Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Wunder der Kindheit

Das Mädchen fuhr mich im Kinderwagen in den Park. Dort waren noch viele andere Mädchen mit Kinderwagen. Sie setzten sich auf eine Wiese, denn sie hatten sich viel zu erzählen. Die Wagen standen abseits in einer Reihe. Meiner war der schönste, denn er war himmelblau.

Plötzlich geschah etwas Schreckliches. Die Mädchen sprangen auf, kreischten, ein Mann mit gezücktem Säbel kam brüllend auf sie zu. Sie wollten mit den Kinderwagen fortlaufen. Die fielen um, wir Kinder purzelten mit unseren Kissen heraus, schrieen fürchterlich, wurden schnell wieder in die Wagen gestopft und weggefahren. Der Mann mit dem Säbel, immer schimpfend, hinterher. Ich bemerkte, dass mein Wagen jetzt rosafarben war und dass ich jetzt ein Kissen ohne Spitzenbesatz hatte.

Erst viel später habe ich erfahren, was da passiert war: Das Betreten der Wiesen ist in meiner Heimat streng verboten. Ein Polizist hatte die Mädchen verjagt. In der Eile waren die Kinderwagen umgestürzt, alle Kinder durcheinander gekommen und viele waren verwechselt worden. Die Mädchen haben ihren Herrschaften nichts davon erzählt. Diese waren meistens wohlhabende Leute, die die Kinder ganz den Dienstboten überliessen. Und wir waren noch so klein, dass der Austausch nicht entdeckt wurde. Meinen 8 schönen himmelblauen Wagen und mein Spitzenkissen habe ich nicht wiedergesehen. Am meisten wunderte mich, dass mein Papa jetzt einen blonden Bart hatte, vorher war er schwarz gewesen.

Und dann hätte ich beinahe ein Wunder erlebt. Aber das hat man mir auch erst nach vielen Jahren erzählt. Beim Baden kam einmal die Mama dazu und rief sehr erstaunt: »Aber unsere Emma ist jetzt ja ein Junge geworden!« Und dann wurde der Doktor geholt und er sagte, dass es ein ganz seltener Fall von Geschlechtsumwandlung sei, den man aber merkwürdiger Weise seit einiger Zeit in unserer Stadt mehrere Male beobachtet habe. Er hat dann eine grössere wissenschaftliche Arbeit über die Sache geschrieben. Die machte ihn sehr berühmt, und er ist als Professor nach Wien berufen worden. Und ich bin auf diese Weise zu dem seltenen Vornamen Emmaus gekommen.

Man rief mich Maus, was mir gar nicht gefiel. Einmal war eine wirkliche Maus in die Falle gegangen, Mama zeigte sie mir und sagte: »Sie heisst ebenso wie du.« Da bekam ich einen Wutanfall und biss Mama in den Arm, dass es blutete. Sofort wurde ein Familienrat über die Untat abgehalten, zu dem auch Vetter Eberhard, der Staatsanwalt, erschien. Auf seinen Rat machte mir ein Klempnermeister einen Kindermaulkorb aus Draht. Den musste ich immer tragen. Erst als ich nichts mehr sprechen wollte, auf alle Fragen nur mit »Wauwau« antwortete, durfte ich ihn ablegen. Allerdings, Sonntags, wenn Vetter Eberhard zu Besuch kam, musste ich den Beisskorb noch anziehen, um den Staatsanwalt nicht zu kränken. So an Kaisers Geburtstag. Der wurde bei uns immer 9 durch ein kleines Festessen gefeiert. Zum Dessert gab es eine Germania aus schwarzweissrotem Eis. Und ich sass dabei und hatte den Maulkorb an. Seitdem sind mir Germania und Maulkorb unzertrennliche Begriffe geblieben.

Aber sonst waren meine Eltern sehr nett mit uns Kindern. Eins von uns durfte immer mitfahren, wenn sie ein Reise machten. Ich war mit in Monte Carlo, als ich fünf Jahre alt war. Dort war kein Kind, mit dem ich spielen konnte, und es gab keine Wiesen und es war sehr langweilig. Unser Mädchen hat sich wohl auch sehr gelangweilt, denn sie ging abends immer fort, kam erst spät morgens wieder, brachte mir Bonbons: »Nichts sagen, Emmaus!«

