Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Genoveva

Plötzlich fiel mir ein, dass wir keine Zeichnung von Rita mehr zur Verfügung hatten. Ich konnte nur mit Schmerz an den disharmonischen Ausklang unseres letzten Beisammenseins denken, sehnte mich danach, ihre beleidigte Seele zu streicheln. Als ich hinkam, fand ich die Tür verschlossen, Alles wie ausgestorben. Ich erfuhr, dass sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen worden sei. Niemand konnte mir sagen, wo sie sich befinde. Ich schrieb ihr einen rekommandierten Brief. Die Post brachte ihn zurück: ›Adressat abgereist. Adresse unbekannt.‹

Fort. Ausgelöscht. Trauer befiel mich, drückte mir auf den Magen, halbierte mein Gehirn. Dann lachte ich mich aus: »Scheint also, dass ich dieses Mädchen liebe. Richtig der Natur auf den Leim gekrochen! Gibt eigentlich nichts Komischeres als eine unglückliche Liebe.« Ich stellte mich vor den Spiegel um zu sehen, wie man in diesem Zustand aussieht. Zwerchfellatmung soll gut dagegen sein. Ich probierte sie, bekam wirklich ein leichteres Gefühl im Magen, zündete mir eine Cigarette an. Vorbei.

Aber wer sollte nun die Armeleut-Zeichnungen machen? Es würde sich schon jemand finden, einstweilen konnte es Gradl übernehmen oder ich. So ging ich, 213 um Anregung zu suchen, in die armen Viertel des Ostens, wo zwischen hohen, kahlen Mietskasernen die kleinen verfallenen Herbergshäuser umso dürftiger wirken. Es regnete kalt und war windig. Eins der Häuschen wurde gerade unter Leitung eines Schutzmanns zwangsweise evakuiert, weil es, schon ganz schief, einzustürzen drohte. In stummer Verzweiflung standen zwei Frauen neben einem Handkarren, auf dem der traurige Hausrat verstaut war. Zu oberst bemerkte ich ein Federbett, der Wind wehte das schützende Zeitungspapier weg. Die eine Frau hob es auf aus dem Schmutz, legte es wieder hin. Auf dem Bett lag eine Petroleumlampe, das Öl floss heraus, bildete einen dunklen Fleck auf dem rotkarierten Überzug. Ein Kleiderschrank, eine Kommode und ein Sofa, aus dem die Sprungfedern überall neugierig herausschauten, hatten noch keinen Platz gefunden, sanken in die aufgeweichte Erde des schmalen Vorgärtchens ein, lehnten schutzsuchend an der Mauer unter dem vorspringenden Schindeldach. Aussen am Haus führte eine zerfallene Holztreppe zum ersten Stock hinauf. Darunter war der Abort und daneben eine grosse Hundehütte. Ein zottiges Ungetüm undefinierbarer Rasse schaute müde heraus. »Wo der Vater nur bleibt?« sagte eine der Frauen. »Wird wohl wieder einen Rausch haben, Frau Leibenfrost«, meinte der Schutzmann gemütlich.

Aber da kam er schon, gross, kräftig, gebeugter Haltung, in verschlissenem, geflicktem Manchesteranzug, war nur leicht angetrunken. Er hatte ein kleines Paket in der Hand, wickelte das Papier umständlich auf, Knochen waren darin.

»Schau, Mauspetz, ich hab' was für dich.« Das 214 Untier sprang freudig wedelnd aus der Hundehütte und nahm die Mahlzeit in Empfang.

Der Schutzmann half dem Mann bei seinen Bemühungen, den tief eingesunkenen Karren auf die Strasse zu ziehen, die beiden Frauen schoben an, endlich bewegten sich die Räder.

Indem glaubte ich ein Traumbild zu erblicken: Ein blasses, schmales Mädchen, noch fast ein Kind, kam langsam die offene Treppe herunter, in hellem dünnem Sommerkleidchen, ein Tuch über Kopf und Schultern, die grossen grauen Augen weit und verloren aufgerissen, rötlich braune Haarsträhnen drangen unter dem Kopftuch hervor. In den mageren Händen hielt sie einen Strauss weisser Lilien.

»Mutter!« rief sie mit schwacher Stimme.

