Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Schreckensherrschaft in Passau

Angstvolle Sorge um Vevi, innige liebende Sehnsucht nach ihr hatten mich ergriffen, merkwürdig, dass diese Ergriffenheit meine Gefühle für Lona nicht abschwächte, sondern so verstärkte, dass die Flammen in unerhörter Glut über uns zusammenschlugen, als wir uns zum Abschied umarmten.

»Bleibe bei mir Emmaus, du bist die Herrlichkeit, nie wieder können sich zwei so lieben wie wir. Ach –«, sie schlang die Arme noch fester um mich, ihre Lippen nahmen die meinen gefangen, wollten sie nicht freigeben. Gewaltsam musste ich mich ihr entwinden. Eine Weile lag sie noch wie vernichtet, mit zusammengezogenen Brauen, doch selig lächelnd. Dann, in plötzlichem Entschluss, begann sie ebenfalls sich anzukleiden. Es fiel mir auf, dass sie in ihrem Täschchen eine Zahnbürste mitgebracht hatte.

»Wann wirst du mein Bild fertig malen?«

»Vielleicht bald, der Kopf ist ja schon fast fertig. Bitte, hebe es einstweilen auf, du kannst es wohl holen lassen, man muss Papier darüberdecken, damit sich die Pastellfarbe nicht verwischt.« Während wir unsere Toilette beendeten, bestellte ich Rechnung und Frühstück ins Zimmer, wir wurden schnell fertig damit. Ich war voller Unruhe, setzte Lona in ein Taxi, 415 verabschiedete mich eilig aber herzlich, holte meinen Wagen aus der Garage und fuhr nach Passau. Ich sauste in einem Rekord-Tempo dahin, ohne Aufenthalt, glücklicherweise war der Strassenzustand günstig. Als ich ankam, dunkelte es bereits, leichter Schnee begann zu fallen. Ich fuhr den Berg hinauf.

Auf halbem Wege kam mir ein Totenwagen entgegen. Ich erschrak so furchtbar, dass ich fast die Steuerung verloren hätte. Ich hielt, rief den Kutscher an:

»Um Gotteswillen! Wer ist denn gestorben? Die Frau?«

»Nein, ein Arbeitersoldat ist verunglückt droben bei der Gaudi.« Ich fragte nicht weiter, mit Herzklopfen schaltete ich wieder ein. Oben vor dem Haus stand ein Sanitätswagen, ringsum auf der Erde viele Möbel und Einrichtungsgegenstände kunterbunt durcheinander, der Schnee rieselte darauf. Stühle waren umgefallen, ein Stuhlbein hatte ein Bild durchbohrt, Pinsel und Farben lagen, zusammen mit Kochgeschirr, auf einem Federbett, aus einer zerbrochenen Vase waren die Blumen gefallen und das Wasser lief über den Gobelinbezug eines Lehnstuhles. Daneben führte Dellinger einen aufgeregten Wortstreit mit struppigen Arbeiter-Soldaten in verwahrlosten Uniformen. Einer von ihnen hatte den Kopf verbunden, mehrere die Hände. Sehr bestürzt hörte ich Dellinger schreien:

»Ihr Lumpen übereinander! Jetzt das Haus wegzunehmen und Alles, wo die Frau grad' das Kinderl kriegt hat! Das ist ja Mord, das könnt ihr vor unserem Herrgott nicht verantworten.«

»Ein' Herrgott gibts nimmer, du halt dein Maul, sonst schiessen wir dich nauf wie den anderen Hund.« 416

Meinten sie vielleicht mich? Ich trat hinzu. Dellingers Worte überhaspelten sich, als er mich begrüsste:

»Weil S'nur da sind, Herr Emmaus! Die wollen unser Haus stehlen, und wir sollen raus und die Möbel auch und die gnä' Frau hat ein' Buben kriegt und – –.«

Ein Soldat schlug ihn mit der Faust in's Gesicht: »Jetzt bist stad! Jetzt red' ich! Sie sind der Emmaus, gelt?« Er zog einen schmutzigen Zettel aus der Tasche, las vor, es war gerade noch hell genug dazu:

»›Die Feste Oberhaus, Baulichkeiten samt Inventar, nebst dazu gehörigen Grundstücken wird als vormaliger ärarischer Besitz beschlagnahmt und geht hiermit in das Eigentum des Freistaats Bayern über. Ist sofort zu räumen. Der Arbeiter- und Soldatenrat, München.‹ Sie sehen, von Stehlen kann gar keine Rede nicht sein, ist alles gesetzlich.«

