem gotischen Dom, ich glaube es war in Naumburg, hatte ich die holzgeschnitzte Gestalt der heiligen Roswitha gesehen. Ich weiss nicht, was mich bewegt hat, ihre Hand zu ergreifen. Sie brach ab und ich nahm sie an mich, trieb lange Zeit einen heimlichen Kultus damit. Die Hand der Gräfin glich ihr genau. Ich sprach davon. »Darf ich Sie Roswitha nennen?« »Ja, aber ich bin keine Heilige, musst du wissen.« Dann ritten wir heim.

In Glespelbrunn war inzwischen ein Postpaket mit Malsachen für mich angekommen. Gleich am Nachmittag wollte ich mich an einer Landschaftsstudie versuchen. Vorsichtigerweise wählte ich zuerst ein sehr einfaches Motiv: einen Weidenbaum am See.

Nie zuvor hatte ich empfunden, wie schön es ist, wenn das Licht über die Blätter rieselt und bläuliche Schatten sich im Wasser spiegeln. Diese Schönheit rührte mich tief, ich fühlte eine Art verliebtes Glück. als ich sie in mich aufnahm. Und merkwürdigerweise gelang es mir, etwas von diesem Gefühl 59 wiederzugeben, wenn auch nur skizzenhaft. Ich malte, solange es hell genug war. Wie im Traum packte ich meine Geräte zusammen. Da stand Quartaller neben mir. Sofort war meine Stimmung verflogen. »Bravo, junger Freund! Sie sind auf dem besten Wege. Ich möchte Ihre Richtung als primitiven Impressionismus bezeichnen. Damit können wir viel machen.« Er liess es sich nicht nehmen, mir die Feldstaffelei zu tragen, als wir nachhaus gingen. »Na, wie war der Ritt heute früh?«, fragte er, ein Auge zukneifend. »Nehmen Sie sich ein bischen in Acht mit der Gräfin, ist eine verrückte Schraube, hält jeden Tag für verloren, an dem sie keinen Versuch gemacht hat, sich umzubringen. Verstehe das nicht, Selbstmord ist doch kein Lebenszweck. Der Graf tut mir leid. Er sollte sie nicht daran hindern.« Ich war wütend, hätte Quartaller am liebsten niedergeboxt. Aber er konnte mir noch viel nützen. So sagte ich nur: »Ich halte die Gräfin für ganz vernünftig.«

 

Am Abend wollte ich von der Plattform des Wartturms aus sehen, wie der Mond über den See scheint, und stieg die enge Wendeltreppe hinauf. Oben fand ich die Gräfin, weit über die Brüstung geneigt, hinunterschauend. Sie fuhr zusammen, als ich sie begrüsste. Schon kam die Pflegerin atemlos die Stiege heraufgestürmt: »Ach, Sie sind bei ihr, Herr Emmaus. Dann ist es gut.« Und sie ging beruhigt und langsam wieder hinunter, indem sie mit warnendem Finger auf die Gräfin deutete. Die hatte ihr den Rücken zugekehrt.

»Siehst du, nicht einmal den wundervollen Mondschein kann ich allein geniessen.« 60

»Ach, störe ich Sie, Roswitha?«

»Nein, du Dummer, dich meinte ich nicht. Es ist so gut, mit dir zusammen hier zu sein.«

Eng nebeneinander blickten wir hinaus. Vom anderen Ufer des Sees hörte man eine Ziehharmonika, Stimmen von Bauernburschen, Lachen eines Mädchens. »Alle sind glücklich«, sagte sie. »Jeder kann glücklich sein, wenn er will, auch wir, Roswitha.«

Sie bebte wie im Schüttelfrost.

»Es ist Ihnen zu kühl hier oben, gehen wir hinunter.«

»Ja, gehen wir!«

Aber ich musste sie fast tragen, leise, die Stufen hinunter. So kamen wir an die Zimmertür, und es geschah wie von selbst dass wir eintraten.

Eine, zwei Stunden mochten vergangen sein, als sie aufschreckte: »Die Pflegerin wird mich suchen. Sie darf nicht sehen, dass ich hier war. Schau hinaus, ob sie nicht gerade draussen ist.«

»Ja, ich ziehe mich schnell an.«

»Nein, Emmaus, bleib wie du bist.«

»Unmöglich so im Negligée«.