Die jüngere der Frauen drehte sich um: »So? Ist dir's doch endlich gefällig? Gleich kommst du her und schiebst mit!«

»Ich bin so schwach.«

»Gehst her oder nicht, du Schlampen?« Dann zu dem Schutzmann: »Wissen S', Herr Wachtmeister, ein Kreuz ist's mit der Vevi, garnichts tun mag sie, immer will sie krank sein, höchstens umeinander strawanzen und Blumen handeln.«

»Werden wir gleich haben«, sagte die ältere Frau, sprang hin und packte Vevi am Arm, um sie mitzuzerren. Die taumelte, fiel, lag auf dem nassen Erdboden. Die Blumen waren ihr aus der Hand gefallen, und die Grossmutter zertrat sie schimpfend.

Da stürzte Mauspetz, der erst bloss geknurrt hatte, mit wütendem Gebell aus seiner Hütte, die Alte musste loslassen.

»So, dann bleibst eben da, kannst hier im Regen 215 warten.« Schnell lief sie die Treppe hinauf, schloss die Tür ab, nahm den Schlüssel an sich und ging wieder zum Karren.

Vater Leibenfrost drehte sich noch einmal um, rief: »Wir holen dich nachher.«

Ich trat hinzu, half dem Mädchen beim Aufstehen. Sie stand traurig und zitternd im Regen. Mauspetz leckte ihr die Hand, fasste vorsichtig mit den Zähnen ihr Kleid und versuchte, sie nach seiner Hütte hin zu ziehen.

Schwer, in solcher Situation ein Gespräch anzufangen.

»Schade um die schönen Blumen, Fräulein«, sagte ich.

»Ja, nun kann ich sie nicht mehr verkaufen.«

»Doch, ich möchte sie gern kaufen.«

»Warum? Sind ja hin.«

»Zum Andenken.«

»Woran?«

»An Sie.« Ich reichte ihr ein Zehnmarkstück. Sie nahm es nicht, fing an zu weinen: »Sie wollen die Blumen ja garnicht haben, ich weiss schon, was – –.« Sie musste sich vor Schwäche an das Geländer lehnen.

»Ich wollte Sie nicht kränken, verzeihen Sie!« – Sie schaute mich mit grossen Augen an, versuchte vergeblich zu lächeln.

»Wo werden Sie jetzt hinziehen?« fragte ich.

»Ich weiss nicht.«

»Ich glaube Sie sind krank. Haben Sie Schmerzen?«

»Ja, es sticht mich so in der Brust. Ich habe schon drei Tage keine Blumen mehr verkaufen können. Die Mutter hat mich gehauen deshalb.«

»Was sagt der Vater dazu?« 216

»Säuft.«

»Was ist er?«

»Sozialdemokrat.«

»Ach nein, was für einen Beruf?«

»Er hilft manchmal auf dem Bau. Eigentlich bin ich nur ein Ziehkind. Ich soll aus Berlin sein. ›Saupreussin‹ schimpft mich Mutter oft.«

»Wenn Sie wieder gesund sind, möchte ich Sie malen.«

»Ja, ich bin schon mal Modell gestanden, in der Akademie.«

Ich schrieb ihr meine Adresse auf. Wir warteten weiter im Regen. Mein wasserdichter Mantel triefte. Das Mädchen musste schon bis auf die Haut durchnässt sein.

»So geht das nicht, ich hole eine Droschke«, sagte ich.

Sie nickte stumm. Ich musste ziemlich weit gehen, bis ich eine fand. Als ich zurückkam, war nichts von dem Mädchen zu sehen. Aber die Möbelstücke standen noch da, also war sie nicht geholt worden.

»Fräulein Vevi!« rief ich endlich. Mauspetz bellte leise und freundlich zur Antwort. Er lag im Regen vor seiner Hütte, den struppigen Körper, schützend über Vevis Beine gedeckt, die herausragten. Er hatte dem Mädchen sein Heim mitleidig überlassen, sie war hineingekrochen, lag warm auf dem Stroh. Mitleid ist ein ziemlich angenehmes Gefühl, darum ist es so geschätzt, oft ein Surrogat der Liebe, aber oft eine Liebe in Vorbereitung. Also auf der Hut sein!

Aber ich konnte nicht umhin.