»Ganz richtig, liebe Genossen. Ist nichts dagegen zu sagen. Alles für das Volk und durch das Volk. Nur ein bisserl schnell arbeitet ihr. Morgen ist auch noch Zeit. Seid nicht solchene Hammel! Wo doch mein Weib grad geboren hat. Was tatest denn du sagen, wenn man deiner Frau das Wochenbett unterm Arsch wegziehen wollt? Und bei der Kälten und auf die Nacht! Überhaupts, hat euch der Dellinger schon ein Bier gegeben?«

»Fallt dem garnicht ein, dem neidigen Tropf, sagt, is keins da.«

»Nein, das kann wahr sein. Aber ich hab' viel was Feineres für euch. Da, Genossen, nehmts die Gläser auf, wo aus dem Küchenschrank gefallen sind, und gehts mit mir.«

Ich flüsterte Dellinger noch zu: »Sagen Sie meiner Frau, ich komme gleich zu ihr, muss nur erst schnell die Herren versorgen.« Aber er war offenbar schwer 417 enttäuscht, als ich den Genossen unter den Arm nahm und mit der ganzen Bande in den Keller ging. Dort hatten wir einige Fässer selbstgekelterten Apfelwein und schweren, süssen Johannisbeerwein, die hatten die Kerle noch nicht entdeckt. Ich schlug Zapfen in die Fässer und schenkte ein. Einige leere Kisten wurden als Sitzgelegenheit herbeigeschoben.

»Also prost, Genossen! Es lebe der Freistaat Bayern und die Weltrevolution!« Sie probierten erst zungenschnalzend, dann tranken sie den Wein wie Bier hinunter.

»Wirklich alle Achtung, is fei was Guts.« Bald sangen sie die Arbeitermarseillaise und Soldatenlieder.

»Also, nichts für ungut, Genosse Emmaus, du bist ja ganz a grübigs Manderl.«

»Bal's euch nur schmeckt. Hauts euch zuwi!« In erstaunlich kurzer Zeit hatten sie sich einen Zustand absoluter Ungefährlichkeit angetrunken, einige waren eingeschlafen, andere lallten nur noch, lagen am Boden herum. Dellinger kam, um nachzusehen, war jetzt mit mir zufrieden.

»Die Gewehre wollen wir aber beiseite schaffen«. sagte er, »sonst geht's uns wie dem Muspet.«

»Wieso? Was ist mit Muspet?«

»Tot. Wie die Lumpen daherkamen, wollte er sie nicht hereinlassen, hat sich auf sie gestürzt und sie fürchterlich zugerichtet und zerfleischt, mussten sich verbinden lassen vom Doktor, und einen hat er in den Hals gebissen, durch die Ader. War schnell hin. Der Doktor hat ihm nimmer helfen können. Und einer hat gleich das Gewehr genommen und unseren Muspet erschossen.«

»Armer Muspet!« Sein Tod erschütterte mich. 418

»Wird meiner Frau arg sein.«

»Sie darf es noch nicht wissen, hat der Doktor gemeint, ist halt noch ein bisserl schwach. Und überhaupts soll sie nicht hierbleiben in dem Saustall, sondern ins Krankenhaus, er hat den Sanitätswagen geschickt.«

Wir banden schnell die Gewehre zu einem Bündel zusammen und nahmen es mit. Nun endlich hatte ich freie Hand, mich um Vevi zu kümmern, stieg ins Haus hinauf. Das fand ich in einem schrecklichen Zustand und fast ausgeräumt. Gerade trugen die Sanitäter Vevi und das Kind wohlverpackt auf einer Krankenbahre hinunter, es schrie mit dünnem Stimmchen. Frau Guggemos ging nebenher, tränenüberströmt. Von Vevi war nur das Gesicht zu sehen, sie weinte.