In der Morgendämmerung wachte ich einmal auf und beschloss, nun endlich allein spazieren zu gehen. Ich zog mich schnell an, nahm mein Spazierstöckchen und ging auf die Strasse. »Alle Herren dürfen ohne Kindermädchen ausgehen. Also wenn ich allein ausgehe, bin ich ein Herr.« Ich fühlte mich als Erwachsener. Es war herrlich. Ich kam an einen grossen Palast, der sah aus, wie ganz aus Zucker gebaut. Innen noch hell beleuchtet. Viele Menschen gingen ein und aus. Ich erschrak sehr, als ich Papa herauskommen sah. Glücklicherweise bemerkte er mich nicht. Er war ganz grün im Gesicht und sehr traurig und wackelte so komisch mit den Beinen. Der Portier wollte mich nicht hineinlassen, aber ich war schneller und lief die Stufen hinauf. Da war ein grosser Tisch, um den sassen und standen viele Herren und Damen. Ich konnte nicht sehen, was sie machten, deshalb bat ich eine Dame, sie sollte mich auf ihren Schoss nehmen. Sie tat es lachend. Sie gefiel mir, denn sie 10 war alt, sehr schön angezogen und roch sehr gut. Sie war ganz weiss angemalt im Gesicht, nur auf jeder Backe ein roter Fleck und die Augen schwarz und blau. Sie gab mir ein Stückchen Schokolade, sagte etwas von fortune, drückte mir ein Goldstück in die Hand, das sollte ich setzen, irgendwohin. Immer wieder eins. Und auf einmal hatte sie einen grossen Haufen solcher Goldstücke vor sich liegen und es wurden immer mehr. Alle Leute sahen zu ihr hin und einige wollten mich ihr wegnehmen, aber sie gab mich nicht her. Schliesslich wurde es mir langweilig und ich fing an zu weinen. Sie stand auf, steckte die Goldstücke in ihre grosse Handtasche, aber es gingen nicht alle hinein, und so stopfte sie auch mir alle Taschen mit Goldstücken voll. Dann küsste sie mich und sagte: »Merci mon petit ami. A demain n'est ce pas?«

Ich war nicht mehr froh, denn ich hatte noch nicht gefrühstückt, lief schnell heim ins Hotel. Da hatte man gar nicht gemerkt, dass ich fort war. Mama sass und weinte, nahm mich in die Arme und küsste mich ab. Sie schluchzte: »Du armes Kind, jetzt haben wir gar kein Geld mehr.« Sie tat mir leid, denn sie hatte mich noch nie so lieb gehabt. »Schau, ich habe dir etwas Schönes zum Spielen mitgebracht«, tröstete ich sie und gab ihr alle Goldstücke aus meinen Taschen. »Emmaus, du Glückskind, wo hast du das her? Wir sind gerettet.« Sie sprang auf und lief ins Nebenzimmer. Dort lag Papa im Bett und schnarchte. Zum Frühstück bekam ich Kuchen und zwei Tassen Schokolade.

An diesem Tage gingen meine Eltern mit mir zum ersten Mal spazieren, auf der Promenade. Komische 11 Menschen waren da. Eine uralte Dame, die wie ein junges Mädchen sehr bunt angezogen war, wurde von Mama besonders abscheulich gefunden. Sie führte zwei dicke Möpse an einem Seidenband, drehte sich nach allen Herren um und lächelte.

Da bemerkte sie mich, kam auf uns zugelaufen, hob mich auf und küsste mich. Sie sprach sehr viel und schnell. Mama war entsetzt und wollte mich fortziehen, aber das ging nicht so leicht. Und ich sagte zu Mama: »Das ist doch meine Freundin, die mir die Goldstücke gegeben hat.« »Kinder sollen mit Kindern spielen und nicht mit alten Cocotten«, antwortete Mama.

Am nächsten Tag sind wir abgereist. Vorher kam die komische Dame zu uns ins Hotel und wollte durchaus, ich sollte mit ihr spielen gehen. Ich hätte Lust dazu gehabt und fragte sie: »Kannst du Seilchen springen?« Nein, so meinte sie es nicht.

Sie hat mir dann zum Abschied einen von ihren Möpsen geschenkt. Den durfte ich mitnehmen. Er hiess Napoleon.

Napoleon war bald der Liebling der Familie und in der ganzen Stadt bekannt, weil er der einzige Mops war, den es dort gab. Er war allerdings sehr fett und faul. Wenn wir einen Spaziergang mit ihm machten, wurde er schnell müde und wir mussten eine Droschke nehmen, um heim zu fahren. Das gefiel ihm sehr gut. Er fing an, allein spazieren zu gehen, in der Stadt in einen Wagen zu springen und den Kutscher anzubellen. Der wusste immer schon, wo Napoleon wohnte, und fuhr ihn uns ins Haus. Das geschah oft und wurde sehr teuer.