»Doch, mein Lieber, ich habe eine glänzende Idee«, lachte sie fröhlich, schüttelte sich vor Lachen. Sie sprang aus dem Bett, so frisch und lebhaft, wie ich sie noch nicht gesehen hatte, schloss einen altertümlichen Schrank auf, suchte ein wenig und nahm eine Laute heraus. »Jetzt kostümiere ich dich auf Mittelalter, man hatte damals lange enge Trikothosen, glücklicherweise trägst du solche, obgleich diese Unterkleidung nicht mehr recht modern ist. Darüber ein Wams, das durch einen Gürtel zusammengehalten wurde.« Sie nahm den weissen Gürtel ihres Kleides 61 vom Stuhl, befestigte ihn um meine Taille, so dass das Hemd faltig gerafft war. Auf den Kopf stülpte sie mir einen Schwammbeutel, zierte ihn mit der ausgerissenen Schwanzfeder eines Adlers, der als Jagdtrophäe auf dem Schrank stand. Den ganzen Inhalt ihrer Puderdose verschwendete sie auf mein Gesicht. Die spitzigen Hausschuhe und die Laute rieb sie mit Zahnpulver ein. Nun war ich ganz weiss in weiss.

»Ausgezeichnet! Du bist wirklich der Geist des Minnesängers, könnte nicht echter sein. Wenn sie dich sieht, wird sie sich in den entferntesten Winkel verkriechen. Gehe hinaus mit schwebendem Gang, klimpere und singe ein bischen vor dich hin.«

Die Komödie machte mir Spass. Draussen war nichts von der Pflegerin zu sehen. Ich schwebte weiter, mit leisen Tönen, treppauf und treppab. Plötzlich sah ich vom Ende eines langen Korridors her, in dem düster einige Lampen brannten, eine weisse Gestalt auf mich zukommen, meinte zuerst, es sei die Pflegerin, erschrak tödlich, als ich erkannte, dass es der Geist des Minnesängers war. Die Füsse schlotterten mir, am liebsten wäre ich davongelaufen. Aber ich liess mir die Angst nicht unter die Haut gehen, wer weiss, wann ich wieder Gelegenheit haben würde, ein wirkliches Gespenst zu sehen. Ich setzte meinen Weg fort, singend und klimpernd. Ebenso kam mir der Geist entgegen: Kalter Schweiss lief mir den Rücken herunter.

Am Ende des Ganges stand ich dann vor dem grossen Spiegel, der ihn abschloss. Ich hatte mich selbst gesehen, kam mir sehr lächerlich vor, aber ich hatte ja nicht wissen können, dass ich so täuschend aussah. Indem hörte ich einen Todesschrei hinter mir. 62 drehte mich um, die Pflegerin lag ohnmächtig am Boden. Ich lief, jetzt ohne Musikbegleitung, zur Gräfin zurück, berichtete ihr von der fatalen Wirkung. Sie lachte ausgelassen: »So, jetzt werden wir sie los. Komm!«

Wir fanden die Arme noch immer bewusstlos, hoben sie auf und trugen sie fort, ich meinte in das Schlafgemach der Gräfin. Aber nein, sie steuerte auf die Gefängniskammer zu und ich gehorchte. Sie nahm den Schlüssel aus ihrem Täschchen, sperrte auf. Wir liessen die Pflegerin in dem Raum zu Boden gleiten, schlossen die Tür wieder zu und entfernten uns. Ein Freudentaumel berauschte die Gräfin »Nun bin ich frei!« Sie lachte wie ein vergnügter Teufel, fasste mich und wirbelte mit mir dahin, bis sie in ihrem Gemach verschwand. Ich hörte sie immer noch lachen, als ich zurück ging. In meinem Zimmer setzte ich mich nachdenklich, doch erfüllt von nie gekanntem Glücksgefühl, auf den Rand des Bettes und schlief ein.