»Ich bin wieder bei dir. Alles wird gut«, sagte ich und streichelte ihre Stirn. Da lächelte sie. Ich durfte im Sanitätswagen mitfahren. Im Krankenhaus bekam sie ein eigenes Zimmer, das Kind blieb mit darin, ich sah es zum ersten Mal, fand es eigentlich weder lieblich noch rührend. Der Oberarzt, der die näheren Umstände schon kannte, war sehr besorgt, wollte die genauere Untersuchung erst vornehmen, wenn sie sich ein wenig ausgeruht hätte, einstweilen konstatierte er nur leichtes Fieber. Ich sass eine Weile an ihrem Bett, hielt ihre Hand in der meinen. Jetzt sah ich erst, wie bleich und angegriffen sie aussah. Wir sprachen wenig.

»Ich bin froh, dass ich dich noch einmal sehe, Emmaus. Glaubst du, ich muss sterben?«

»Nein, im Gegenteil, du musst leben und wir werden glücklich sein und ich freue mich so mit dir und dem Kleinen. Er ist herzig. Und das Haus und Alles bekommst du wieder in Ordnung.« 419

»Du warst lang fort.«

»Ja, viel zu lange, aber jetzt bleibe ich da.«

»Immer«, hauchte sie. Sie schlief ein. Die Krankenschwester machte mir ein Zeichen, dass ich jetzt fortgehen solle.

Ich ging auf das Telegraphenamt, meldete ein dringendes Ferngespräch nach München an, mit der Gesandtschaft von Guatemala, bekam auch sehr schnell Verbindung, glücklicherweise war Washington Guardallo noch anwesend. Ich teilte ihm mit, wie man gegen mich und mein Eigentum vorgegangen war, ersuchte ihn, sofort Einspruch zu erheben und umgehende Aufhebung des Befehls zu verlangen. Er war sehr entrüstet darüber, dass man sich so einen Übergriff gegen einen Bürger seines Landes erlaubt habe, das werde die Herren teuer zu stehen kommen. Er wollte die Sache schnell in Ordnung bringen, fragte auch, welchen Schadenersatz ich beanspruche. Doch dessen Festsetzung behielt ich mir für später vor.

Danach suchte ich den Passauer Vorsteher des Arbeiter- und Soldatenrats auf. Man hatte Herrn Stadtschreiber Hamböck, dem Sekretär des früheren Bürgermeisters, diese Funktion übertragen, weil er sich doch ein wenig mit den Geschäften auskannte. Ich traf ihn nicht mehr im Rathaus. In seiner Wohnung erfuhr ich, dass er an seinem Stammtisch im Bayrischen Löwen sei. Dorthin ging ich. Er sass, Karten spielend, beim Bier mit Passauer Arbeitersoldaten und einigen Bürgern. Wir kannten uns gut.

»Ja, was wäre denn jetzt das, Genosse Emmaus, kommen Sie auch mal zum Bier? Ganz eine seltene Ehr'!«

»Ist halt ein bisserl weit von Oberhaus, sonst kämet ich öfters. Aber heut hab ich was mit Ihnen zu reden, 420 haben' S' ein' Augenblick Zeit? Nix für ungut, wenn ich beim Tarock störe, aber es pressiert.«

Wir setzten uns an einen Nebentisch, ich trug ihm meinen Fall vor, sagte ihm, dass ich Staatsangehöriger Guatemalas sei und die Sache bereits dem Gesandten übergeben habe, er werde sie mit äusserster Energie verfolgen, selbst wenn es darüber zum Krieg zwischen Bayern und Guatemala kommen und der eben abgeschlossene Friede wieder aufgehoben werden müsse, den Guatemala mit unterzeichnet hatte.

»Genosse Emmaus, ich bitte Sie um Schonung für unser unglückliches Land. Ich bin selbst entsetzt über das Geschehene. Die haben uns Passauer Räte nicht einmal befragt oder auch nur verständigt, die Siebengescheiten in München haben einfach ihre Leut' hergschickt. Wie die sich da oben aufgeführt haben, hat ma schon g'hört. Hat uns damisch g'freut, dass Ihr Hund einen totbissen hat. Wenn wir gwusst hättn, dass Sie nicht hiesig sind, wären wir längst eingeschritten. Sinds' noch droben, die Herren Vollzugsorgane?«

»Ja, im Keller liegens', alle stinkbesoffen. Wir haben ihnen derweil ihre Gewehr' verräumt, dass s'keinen Schaden nicht anrichten damit.«

»Das war gscheit. Jetzt sag ich's gleich meine Rät', sind ja alle hier in der Wirtschaft, und wir gehn nauf zu der Bagaasch.«