Aber es ist ihm nicht immer geglückt. Der König 12 sollte unsere Stadt besuchen und in festlichem Zuge vom Bahnhof abgeholt werden. Aller Wagenverkehr war gesperrt. Napoleon hatte es nicht gewusst und war ratlos. Er versuchte vergeblich, in den Wagen des Königs zu springen. Es blieb ihm nichts übrig als zu Fuss zu gehen. In den geschmückten Strassen stand das Volk Spalier, von grimmigen Polizisten zurückgedrängt, in atemloser Erwartung. Erst kam ein Trupp Kavallerie in Galauniform geritten, langsam und feierlich. Hinter ihnen in der Mitte der Strasse, vor der königlichen Equipage, schritt Napoleon. Alle Leute begrüssten ihn lachend und die Würde des Einzugs hat sehr darunter gelitten.

Deshalb gab es dann viele Schwierigkeiten mit den Behörden. Meinem Vater wurde der Rang als Reserveoffizier aberkannt. Napoleon sollte in den Anklagezustand versetzt werden. Wir fühlten uns alle schuldbewusst und betrübt. Napoleon selbst empfand, dass er nicht mehr beliebt war, wurde immer trauriger und asthmatischer. Als wir wieder einmal in stummer Verzweiflung vor dem Kamin sassen, setzte er sich in unsere Mitte, wartete auf und blickte uns, die Pfoten erhebend, der Reihe nach wehmütig an, als ob er um Verzeihung bitten wollte. Sie wurde ihm nicht gewährt. Er leckte mir die Hand, schnarchte ein paar Mal tief auf, legte sich hin und starb.

Der Behörde wurde dies in einem offiziellen Schreiben mitgeteilt. Ich weinte sehr. Auch Mama war traurig, schlug vor, ihn ausstopfen zu lassen und in den Salon zu stellen. Papa wollte nichts davon wissen, denn er konnte zwecklose Gegenstände nicht leiden. Alles musste einen Sinn haben. Sogar das Klavier in der guten Stube war so eingerichtet, dass 13 es auch zum Aufbewahren von Likörflaschen diente. Man fand einen Kompromiss: Napoleon wurde ausgestopft und mit einer Uhr ausgefüllt, deren Ziffernblatt seitlich auf dem Bauch war. Durch Drehen des Ringelschwanzes wurde sie aufgezogen. So hat er noch viele Jahre auf dem Kamin gestanden.

Nach diesem traurigen Fall lastete die gedrückte Stimmung noch lange auf uns allen. An einem trüben, feuchten Novembertag breitete sie sich fast greifbar in unserer Wohnung aus. Ich sass mit Eltern und Geschwistern beim Mittagessen, in dem hohen düsteren Speisezimmer, von dessen dunkeltapezierten Wänden die Porträts meiner Grosseltern sorgenvoll herabzublicken schienen. Lebenswahre Bilder, die Grossmutter mit ihrem Strickstrumpf und der Grossvater im Schmuck seines mächtigen Vollbarts, vom Gesicht bis zum untersten Westenknopf. Schweigend löffelten wir die Suppe. Konnte wirklich der Gedanke an Napoleons Fehltritt und Tod allein der Grund unserer tiefen Verstimmung sein? Dann klimperte jemand im oberen Stockwerk den Chopinschen Trauermarsch. Es war nicht mehr zum Aushalten. »Ein trostloser Tag!« seufzte meine Mutter. Wilhelmine, so hiess unser Mädchen, brachte das Hammelragout herein. Plötzlich ein Krach, ein Schrei – das Bild meines Grossvaters war von der Wand gefallen und mitten in die Schüssel. »Da hat sich was gemeldet«, wimmerte das Mädchen, »es gibt ein Unglück!« »Es hat schon ein Unglück gegeben«, sagte mein Vater, »sogar mehrere. Ich bin nicht mehr Reserveoffizier, und das Hammelragout ist hin.«

Aber Wilhelmines schlimme Ahnung sollte sich bewahrheiten. Am Nachmittag kam die Grossmutter in 14 Tränen aufgelöst zu uns. »Um Gotteswillen«, rief Mama, »was ist geschehen? Etwa der Grossvater . . .?« »Ja . . . woher weisst du? Entsetzlich, furchtbar, euer guter, alter Grossvater . . .« »Was ist, was ist? Krank?« »Schlimmer, viel schlimmer – in seinen Bart sind die Motten gekommen. Wir haben ihn mit Naphtalin einstreuen müssen.«

Seit dieser Familienkatastrophe bin ich geneigt, an Vorzeichen zu glauben.