Ich wusste sehr wohl, das Richtige wäre jetzt gewesen fortzugehen, Genoveva in der Hundehütte zu 217 lassen, mich mit der Ausbeute künstlerischer Anregungen zu begnügen, umsomehr als das unglückliche Geschöpf nicht herauskam, als ich ihr sagte, die Droschke sei da. Sie schien stark zu fiebern, murmelte Unverständliches. Es musste etwas geschehen. So zog ich sie sacht an den Beinen aus der Hundehütte, trug sie in die Droschke. Sie war sehr leicht. Mauspetz widersetzte sich nicht, begleitete uns und versuchte, Abschied nehmend, die Pfote zu reichen. Ich liess zum Schwabinger Krankenhaus fahren, dessen Oberarzt ich kannte. Als wir ankamen, hatte sie heftigen Schüttelfrost und war nicht bei Bewusstsein. Die Einlieferung war etwas schwierig, weil ich keine näheren Angaben über ihre Persönlichkeit machen konnte. Ich hinterliess aber meine Adresse, unterschrieb, dass ich für alle Kosten aufkomme, suchte den Oberarzt Professor Kerschbaumer auf und legte ihm den Fall besonders ans Herz. Ich verschwieg ihm nicht, wo und wie ich die Patientin aufgelesen hatte. Er schaute mich prüfend und zweifelnd über seine dicken Brillengläser hinweg an.

Ich ging nachhaus und begann sofort eine Zeichnung: Den trostlosen Auszug in die Obdachlosigkeit bei Regen und Wind, neben einem teils eingefallenen, teils abgerissenen Häuschen. Aus der Hundehütte im Vordergrund schauen die ärmlichen Beine Vevis heraus, der Hund sitzt treu daneben.

Als Gegenstück dazu sollte Resniksen eine elegante, schöne Dame bei der Morgentoilette zeichnen. Sie hat einen kleinen Pekineser Schosshund in ihr üppiges, weiches Daunenbett gelegt.

Als ich die Zeichnung in die Redaktion des Meteor brachte, liefen schon Antworten auf das 218 Preisausschreiben ein. Quartaller und Doktor Huber waren beschäftigt sie durchzulesen. Bald kam dann ein so starker Strom von Zuschriften, dass wir dieser Überschwemmung verzweifelt gegenüberstanden. Wir mussten angestrengt arbeiten, um mit ihrer Prüfung fertig zu werden. Einige der markantesten will ich wiedergeben:

Politik und Staat gehören zusammen wie die Haut zur Wurst. Die Wurst ist geniessbar, die Haut kann man wegwerfen.

Franz Moswiedl, Restaurateur Zur deutschen Eiche.

Politik führt immer zum Krieg, Krieg ist organisierter Mord, also ist Politik Vorbereitung des Mordes, ein strafbares Verbrechen, das kein Staat dulden sollte. Zu seiner Verhütung braucht man nur die bestehenden Strafgesetze richtig anzuwenden.

Dr. Ignaz Biederholt,          
Kriegsinvalide. Inhaber des E.K.T.

Man unterscheidet a) innere b) äussere Politik. Die innere Politik bezweckt Unterdrückung des eigenen Staates, die äussere Unterdrückung fremder Staaten. Die Staaten sollen sich das nicht mehr gefallen lassen. Nieder mit der Politik!

Karl Neppicht, Buchhalter.

Sechzig Millionen Menschen lassen sich von einer Million Bürokraten bevormunden, die von Zeit zu Zeit die Farbe ihrer Gesässchwielen ändert. Diesen Farbwechsel nennt man Politik. Weg damit!

Schorsch Sodbrenn, Tierausstopfer.

Die Politik ist in ihrer Bewegungsfreiheit dadurch behindert, dass sie immer Rücksicht auf die 219 schwerfällige Maschinerie des Staates nehmen muss. Ich begrüsse daher Ihren Vorschlag, Staat und Politik von einander zu trennen.

von Schneemöller, Lieutenant d. R.

In Urzeiten, als die Mehrzahl der Menschen ohne Bildung war, mussten sie besonders dazu geeignete Personen mit der Führung ihrer Geschäfte betrauen. So entstand die Kaste der Politiker. In unserer aufgeklärten Zeit ist die ein Atavismus, ein rudimentäres Organ, ein Wurmfortsatz des Blinddarms, der zu gefährlichen Entzündungen führt und beizeiten auf operativem Weg zu entfernen ist.