Wir begaben uns wieder zu den Stammtisch-Genossen. Die waren Feuer und Flamme für den Vorschlag, sofort nach Oberhaus hinaufzumarschieren, besonders als sie hörten, dass die Münchener bereits entwaffnet seien. Sie holten schnell ihre Gewehre, wir zündeten Laternen an und gingen los. 421

»Sauber schaut's aus hier!« meinten sie, als sie oben die Möbelhaufen beim Haus sahen. »Das werden wir gleich haben. Wir verhaften die Bürscherln einfach, und morgen müssen sie die Möbel wieder neintragen und alles instand setzen.« Ich führte sie in den Keller. Dort sahen sie, nicht ganz ohne Neid, wie gründlich das Getränk gewirkt hatte, versuchten vergeblich, einige der Glücklichen zu wecken. Nach kurzer Beratung blieben vier Mann als Wache da, um am nächsten Morgen das Weitere zu veranlassen. Stühle wurden ihnen vor den Kellereingang gestellt, und Frau Guggemos gelang es noch, Speise und Trank für sie zu finden. Der Keller wurde abgeschlossen. Wir anderen zogen wieder nach der Stadt hinunter in lebhafter Unterhaltung über die Ereignisse. Ich liess mir im Goldenen Stern ein Zimmer geben und verbrachte dort den Rest der Nacht. Bevor ich schlafen ging, rief ich das Krankenhaus an und hörte, das Befinden sei zufriedenstellend.

Im Bett fiel mir ein, ich müsste eigentlich Gewissensbisse haben wegen der Sache mit Lona. Es gelang mir aber nicht. Immerhin beschloss ich, mir am nächsten Morgen den Vollbart abnehmen zu lassen. Das habe ich auch gemacht und hatte das Gefühl, mit ihm sei Lona erledigt.

Herr Hamböck fand zeitig am folgenden Tag beim Betreten des Rathauses ein Telegramm aus München vor:

an räterat passau

beschlagnahme oberhaus aufgehoben übergriff unterer organe verhaftet diese

räterat münchen 422

»Na ja, will's wieder keiner gewesen sein. Aber verhaftet sind s', so gescheit waren wir schon selber.« Wir gingen, zusammen mit den Genossen vom gestrigen Abend, wieder nach Oberhaus hinauf. Die Wachtposten hatten den Berauschten zur grösseren Sicherheit die Hände mit Stricken gefesselt. Das gefiel ihnen garnicht, als sie spät und sehr verkatert wach wurden. Sie schimpften ausgiebig auf den Reaktionär, der sie übertölpelt habe, »der gehört an die Wand gestellt«.

»Wenn nur ihr nicht an die Wand gestellt werdet«, lachten die Wachleute.

Indem kamen wir, und Hamböck las ihnen, in seiner ganzen Präsidenten-Würde, das Telegramm vor. Da schauten sie sich gegenseitig erstaunt an, wurden ganz klein. Der eine sagte: »Da in meiner Rocktasche hab ich den Auftragszettel, ich kann ihn nicht aussi langen mit meine gefesselten Pratzen.«

Hamböck holte das Schriftstück hervor, verglich die beiden und sprach: »Da seids halt eingangen, werdet nicht viel machen können gegen die Ganzandern.«

»Solchene Lumpen! Das wollen Genossen sein! Da pfeifen mir auf die ganze Revolution.«

»Habts halt verspielt«, fuhr Hamböck fort, »Ich geb' euch einen guten Rat. Schauts jetzt, dass ihr hier wieder Ordnung macht. Wir binden euch los, und ihr tragt die Möbel wieder eini und bringt drinnen alles sauber instand und danach könnt ihr wieder heimfahren oder wohin ihr sonst wollt.«

Ich fügte hinzu: »Natürlich gebe ich euch den tarifmässigen Stundenlohn für eure Arbeit. Wenn ihr es schön macht, sogar das Dreifache. Einverstanden?«

