Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Diana

Am nächsten Vormittag ging ich zur Bildergalerie, Neue Pinakothek heisst sie. Ein trüber Tag, nasskalt, schon fiel der erste Schnee. Auch im Museum war es traurig, wie in allen Museen, den Katakomben der Kunst. Öde und menschenleer streckten sich die bilderbehangenen Hallen. Jetzt war keine Reisesaison, und die Einwohner der Stadt verirrten sich niemals in diese Räume. Ich musste unten meinen Schirm abgeben, dann wandelte ich durch die Einsamkeit zum Hunyadi-Saal. Da hing mein Bild zwischen einem pfeildurchbohrten heiligen Sebastian des Greco und einem intensiven Selbstporträt Van Goghs, beide angeblich echt. Aber Vevi lächelte glückstrahlend, nun lebte sie mir wieder. Ach, und unser Kind, der kleine Vincenz! Den hatte ich ganz vergessen. Was mochte aus ihm geworden sein? Er wäre wohl schon zwei Jahre alt. Ich beschloss, mich mehr für ihn zu interessieren, Vatergefühle zu haben, später, jetzt wollte ich Vevi küssen. Ich schaute mich um, ob nicht doch vielleicht ein Zuschauer da wäre, bemerkte eine verlassene Malstaffelei in einiger Entfernung, darauf eine Leinwand. Farbenkasten und Palette lagen noch daneben am Boden. Jemand hatte angefangen, mein Bild zu kopieren. Miserabel! Welch ein Pfuscher mochte das gemacht haben! Nein, so durfte es nicht bleiben. Ich ergriff Pinsel und Palette, 515 setzte frische Farben auf und versuchte Einiges zu verbessern, geriet in Eifer und auf einmal hatte ich alles übermalt, in flüchtigen, skizzenhaften Strichen Vevis Bild wiederholt. Es war, als ob ich sie nach dem Leben malte, heiss stieg die Erinnerung in mir auf, erneuerten sich die Empfindungen jenes Tages. Ich fühlte mich entrückt in Sonne und Paradies.

»So eine Frechheit! Jetzt haben Sie mir meine ganze Arbeit verpatzt!« Plötzlich wurde ich heftig in den Rücken gestossen und zur Seite geschoben. Eine schmale, harte Hand entriss mir die Palette. Schmal und hart war auch das Gesicht der dazugehörigen Malerin, aber nicht hässlich, ziemlich regelmässige Formen, Nase etwas zu spitz, nicht mehr jung. Ich starrte sie an, schwieg etwas verlegen und nachdenklich.

»Nun?!« fauchte sie zornig.

»Sie sind eigentlich ganz schön«, sagte ich, »keine Venus allerdings, mehr eine Diana. Ich könnte Sie mir gut mit Pfeil und Bogen durch die Wälder streifend denken, vielleicht passte das besser zu Ihnen als Pinsel und Palette und Pinakothek«.

»Wieso? Was fällt Ihnen ein! Ob ich hässlich oder schön bin, das kommt hier gar nicht in Betracht.«

»Doch ein bisschen. Wenn Sie unangenehm aussehen würden, könnte ich Ihnen sagen, dass Sie keine Erlaubnis haben, mein Bild zu kopieren, mich erst fragen müssten.«

»Ihr Bild, Unsinn! Es gehört Herrn Hunyadi und ich kopiere es für ihn. Schon zum dritten Male.«

»Und die Signatur?«

»Auch.«

»Das ist bekanntlich strafbar. Wenn ich Sie der Polizei übergebe, werden Sie eingesperrt.« 516

»Und ich werde Sie der Polizei übergeben weil sie meine Kopie ruiniert haben. Sachbeschädigung. Was geht Sie das Bild an? Sie verstehen nichts von Kunst, sonst hätten Sie mir nicht so unverschämt alles verschmiert.«

»Ich bin nämlich der Maler des Originals. Ich heisse Emmaus. Nun wollen wir einmal vernünftig sein, Diana.«

»Kennen Sie mich denn? Woher wissen Sie überhaupt, dass ich Diana heisse?«

»Heissen Sie wirklich so? Ich wusste es garnicht.«

»Ja natürlich! Diana Käsbohrer. Ein dummer Name, nichtwahr? Papa war nämlich Gymnasialoberlehrer.«

»Wieviel bezahlt Ihnen Hunyadi für eine Kopie?«

»Fünfundvierzig Mark, Malmaterial frei geliefert.«

»Für das Original verlangt er zwanzigtausend, habe ich gehört. Das hier ist nicht mehr Ihre Kopie sondern jetzt Originalarbeit von mir.« Ich nahm ihr den Pinsel aus der Hand und signierte das Bild. »So, jetzt muss er Ihnen mindestens zehntausend Mark dafür geben.«