Steinbeis, Professor.

Politik muss ein Privatvergnügen der betreffenden Herren bleiben wie Schachspiel oder Bridge. Man sollte gesetzlich verbieten, dass ihre Beschlüsse ausgeführt werden, dann hat der Staat seine Ruhe, braucht keine Soldaten mehr, halb soviel Steuern, das goldene Zeitalter beginnt.

B. Doleschall, Sanitäre Anlagen.

Den ersten Preis erhielt die Einsendung des Bankdirektors Werner Kluft weil sie das Problem am treffendsten löste:

»Der Staat ist ein Zusammenschluss von Menschen zu gemeinsamen Unternehmungen, wie Strassenbau, Flussregulierungen, Gesundheitspflege, Unterricht, Münzwesen, Schutz des Eigentums und der Individuen. Also rein technische Zwecke, ein Betrieb wie jeder andere.

Er wird jetzt von einer Gruppe verwaltet, die aus anderen Gesichtspunkten handelt: aus persönlichen 220 Interessen, Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis. Ihre Massnahmen haben nichts mehr mit den praktischen Zielen des Staates zu tun und schädigen sie. Was diese Gruppe macht, ist die sogenannte Politik. Anstatt diese ungeeigneten Angestellten fristlos zu entlassen, werden sie hochgeehrt und privilegiert. Sie zu beseitigen, den Staat wieder praktischer Betätigung zuzuführen, ist die Aufgabe des Meteorismus. Am besten lässt sie sich verwirklichen, wenn der Staat als eine Aktiengesellschaft konstituiert wird.

Jeder Staatsbürger Aktionär!«

Genau so habe ich es mir gedacht«, sagte Quartaller, und nun waren wir alle überzeugt, dass unser Losungswort einen tiefen und bedeutenden Sinn habe. Den zweiten Preis gaben wir dem Dr. Biederholt, den dritten bekam Restaurateur Moswiedl, wegen der Kürze und Schlagkraft seiner Einsendung.

Allen nicht prämiierten Konkurrenz-Teilnehmern sandten wir einen Trostpreis von 50 Mark, zugleich mit der Aufforderung, der Partei beizutreten. Das taten fast alle, und wir baten sie, neue Mitglieder zu werben. Direktor Kluft luden wir zu einer Besprechung ein und nahmen ihn in den Parteivorstand auf. Dann beriefen wir die Volksversammlung in den grossen Saal des Löwenbräukellers. Riesige Plakate kündeten sie in der ganzen Stadt an, leuchteten von allen Mauern, wurden von Aufzügen junger Parteigenossen durch die Strassen getragen. Resniksen hatte ihnen die kleidsame Meteor-Tracht entworfen: Ultramarinblaue Bluse mit einem M und dem Meteorzeichen auf dem Ärmel, kurze, weite, schwarze Hosen, kanarienvogelgelbe Wadenstrümpfe, spitzes hellblaues Gebirgshütel auf 221 dem Kopf. Bald trugen wir Meteoristen alle diese Kleidung, waren daran schon von weitem kenntlich. Wir übertrugen die Lizenz der Anfertigung einer grossen Kleiderfabrik, natürlich gegen entsprechende Provision und unter der Bedingung, dass bei der Herstellung nur Meteoristen beschäftigt werden durften.

Als ich nachts nachhaus kam, stiess ich vor meiner Tür an etwas Dunkles, Weiches, erschrak, spürte dann eine warme, feuchte Zunge an meiner Hand und merkte, dass es ein Hund war. Mauspetz besuchte mich, kam schweifwedelnd mit hinein.

Er sah mich fragend an, und ich sagte ihm: »Vevi ist im Krankenhaus, ich werde sie besuchen.« Es war, als ob er es verstanden hätte, er legte sich befriedigt vor mein Bett. Ich gab ihm zu trinken und hatte eine Wurst für ihn. Seitdem verliess er mich nicht mehr, wollte mich auch auf allen Gängen begleiten.