»Aber selbstredend, Herr Obergenosse. Und unsere Gewehr' könnts zum Andenken dabehalten. Mir tun 423 nimmer mit, san ausgeschmiert gnug.« Sie wurden befreit, bekamen jeder eine Tasse Kaffee und Brot und machten sich, trotz ihrer benommenen Köpfe, eifrig an die Arbeit, die Sachen wieder einzuräumen. Zufällig waren zwei von ihnen gelernte Tischler und einer Tapezierer, auch ein Anstreicher war dabei. So gelang es ihrem Fleiss, im Verlauf zweier Tage alle Spuren des Gewaltstreiches zu beseitigen. In neuem Glanze strahlte Oberhaus. Ich zahlte ihnen den versprochenen Überlohn. Mehrere von ihnen wollten in Passau wohnen bleiben, die anderen fuhren wieder nach München, verabschiedeten sich herzlich von mir, einer bat mich, ich möchte ihn mit nach Guatemala nehmen. Ich hörte später, dass sie aus der Partei ausgetreten und zur ›Standarte‹ gegangen sind.

Als die Reparationsarbeiten angeordnet waren, verliess ich Oberhaus und begab mich zu Vevi. Sie hatte den Choc merkwürdig gut überstanden, ihr Befinden war fast das einer normalen Wöchnerin. Vorsichtshalber hatte man ihr noch nicht gestattet, das Kind selbst zu stillen, aber sie verlangte dringend danach. Ich war dagegen.

»Ich will nicht, dass du die Schönheit deiner Brust dadurch verdirbst. Eine Frau ist keine Kuh.«

»Du denkst natürlich, Gott habe mir diesen Apparat bloss aus ästhetischen Gründen gegeben, nein, Gott macht alles praktisch und er würde es nicht verstehen, wenn wir so etwas Zweckmässiges nur als Dekoration benutzen. Das wäre, als ob man eine Nähmaschine zur Zierde ins Zimmer stellt.« So liess ich es zu und habe dann gefunden, dass sie recht hatte und dass die animalische Funktion des Säugens sogar ein schöner Anblick ist. In den habe ich mich immer wieder versenkt 424 und zu ergründen versucht, ob die Rührung, welche mich dabei ergriff, mehr künstlerischem oder mehr erotischem Gefühl entsprang. Gewiss haben die grossen Meister ihre Madonnen nicht mit rein geschlechtslosem Entzücken gemalt. Sobald Vevi wieder daheim sein würde, wollte ich sie so mit dem Kinde malen.

Nach zehn Tagen könnte sie ohne Gefahr zurückkehren, meinte der Arzt, und sie war sehr erfreut zu hören, dass jetzt das Haus wieder vollkommen in Ordnung käme, ein Wunder, auf das sie nicht einmal zu hoffen gewagt hatte.

Etwas Peinliches stand noch bevor, ich musste ihr Muspets Tod schonend mitteilen. Ich habe nie die Technik solcher Nachrichten beherrscht und machte es gewiss wieder sehr ungeschickt, begann: »Die Inder glauben an Seelenwanderung, sie meinen, wenn ein Tier stirbt, zieht seine Seele um, in ein anderes oder in einen Menschen.«

»Ja, meinst du, das gibt es? Denke dir, ich habe geträumt, Muspet hat schweifwedelnd bei unserem Kind gestanden. Auf einmal ist er immer kleiner geworden, bis er nicht grösser war als eine Fliege, und die flog dem Kind in den Mund. Erschrocken habe ich gerufen: ›Muspet, komm sofort zurück!‹ Aber er kam nicht, und das Kind hat gelacht. Jetzt weiss ich, Muspet wird bald sterben.«

»Ja, das kann sein, er ist wohl schon gestorben.«

»Du wolltest es mir bloss nicht sagen.« Sie weinte, doch mit Beruhigung merkte ich, dass es nur Tränen dritten Grades waren.

»Ach, Emmaus, wie gut, dass unser Kind nun Muspets Seele bekommen hat, die schönste, die zu haben war.« Nach einer Weile des Nachdenkens fuhr sie 425 fort: »Wir könnten dem Kleinen den Namen Muspet geben, hattest du schon darüber nachgedacht, wie es getauft werden soll?«

»Eigentlich nicht, aber wenn es schon einen verrückten Namen haben soll, hätte ich vorgeschlagen ›Nevermind‹, zur Erinnerung an meinen Onkel.«

»Nein, das geht nicht, das ist kein Kalenderheiliger.«

»Ich habe auch nie vom heiligen Muspet gehört. Überhaupt, ein Kind soll keinen zu auffallenden Namen bekommen, wird es ein Dutzendmensch, wirkt er lächerlich, wird es ein Genie, hat er ihn nicht nötig, wird es ein Verbrecher, erleichtert er den Steckbrief.«

»Wie kannst du behaupten, unser Sohn wird ein Verbrecher?! Wenn er doch Muspets Seele hat!«

»Das habe ich ja garnicht behauptet.«

»Doch das hast du.« Jetzt weinte sie Tränen ersten Grades.