Auf die nächste Reise ist mein Bruder mitgenommen worden. Es ging ins bayrische Gebirge, nach Garmisch-Partenkirchen. Dort hat mein Bruder etwas gesehen, das sein ganzes ferneres Geschick beeinflussen sollte.

Sie wurden in einem Kahn über den Baadersee gerudert. In der Mitte sagte der Schiffer: »Wenn die geehrten Herrschaften hier ins Wasser schauen, werden sie die Seejungfrau erblicken.« Sie sahen tatsächlich tief auf dem Grunde des kristallklaren Sees eine Seejungfrau liegen, in den Wellen, die das Boot aufwarf, schien es, als ob sich ihr Fischschwanz bewegte und ihr Gesicht lockend lächelte. Mein Bruder konnte sich von dem Anblick kaum losreissen. Jeden Tag ist er auf den See hinausgefahren, um die Seejungfrau wiederzusehen. Einmal hat er versucht, zu ihr hinabzutauchen. Das Wasser war tief und sehr kalt, er wäre beinahe ertrunken. Er hat sich erkältet und Fieber bekommen, immer hat er von der Seejungfrau phantasiert. Wieder zu Hause, erzählte er mir oft von ihr und wie schön sie sei. Ich habe sie später auch gesehen, aber im Winter, da lag sie auf dem Heuboden zur Aufbewahrung. Sie war aus Holz und gar nicht sehr schön. Aber mein Bruder träumte 15 Tag und Nacht von Seejungfrauen, war von einer verrückten Sehnsucht besessen. Als er 16 Jahre alt war, ist er durchgebrannt, heimlich nach Hamburg gefahren, um Matrose zu werden. Liess sich auf einem Schiff anheuern, das zur Hebung eines Wracks in See ging. Er wurde Taucher, hoffte immer noch, auf dem Meeresgrund Seejungfrauen zu finden.

Als das Wrack untersucht werden sollte, liess man ihn im Taucheranzug in die Tiefe gleiten. Dort ging er langsam zwischen unterseeischen Felsen und seltsamen Seetieren, Fische zogen am Glasfenster seines Taucherhelms vorbei und glotzten ihn an. Da sah er etwas Fleischfarbenes, Arme, die ihm zuwinkten – die Seejungfrau. Viel schöner als er sie je erträumt hatte. Er versuchte, hinzueilen. Sie kam schon auf ihn zu, wollte ihn küssen, drückte ihren Mund auf die Glasscheibe. Sie umarmten sich wollüstig in sehnsüchtigem Verlangen. »Endlich, endlich, – das ist das Glück.« Ein süsser Wirbel umfasste ihn, eng vereint mit der Seejungfrau sank er entzückt in Bewusstlosigkeit.

Nach einiger Zeit wanden ihn die Matrosen herauf. Als er an der Oberfläche erschien, sahen sie, dass ein riesiger Oktopus ihn mit seinen Fangarmen umklammert hielt und schon das Glas eingedrückt hatte. Man zog meinen Bruder schnell aus dem Taucheranzug. Er war tot. Ein seliges Lächeln verklärte sein Gesicht.

Früher hatte ich manchmal mit meinem Bruder darüber gesprochen, ob es ein Leben nach dem Tode geben könne. Wir glaubten es zwar nicht recht, aber wir gelobten uns feierlich, dass, wer von uns zuerst sterben würde, dem anderen ein Zeichen geben sollte. Wir waren beide keine grossen Helden, die Sache 16 durfte nicht unheimlich sein. So fanden wir, es wäre das Einfachste, der Überlebende bände sich nachts einen Strick an die grosse Zehe und liesse ihn zum Bett hinaushängen. Der andere sollte dann ein bischen daran ziehen. So war es beschlossen worden. Als die Trauerbotschaft bei uns eingetroffen war, dachte ich viel an meinen armen Bruder und hielt es für meine Pflicht, unserer Verabredung nachzukommen. Beim Zubettgehen knüpfte ich mir einen Bindfaden an die grosse Zehe, und das andere Ende reichte fast bis an den Fussboden. Wie immer, wenn ich traurig bin, schlief ich besonders fest und traumlos. Mitten in der Nacht fuhr ich auf. Der Mond schien hell ins Zimmer. Ich war zuerst noch etwas benommen, dann spürte ich ein leises Ziehen an meiner Zehe. Ich fürchtete mich entsetzlich und war in Schweiss gebadet. Endlich fand ich die Kraft, mich im Bett aufzurichten und zu rufen: »Ich danke dir, dass du gekommen bist. Wie ist es im Jenseits?« Der Klang meiner Stimme beruhigte mich. Da zupfte es wieder an meinem Fuss. Ich raffte meine letzte Courage zusammen, machte Licht und erblickte das weisse Fell einer jungen Katze, die mit dem Faden spielte. Sie schnurrte und sprang davon. Ich musste lachen, band den Faden los und schlief ruhig und ungestört weiter.