Man lachte allgemein über das rasselose Untier. So bat ich einen bekannten Kynologen, einen Aufsatz über dieses seltene Exemplar einer neuentdeckten Hunderasse zu schreiben, die aus den Steppen Turkestans stamme. Mit schönen Photographien erschien der Artikel im Meteor. Da stand auch, dass die Turkmenen diese Hunde ›Muspet‹ nennen, das Wort bedeute soviel wie ›Der Getreue‹. Damit war der etwas blamable Name verernstlicht. Nun erregte mein Meteorhund überall Bewunderung, man bot mir fabelhafte Summen für ihn, aber ich wollte mich nicht von ihm trennen.

Im Schwabinger Krankenhaus fand ich Vevi sehr schwach. Die Pflegerin sagte, sie sei noch nicht über die Krisis hinaus. Mein Besuch durfte nur kurz sein, sie reichte mir ihr dünnes, heisses Händchen.

»Wird sie ebenso schön aussehen, wenn sie einmal 222 wieder gesund ist«, dachte ich, »wenn sie volle rote Backen bekommt?«

Jetzt an der Schwelle des Todes war sie wundervoll, von einer zarten, schon überirdischen Schönheit. So war es nicht bloss Mitleid, was ich für sie empfand, heisses, leidenschaftliches Gefühl erfüllte mich, schien mir aber eine Entweihung dieser keuschen, jenseitigen Herrlichkeit.

»Wenn mich nur der Vater nicht holen kommt!« hauchte sie ängstlich.

»Davon hat sie immer phantasiert«, sagte die Krankenschwester.

»Mache dir keine Gedanken darüber, Genoveva, ich werde schon dafür sorgen, dass du in Ruhe gelassen wirst. Mauspetz ist bei mir und du sollst es auch gut haben.«

Als ich fortging, hatte sie das Gesicht in die Kissen gedrückt und weinte.

Draussen fragte mich die Schwester, wie das mit ihren Eltern sei, man habe die verständigen wollen, sie waren aber nicht aufzufinden. Es blieb mir nichts übrig, als die traurigen Verhältnisse zu erklären und wie ich dazu gekommen war, mich des Mädchens anzunehmen.

»Armes Kind!« sagte sie.

Unten traf ich den Portier in lebhaftem Disput mit einem zerlumpten Mann, der etwas angetrunken war.

»Nein, in diesem Zustand können Sie keinen Krankenbesuch machen. Gehen Sie jetzt!«

»Aber die Polizei hat mir gesagt, dass sie da herin ist bei euch. Ich bin der Leibenfrost, das wäre noch schöner, wenn ich sie nicht besuchen dürfte, meine Tochter. Hat gewiss Zeitlang nach ihrem Vater, das arme 223 Hascherl, mein einziges Kind, mein einziges.« Er schluchzte, eine Träne war ihm an der Nase entlang gelaufen, hing als Tropfen an der Spitze.

»Miserablige Bagaasche übereinander!« brüllte er plötzlich, schrie laut: »Vevi, Vevi, zu mein Veverl will ich.« Der Tropfen fiel herab.

Der Portier packte den Kerl am Arm, um ihn hinauszuschieben. Er wehrte sich, wollte zuschlagen.

»Herr Leibenfrost«, sagte ich, »natürlich werden Sie Ihre Tochter sehen, sie ist aber jetzt noch zu krank. Beruhigen Sie sich und trinken Sie ein Glas Bier mit mir.«

»Da sieht man gleich, was ein besserer Herr ist, ich geh' schon mit Ihnen, Herr Doktor.« Er hielt mich wohl für einen Arzt. Wir begaben uns in den Wirtsgarten der nahen Brauerei.

Er trank mir zu: »Ihr Wohlsein, Herr Doktor, und nichts für ungut. Aber wenn man sein einziges Kind nicht einmal besuchen darf – – –«, er fing wieder an zu schluchzen.