Ich muss lange geschlafen haben, als ich aufwachte, dämmerte schon der Morgen. Allmählich erst erinnerte ich mich an das Erlebnis dieser Nacht. Furchtbare Angst befiel mich. Was mochte der Pflegerin zugestossen sein? Vielleicht war sie tot und ich dann schon zweifacher Mörder. Sie musste sofort befreit werden. Ich sprang auf, um zur Gräfin zu eilen. Atemlos an ihrer Tür angekommen, hörte ich ein sonderbares, rasselndes Geräusch hervordringen. Ich klopfte, es wurde nicht geantwortet, versuchte zu öffnen, es war abgeschlossen. Da erinnerte ich mich, dass vor ihren Fenstern eine Art Wehrgang war, zu einem Balkon umgebaut, auf den eine Tür vom Zimmer 63 hinausführte. Aus einem Treppenfenster hinauskletternd erreichte ich ihn. Die Tür dort stand offen. Ich lief hin, hörte immer noch das furchtbare Rasseln, sah ins Zimmer.

Die Gräfin lag tief schlafend im Bett, mit glücklichem Lächeln. Neben ihr im Bett erblickte ich den laut schnarchenden Herrn Quartaller.

Es war mir, als habe mich ein schwerer Hammer auf den Kopf geschlagen, ich rang nach Luft, alles drehte sich um mich.

Wieder bei Besinnung, sagte ich mir: »Vor allem keine Aufregung, Gentleman bleiben! Aber so eine Gemeinheit gegen den Grafen hätte ich Quartaller nicht zugetraut.« Dieser unappetitliche Mensch und Roswitha! Ich erinnerte mich an eine Lilie, die ich in der Stadt einmal im Unrat einer Aschentonne liegen gesehen hatte, verspürte eine Art körperliches Weh oberhalb des Magens, stellte fest: Seelenschmerz ist ein sehr unangenehmes Gefühl.

Ach so, die eingesperrte Pflegerin hatte ich ganz vergessen. Ich schlich davon, kletterte wieder zurück zur Treppe und ging, so schnell es mir meine zitternden Füsse erlaubten, zu jener Kammer hin. Der Schlüssel steckte im Schloss, ja, wir hatten ihn nicht abgezogen, aber zugesperrt hatten wir. Und die Tür stand halb offen. Was war das? Ich schaute hinein. Die Kammer war leer.

Ein gewaltiger Stoss traf mich von hinten wie der Luftdruck, wenn Sturm einen Fensterflügel aufreisst, drückte mich in den Raum, warf die Tür hinter mir zu. Ich wollte wieder hinaus, sie liess sich nicht öffnen, ich glaubte zu hören, wie der Schlüssel umgedreht wurde, glaubte leises Singen und Lautenspielen 64 zu hören, das sich entfernte, vielleicht nur eine Vorspiegelung meiner erregten Sinne. Alles Rütteln am Türschloss half nichts, auch nicht mein Klopfen und Rufen. Ich versuchte es wieder und wieder. Allmählich wurde ich ruhiger. Traurigkeit senkte sich auf mich herab in dem modrigen Dämmer. Ich setzte mich auf einen Steinvorsprung unterhalb des vergitterten Fensterchens, stützte den Kopf in die Hände und dachte lange Zeit über alles nach. Jetzt mochte ich nicht länger in Glespelbrunn bleiben. Am liebsten wäre ich noch am gleichen Tag abgereist, nach München, wollte Roswitha nie wieder sehen. Aber vielleicht würde ich auch siebenundzwanzig Jahre in diesem Gefängnis sitzen müssen wie der Minnesänger. Merkwürdig, wie sich das Geschehen wiederholt! Und der hatte nur gemeint, dass er eingesperrt sei. Das sollte mir nicht passieren. Ich versuchte noch einmal die Tür zu öffnen und, siehe da, es gelang. Tief aufatmend schritt ich heraus, fand, dass man seit den Kreuzzügen doch einige Fortschritte gemacht hatte. In meinem Zimmer beseitigte ich die Spuren des gespenstischen Abenteuers. Dann packte ich meine Sachen zur Abreise.

Ich hielt es für meine Pflicht, dem Grafen eine Warnung zukommen zu lassen, schrieb einen anonymen Brief, mit verstellter Handschrift, so als ob er von einer Dienstperson käme:

Hochwohlgeboren Herr Graf Glespel auf Glespelbrunn!