Als sie wieder vernünftig war, einigten wir uns auf den Namen Vincenz, das war der Kalenderheilige des Tages der Geburt. Zufällig hatte Herr Hamböck diesen Vornamen, und so baten wir ihn, Taufpate zu sein, wodurch er sich sehr geehrt fühlte.

Als Überraschung für die Heimkehrende hatte ich in Oberhaus ein Kinderzimmer eingerichtet und mit Wandmalereien verziert: grüne, blumige Wiesen, auf denen Schafe weideten und rosa bebänderte Lämmer hüpften, von Muspet betreut. Der erwachende Sinn sollte sich mit friedlichen Vorstellungen erfüllen.

Wir haben auf Muspets Grab einen schönen Gedenkstein errichtet mit der Inschrift: ›Dem treuen und tapferen Verteidiger der Festung.‹

Vevis Bild als stillende Mutter malte ich mit viel Freude. Ich wollte das wohlgelungene Werk als 426 Muttergottesbild der Domkirche in Passau stiften. Man fand es aber für diesen Zweck zu weltlich, weil der Kinderwagen im Hintergrund stand, der käme weder in der heiligen Schrift noch auf den alten Darstellungen vor.

Es folgte eine friedliche und glückliche Zeit. Wir ignorierten die Weltgeschichte und ihren Stumpfsinn. Mochte sie sehen, wie sie ohne mich fertig wurde, mir war jetzt das Malen wichtiger.

Im Frühjahr bekam ich einen Brief von Lona. Sie schrieb, dass sie mich nicht vergessen könne, immer auf mich gewartet habe, sie wollte mich in Passau besuchen, nächsten Montag würde sie kommen. Ich erschrak sehr. Vevi sah, wie ich den Brief schnell in die Tasche steckte, um ihn später zu verbrennen. »Du verbirgst mir etwas, sicher etwas Unangenehmes.«

»Ach nein, nichts Besonderes, nur ein Liebesbrief«, lachte ich.

»Familienväter bekommen keine Liebesbriefe.«

»Furchtbares Wort! Jetzt bin ich erst richtig Gefangener auf Oberhaus.«

»Wieso Gefangener? Du kannst doch tun, was du willst.«

»So schlage ich vor, wir machen eine schöne Autotour zusammen, damit wir wieder einmal eine andere Gegend sehen, vielleicht an einen See.« Sie stimmte freudig zu, umarmte mich, versuchte dabei, mir den Brief aus der Tasche zu ziehen, ich war aber schneller.

»Meinst du, wir können Vincenz so lange allein lassen, Vevi?«

»Es wird gehen, Frau Guggemos ist so besorgt, und ihre Enkelin wird ihr helfen.« Das Auto wurde gründlich nachgesehen, und an einem wunderschönen Tag im 427 Mai fuhren wir, noch im Morgennebel, an den Chiemsee. Von unterwegs, aus Burghausen, gelang es mir, heimlich ein Telegramm an Lona zu senden: ›leider unmöglich bin auf hochzeitsreise emmaus‹. Und wie eine neue Hochzeitsreise war es für uns beide. Nirgends gibt es so herrlich blühende Frühjahrswiesen wie an diesem See. Wir übernachteten immer an anderen Orten, machten auch eine Fahrt mit dem altmodischen Dampfschiff nach den Inseln, freuten uns an Frühling und Sonne. Nach einer Weile begann es zu regnen. Das pflegt in dieser Gegend nicht so bald wieder aufzuhören. Wir kehrten zurück nach Oberhaus, waren uns ganz nahe und verliebt wie am ersten Tag. Wir fanden Vincenz wohlbehalten vor.

Frau Guggemos sagte: »Besuch war da, Herr Emmaus, will heute wieder heraufkommen.« Vevi sah, wie ich erbleichte:

»Aha, war das der Brief gewesen, Emmaus?«

»Welcher Brief? Ach so, nein.«

Es beruhigte mich schnell, zu hören, dass der Besuch ein Herr war. 428

 


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