»Wo wohnen Sie denn jetzt, Herr Leibenfrost?«

»Oh mei, wohnen! Mein Haus haben sie mir abgerissen, nun wohnen wir in einem Wagen darin und fahren so ein bissel umeinander. Ich tu' Sägen feilen und Häfen binden mit Draht.«

»Da werden Sie wohl nicht viel verdienen. Hier haben Sie zwanzig Mark. Soviel will ich Ihnen jede Woche geben, wenn Sie mir versprechen, nicht mehr in das Krankenhaus zu gehen und Ihre Damen auch nicht.«

»Ganz wie der Herr Doktor wünschen.«

»Ich schicke Ihnen das Geld postlagernd. Sie können es jeden Samstag holen. Aber wird das Versprechen nicht gehalten, dann gibt es nichts.« 224

»Selbstverständlich, und die Weiber, mit denen werd' ich schon fertig. Respekt, Herr Doktor! Sie sind ein feiner Mann, direkt gebildet. Zwanzig Markl, das ist vielleicht ein bisl wenig. Wissen S', mit der Sägfeilerei da steckt man nichts auf. Ich könnt' halt einen Gemüsgarten pachten, da baueten wir Salat und Gurken, ich und die zwei Weiber und die Vevi, und meine Alte verkaufet das Sach dann am Markt. Ist mir billig angeboten worden, ganz nah, in Moosach, mit einem Häusel darauf. Möchten S'nicht dazu verhelfen?«

»Ich will sehen, was sich tun lässt, erst abwarten, ob Sie Ihr Versprechen halten. Übrigens, Herr Leibenfrost, die Vevi ist ja garnicht Ihre Tochter.«

»Wer hat Ihnen denn sowas gesagt, Herr Doktor? So eine ausgeschamte Lüge!«

Er trank ausgiebig aus seinem Krug, rülpste, wischte sich mit dem Handrücken das Bier vom Schnurrbart. »Na, wenn es Herr Doktor eh schon wissen, sie ist eine Preussin. Ich bin im Gebirg daheim, am Walchensee, da haben wir die Heimat gehabt und ein paar Küh', und ich hab als Maurer gearbeitet, wissen S', wo das grosse Kraftwerk gebaut worden ist. Ganz gut ist's uns gegangen, und an die Sommerfrischler haben wir auch immer vermietet. Da haben welche aus Berlin bei uns gewohnt mit einem kleinen Töchterl und, wie sie fort sind im Herbst, haben wir es dabehalten dürfen, das war das Veverl. Gern haben wir es behalten, weil's gar so lieb war.«

»Was hat man Ihnen gezahlt?«

»Tausend auf die Hand und dann hundertfünfzig im Monat Kostgeld. Ein paar Mal hat der Vater das Geld selber gebracht und nachgeschaut, solange wir auf der Heimat wohnten. Da hab ich natürlich nichts mehr 225 zu arbeiten brauchen, und dann haben wir unser Anwesen eingetauscht gegen das Häuserl in der Stadt. Ein viel besseres Bier gibt es nämlich hier, immer frisch angezapft. Da herin hat er das Veverl nimmer besucht, aber das Geld ist immer pünktlich gekommen, war ja advokatisch gemacht. Bis vor ein paar Jahren, da hat es mit einmal aufgehört. Ich hab' ihm geschrieben, dass er einreiben soll. Der Brief ist zurückgekommen und darauf ist gestanden: Adressat gestorben. Wenn der Herr Doktor das vielleicht weiterzahlen möchten?«

»Gespassige Geschichte, die Sie mir da erzählen. Wie hiess denn der Vater?«

»Lassen'S mich ein wenig nachdenken. Fallt mir schon noch ein. Ja, jetzt hab ichs, Chuzky hat er gehiessen.«

»Was? Arwed Chuzky?!«

»Ganz recht, Sind Sie mit dem Herrn bekannt? Stellt er sich vielleicht nur tot? Herr Doktor wollen mir doch wohl nicht auch wegsterben?«

Die Sache war ein wenig mysteriös, Näheres war aus Leibenfrost jetzt, nach der dritten Mass, nicht mehr herauszubringen. Von der Mutter wusste er nur zu sagen: »Die ist weg.« Ich nahm mir vor, den Fall zu untersuchen, sobald ich mehr Musse dazu hätte. Jetzt beschäftigte mich noch zu Vieles.

Zu Haus fand ich eine Vorladung zur Gerichtsverhandlung wegen Verbrechens der Majestätsbeleidigung, begangen durch die Presse. In der folgenden Woche sollte sie sein, vor dem Schwurgericht. Ich beschloss, den Doktor Huber mit meiner Verteidigung zu betrauen, entliess auch diese Sorge vorläufig aus meinem Bewusstsein. 226

 


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