Am nächsten Morgen sagte ich zu unserer Hausmeisterin, sie solle nachts ihre Katze besser einsperren. Entrüstet behauptete sie, die sei nicht aus dem Zimmer gekommen, holte sie heraus, um es zu beweisen. Ach ja, sie war ja nicht weiss, sondern schwarz und grau gestromt. Ganz sicher war ich nicht, ob sich mein Bruder nicht doch gemeldet hatte. 17

Ich fragte unseren Mathematiklehrer, ob so etwas möglich und mit den Naturgesetzen vereinbar sei. Nachdenklich antwortete er: »Vor einem halben Jahr noch hätte ich es glatt verneint. Inzwischen hat aber mein Freund, der berühmte Astronom Professor Zöllner, alle meine Anschauungen umgestürzt. Er hat das Gesetz der vierten Dimension entdeckt und experimentell bewiesen. Er beschäftigt sich nur noch mit den neuesten spiritistischen Problemen. Mr. Slade, ein amerikanisches Medium, führt ihm, natürlich gegen gute Bezahlung, unbegreifliche Dinge vor. Heute Abend ist eine Sitzung dort, du darfst mitkommen.«

An jenem Abend sassen wir in Professor Zöllners Studierzimmer. Ein blaubeschirmtes, niedrig brennendes Gaslicht leuchtete kaum heller als ein Glühwurm. Wir hielten uns an den Händen gefasst und sangen auf Wunsch Mr. Slades das Lied: »Fischerin, du kleine, fahre nicht alleine, fahre nicht im Sturmgebraus auf die wilde See hinaus . . .« Wir hatten es schon elfmal hintereinander gesungen, und es zeigte sich immer noch nichts. »Eigentlich schade«, brummte Professor Zöllner, »ich glaube, den Kleinen können die Geister nicht leiden, und gerade heute sollten sie sich materialisieren.« In diesem Augenblick fing es an, stark nach Phosphor zu riechen, dann schwebte eine riesengrosse, leuchtende Hand durch den Raum und patschte mir feuchtkalt ins Gesicht. Ich erschrak und wollte nach Hause gehen. Aber der Professor hielt mich zurück, bis er die Hand in Gips abgeformt hatte. Dann drehte er die Gasflamme hoch. Slade lag bleich im Lehnstuhl. Von der Gipsform wurde ein Wachsabguss gemacht. Auf dieser Wachshand bemerkte ich die erhöhten Buchstaben L. G., und 18 Mr. Slade erklärte uns, als er zu sich gekommen war, das sei die Geisterhand Luigi Galvanis gewesen.

Mein Vater besass eine Gummifabrik, und ich ging manchmal hin, um anzusehen, was da fabriziert wurde. Dort fand ich bald nach jener Sitzung einige Gummihandschuhe, die an der Armseite geschlossen und mit einem langen Schlauch zum Aufblasen versehen waren. Auf den Handschuhen stand L. G., das Firmenzeichen der Leipziger Gummiwarenfabrik. Der Geschäftsführer erzählte mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ein verrückter Amerikaner, namens Slade, sie eigens anfertigen liesse, man verdiene schön an dem Artikel.

Ich stürzte zu Professor Zöllner, um ihn über den Schwindel aufzuklären. Der lächelte überlegen: »Nein, mein Gutester, da haben wir eine viel bessere Erklärung, und die Wissenschaft irrt sich nie.« Ich erzählte dann den Fall meinem Vater, aber der wies mich ab: »Ich kenne keinen Mr. Slade, und wir haben nie Gummihandschuhe fabriziert. Du hast wohl geträumt? Kümmere dich lieber um deine Schulaufgaben!«

Noch heute frage ich mich: war das mit den Gummihandschuhen nur ein Traum oder fürchtete mein Vater, einen Kunden einzubüssen? 19

 


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