Meine Wenigkeit wolte sich nehmlich nur erlauben Ew. Hochwohlgeb. in Kentniss geben im Schloss is nicht in Ordung indem die Sitten verläzt werden von 65 Ihren Herr Gwartaler wo mit der gnäd. Frau Gräfin in Bett ligt Ew. Hochgeboren nicht wissen und ein Schand is und eine Sünd werden schon sehn

hochachtend und getreu
Die Bedrefende.      

Gleichzeitig schrieb ich ihm auf anderem Papier mit anderer Tinte und Schrift, dass ich jetzt nach München reise und dankte ihm herzlich für die Gastfreundschaft und Alles, was er für mich getan hatte. Beide Briefe habe ich später im Ort zur Post gegeben.

Der Zug ging erst am Nachmittag, sagte mir der Kutscher, er würde mich hinfahren. Inzwischen bekam ich so grossen Hunger, dass ich doch das Mittagmahl nicht auslassen wollte. Die Gräfin erschien nicht, aber Herr Quartaller. Ein ekelhafter Kerl! Wie konnte er es nur wagen, Roswitha zu entweihen! Ich liess mir nichts anmerken, sagte ihm, dass ich am Nachmittag nach München reise. Er erzählte mir, die Pflegerin sei schwer erkrankt, sie habe hohes Fieber, man erwarte den Arzt jeden Augenblick. Dann bekam ich von ihm noch einige Empfehlungsbriefe an Münchner Maler.

Ich habe mich nicht von der Gräfin verabschiedet, als ich fortgefahren bin. Von der Anhöhe wandte ich mich noch einmal um nach dem zauberhaften Schloss, das sich so friedlich im Wasser spiegelte, als wäre es der Inbegriff von ruhigem Glück. Da sah ich, dass Roswitha auf dem Turm stand, und sie winkte mir mit dem Taschentuch nach. Allen Schmerz fühlte ich von neuem. »Du kannst mich ja gern haben!« dachte ich. Aber ich winkte zurück. Dann im Zug hatte ich viele Stunden Zeit zum Nachsinnen, erlebte im 66 Erinnern noch einmal die letzten Wonnen und die bittere Enttäuschung. Wie wohl der Graf die Mitteilung aufnehmen würde? Würde er ihr Glauben schenken? Vielleicht konnte es zu einem Pistolenduell kommen. Das ist nicht geschehen, aber ich vermute, dass der Graf nicht unbeteiligt war an dem, was Quartaller dann zustiess und wovon ich erst viel später gehört habe. Wenigstens ist es ein auffallendes Zusammentreffen, dass sehr bald nachher Quartallers Aufenthalt seinen Feinden bekannt wurde.

Mit wandernden Zigeunern erschienen einige Neger in der Gegend und es gelang ihnen, Quartaller zu entführen. Sie haben ihn nicht getötet, sondern sie schleppten ihn in den Zigeunerwagen und behandelten ihm Haut und Kopfhaar so gründlich mit Chemikalien, dass sie dauerhaft geschwärzt waren. Dann brachten sie ihn nächtlicher Weile wieder in das Schloss. Sein Anblick soll viel zur Aufheiterung der Gräfin beigetragen haben.

Für jeden anderen Menschen wäre es eine Katastrophe gewesen. Konnte er denn als Neger überhaupt seinen Kunsthändlerberuf weiter ausüben? Ja, Quartaller konnte das. Er reiste nach Afrika, kaufte Alles zusammen, was er von den primitiven Kunstwerken der Wilden bekommen konnte. Mit einigen Schiffsladungen Negerplastik kehrte er nach Europa zurück, eröffnete unter einem Suaheli-Namen in Berlin ein Spezialgeschäft für Negerkunst. Von daher datierte diese Mode, welche sich bald die Welt eroberte, zeitweise die zivilisierte Kunst ganz in den Hintergrund drängte. Kunsthistoriker schrieben dicke Werke darüber, alle Museen, alle Sammler kauften, alle Wohnungen waren damit angefüllt. Es war ein 67 Bombengeschäft. Allmählich verblassten die Chemikalien, er musste sich einige Male nachfärben lassen. Erst als die Mode abzuflauen begann, tat er das nicht mehr, liess sogar den Bleichungsprozess in fachmännischer Behandlung beschleunigen. Eines Tages konnte er wieder als Quartaller erscheinen, wieder europäische Kunst managen. 68

 


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