Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Rita

Über all dem hatte ich Rita Kläusgen fast vergessen. Da begegnete ich ihr auf der Strasse. »Halloh«, rief sie mir zu, »wann kommen Sie nach Etzenhofen?« – Am folgenden Morgen radelten wir zusammen hinaus, schwer mit Rucksäcken voller Malgerät und einigen Toilettesachen bepackt. Sie fuhr sehr schnell, so dass ich Mühe hatte, ihr Tempo einzuhalten. Es war heiss, ich fand das Unternehmen nicht sehr erfreulich, wir sprachen nichts.

Plötzlich drehte sie sich mir zu und fragte: »Finden Sie mich schön?«

Ich antwortete: »Nein«.

Wir verstummten wieder.

Nach einer ganzen Weile sagte sie: »Wieso nicht?«

»Weil Sie schwitzen«, antwortete ich.

Wieder langes Schweigen, dann sagte sie: »Sie auch.«

Wir kamen durch ein Wäldchen, und ich schlug vor, da ein wenig zu rasten. »Nein, ich liebe solche Idyllen nicht«, wies sie mich ab.

Endlich nahten wir uns den Kleinbauernhäusern Etzenhofens, die waren um einen niedrigen Hügel verstreut, auf dem die Dorfkirche inmitten des Friedhofes stand. Im Schatten eines uralten Nussbaums erblickte ich eine riesige Malleinwand, dahinter einen dicken, 79 hemdärmeligen Mann, mit Palette und Pinsel in der Hand. Es schien dort gerade eine Beerdigung stattzufinden, aber der Trauerzug, mit Leichenwagen, bäuerlichen Leidtragenden und Musik hatte Halt gemacht.

»Das ist Professor Timm«, sagte Rita ehrfürchtig, »er malt an seinem grossen Bild ›Ländliches Begräbnis‹. Er hat sich den ganzen Leichenzug aufgestellt, braucht ihn nur abzumalen.« Wir stiegen von den Rädern und sahen ihm aus einiger Entfernung zu, wie er langsam und bedächtig den Pinsel handhabte. Ab und zu trat er zurück, um sein Werk zu überschauen und sich die Stirn zu trocknen, denn die Hitze war unerträglich. Er lehnte sich an den Baum, lehnte und lehnte, liess die Palette sinken und war eingeschlummert. Der Leichenzug stand unentwegt Modell. Der Trauermarsch wurde weitergeblasen und übertönte das Zirpen der Grillen. Es war sehr heiss.

Aber Rita Kläusgen war ganz munter, lief auf die Musikanten zu und gab ihnen etwas Geld. Da intonierten die eine lustige Tanzweise. Sie packte mich, und wir tanzten nach den Klängen des Ländlers auf der Wiese, wobei wir den stehend schlafenden Professor umkreisten. Er erwachte und wollte weitermalen. Aber Rita stellte mich ihm als neuen Schüler vor. Das war ihm eine gute Gelegenheit, um mit der Arbeit aufzuhören, umsomehr da sich ein Gewitter am Himmel zusammengezogen hatte. Der Leichenzug durfte abtreten.

Ich wollte dem Professor das Bild nachhaus tragen. Er liess es gern geschehen. Es war eine sehr grosse Leinwand, auf der Rückseite war der Blendrahmen mit gekreuzten Holzlatten versteift. Durch diese 80 steckte ich meinen Arm. Rita war mir behilflich, mit dieser Last auf mein Rad zu steigen, und ich wollte schnell den Hügel hinabfahren, da es bereits donnerte. Ein Windstoss warf sich mir entgegen, fasste die Leinwand von unten und hob sie mit mir in die Höhe. Ich konnte sie nicht loslassen, hielt das Fahrrad krampfhaft zwischen den Schenkeln festgeklemmt und plötzlich bemerkte ich, wie Rita, der Professor und der Nussbaum immer kleiner wurden, dann sah ich auch den Kirchturm unter mir, hoch über der Erde schwebte ich dahin. Die unten blickten, entsetzt schreiend, zu mir empor. Ich hatte keine Angst, fühlte ein erhabenes Glück wie in einem Traum, segelte über den weidenbesäumten Fluss und abgemähte Felder. Der Wind liess nach und ich landete unbeschädigt auf einer Wiese, nahe bei einem Weg. Auf dem radelte ich nach dem Dorf zurück, kam gerade an, als die ersten Tropfen fielen.

»Ich war wirklich besorgt«, sagte der Professor. Ich lachte: »Ist nicht so gefährlich gewesen.« Er darauf: »Na, wie leicht hätte das Bild hin sein können!«

Beim Mittagessen war in dem Dorfwirtshaus die lustige Gesellschaft der Timm-Schüler und -Schülerinnen beisammen. Mein Abenteuer wurde besprochen und belacht. Einer erhob sich feierlich, drückte mir die Hand und sprach: »Der heutige Tag wird im Buch der Geschichte vermerkt werden. Zum ersten Mal ist es einem Menschen gelungen, wie ein Vogel zu fliegen. Ich gratuliere Ihnen zu der genialen Erfindung.« Alle stimmten fröhlich zu. Er hatte das als Scherz gemeint, aber mich machte es nachdenklich. Von da ab musste ich immer wieder an meinen Flug denken und ob es nicht möglich sei, einen Apparat 81 zu bauen, mit dem sich das Wunder-Erlebnis beliebig wiederholen liesse.

Das Gewitter war in einen trostlosen Landregen übergegangen. So blieb die Gesellschaft beieinander, und alle spielten Karten. Der Professor sah mich abseits sitzen, kam zu mir und fragte mich, ob ich denn nicht Tarock spielen könne. Ich verneinte es.

»Aber das müssen Sie!« belehrte er mich. »Zwei Dinge braucht der Münchner Maler, um vorwärts zu kommen: Tarockspiel und Jagd. Künstlerisches Talent ist zwar erwünscht, aber nicht Bedingung. Ohne die Protektion des allgewaltigen Porträt-Meisters Mosbacher ist man unmöglich, und er interessiert sich nur für Tarockspieler. Später muss man beim Regenten gut angeschrieben sein, und der interessiert sich nur für Jäger. Ich spiele jeden Abend mit Mosbacher in der Künstlergesellschaft Isaria Tarock, lasse ihn unauffällig gewinnen. So werden meine Bilder auf jeder Ausstellung prämiiert und für die staatlichen Sammlungen angekauft. Der Regent schätzt mich als erfahrenen Jäger. Ich darf mit ihm immer in den Allgäuer Bergen auf die Pirsch gehen. Da werden auch jedesmal ein oder zwei riesige Adler erlegt, die in den Felsen horsten. Ein Geheimnis, das ganz unter uns bleiben muss: Ich habe dort einen kleinen Besitz, auf dem habe ich eine Adlerzucht angelegt. Wenn sich die königliche Hoheit zur Jagd ansagt, werden die grössten Exemplare hoch oben über einem fast unzugänglichen Abgrund so festgemacht, dass sie leicht zu schiessen sind. Diese Jagdbeute freut den alten Regenten stets unbändig. Er kauft immerzu Bilder von mir und hat mir hohe Ordensauszeichnungen verliehen. Nach dem nächsten Adler soll ich den 82 Hubertus-Orden bekommen, mit dem ist die persönliche Nobilitierung verbunden. Ich betrachte Jagd und Kartenspiel als einen wichtigen Teil der künstlerischen Ausbildung, unterrichte deshalb meine Schüler auch in diesen beiden Fächern.«

An jenem Tage erlernte ich das Tarockspiel. Professor Timm konnte bei mir eine ausgesprochene Begabung feststellen, ein Urteil, das er einige Tage später stark revidieren musste, als er mich auch in der Jagd unterweisen wollte.

Draussen regnete es unaufhörlich, und es war unmöglich, an diesem Tag zurückzuradeln. Wie die meisten der Schüler hatte Rita ein Zimmer bei Bauersleuten den Sommer über gemietet, und ich konnte dort auch eins haben. Wir gingen hin, als der Regen zeitweise nachliess, hatten schnell mit der Bäuerin ausgehandelt. Dann schauten wir uns den Kuhstall an. Dort war es warm und dämpfig.

»Diese grossen Farbflecken im dämmerigen Licht, wäre das nicht schön zu malen, Fräulein Rita?«

»Ja, Herr Emmaus, ich habe es versucht, aber ich wurde zu traurig davon, kam mir vor wie zuhause in der Familie, das zufriedene Halbdunkel, so behäbig und animalisch. Nie hat eine Kuh über ihr Schicksal nachgedacht, hat keine Ahnung von Leben, Freiheit und der grossen Welt.«

»Wir könnten vielleicht ein Glas Milch trinken«, sagte ich, nahmen sie mit in Ritas Zimmerchen hinauf, sassen auf dem Sopha und rauchten Zigaretten dazu.

Sie setzte das Gespräch fort: »Die Männer möchten uns Frauen zu Kühen machen, gönnen uns keine Individualität, sie sehen uns an und denken immer 83 nur an Erotik. Ich kenne diesen Blick – ein Feigenblatt gehörte über ihr Gesicht.«

»Warum haben sie mich aber heute früh gefragt, ob ich Sie schön finde?«

»Weil ich wissen wollte, ob ich vor Ihnen sicher bin. Ich gefalle Ihnen nicht. Gut! Also werden Sie sich nicht in mich verlieben und schliesslich heiraten wollen, wie alle anderen.«

Ich war überrascht: »Wirklich? Haben Sie nie geliebt? So wenig neugierig zu sein! Eine ganz seltene Persönlichkeit sind Sie.« – Pause.

Dann zündete sie sich eine neue Cigarette an und sprach nachdenklich: »Neugierig wäre ich eigentlich schon, aber wie leicht könnte sowas in tiefe Gefühle ausarten oder gar in Ehe und dann wäre es vorbei mit meiner Freiheit und meiner Kunst.«

»Ach, Rita, das ist ja ganz genau, was ich auch meine, Erotik und Liebe gehören nicht zueinander, das Funktionelle muss vom Geistigen getrennt bleiben.«

Wir verstanden uns und drückten uns die Hand. Dann durfte ich eine kleine Porträtzeichnung von ihr machen, und sie machte eine von mir. Wir tauschten sie aus. »Immer wollen wir gute Freunde bleiben«, gelobten wir uns beim Gutenachtsagen. Ich fügte hinzu: »und ich verspreche Ihnen, mich nie in Sie zu verlieben, nie will ich heiraten. Darf ich nachher zu Ihnen kommen?« »Vielleicht«, antwortete sie sehr ernst.

Und so geschah es.

Als wir uns am nächsten Morgen beim Frühstück im Wirtshaus begrüssten, sagte sie leise: »Ich danke Ihnen, Herr Emmaus.« Ich verneigte mich: »Oh, bitte sehr, Fräulein Rita, ganz auf meiner Seite.« 84

Es regnete weiter. Professor Timm hatte im Tanzsaal der Wirtschaft ein Modell gestellt, das die Schüler eifrig abmalten. Es war ein idiotischer Alter mit einem Kropf, der Dorftrottel. Ich wunderte mich, dass er mit »Herr Bürgermeister« angeredet wurde. Aber das war er in der Tat. Da er sowieso auf Gemeindekosten versorgt werden musste, hatten ihm die Bauern dieses Amt übertragen, um das Bürgermeistergehalt zu sparen. 85

 


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