»Jetzt hätte ich Ihnen wohl noch dankbar zu sein, dass Sie meine Arbeit so zugerichtet haben?«

»Nein. Sie haben bloss kein Talent.«

»Das weiss ich, aber man muss doch leben.«

»Muss man? Weshalb? Viele Leute müssen sogar sterben. Die Frau, die ich da gemalt habe, ist gestorben.«

»War es Ihre Frau?«

Ich zeigte auf meinen Armflor.

»Kürzlich erst? Deshalb sind Sie wohl heute hierhergekommen? Sie haben sie gewiss sehr geliebt. Verzeihen Sie, dass ich Sie beleidigt habe.« Tränen standen ihr in den Augen. 517

»Sind Sie traurig, weil ich sagte, dass Sie kein Talent haben?«

»So schön und nun ist sie tot! Ach, wenn ich nur ein bisschen so schön sein könnte, wäre ich auch geliebt worden und gern würde ich sterben.« Sie setzte sich auf die gepolsterte Bank mitten im Saal, stützte die Ellbogen auf die Kniee, vergrub das Gesicht in die Handflächen. Ich fand, dass ihr geschmeidiger Körper in dieser Stellung eine elegante, ausdrucksvolle Linie bildete, fühlte mich gerührt. Ich setzte mich neben sie, legte den Arm um ihre Hüften.

»Sie werden doch nicht behaupten, dass sich nie jemand in Sie verliebt hat?«

»Ach, ich habe viele Enttäuschungen erlebt. Jetzt werde ich schon alt, bekomme scharfe Züge. Männer sind Egoisten. Nur einer war wirklich ein fein empfindender Mensch, ein bisschen zu pathetisch vielleicht. Immer wenn unsere Herzen sich ganz nahe kamen, dann fiel ihm der Name Diana Käsbohrer ein und er musste lachen und es war aus. Komik tötet die Liebe.«

»Nein, Diana, ich finde dich nicht komisch und du bist nicht alt und ich könnte mich in dich verlieben.«

Sie erhob ihr Gesicht aus den Händen, wendete es mir zu, ernst, mit weitgeöffneten Augen. Wir schauten uns tief und lange an, dann senkte sie die Lider, lächelte ein wenig, bog den Kopf zurück und lehnte ihn an meine Schulter. Ich umfasste sie fester.

Sie stand auf: »Hier ist es unheimlich, Van Gogh durchbohrt uns mit seinen Augen und der Sebastian schaut uns entsetzt an. Wir wollen in den Carton-Saal gehen, wo die grossen, klassischen Cornelius-Werke hängen und die Konturzeichnungen der Nazarener. 518 Dahin kommt sicher kein Besucher, dort sind wir ganz ungestört.«

Hand in Hand zogen wir an langen Bilderwänden vorbei, schauten sie nicht an, nur uns gegenseitig.

»Du hast einen elastischen, federnden Gang, Diana, fast sportlich.«

»Voriges Jahr war ich Weitsprung-Meisterin von Bayern. Jetzt trainiere ich mehr auf Speerwerfen.«

»Eine Diana!«

»Ja, merkwürdig, wie du das gleich herausgefühlt hast.«

»Du bist also doch begabt. Besser gut gesprungen als schlecht gemalt.« Vor den blutleeren Bildern des Cornelius stand eine grosse Bank, besonders weich gepolstert, denn im Sommer kam manchmal ein Ferienreisender ins Museum und wurde in diesem Saal vom Schlaf übermannt. Wir liessen uns darauf nieder, küssten uns, zuerst flüchtig, dann sehr ernstlich.

»Herr Emmaus – wenn du mich erst lang genug kennst – glaubst du – du – wirst mich wirklich lieben können?«

»Nicht erst dann. Jetzt.«

»Oh«, seufzte sie, wir umarmten uns heiss, sanken miteinander auf die Polster. Ein Orkan riss uns in jagende Wolken, wir flogen hoch über Berge und Täler. Dann, auf weissen Pferden, durch Frühlingswiesen, ritten wir langsam zurück in die Wirklichkeit. Wir ruhten wortlos, ergriffen, eine Weile beisammen. Sie strich mir sanft über die Haare. Ich hielt eine ähnliche Geste für notwendig, küsste sie ungemein zart auf die selig geschlossenen Augen.

Sie erfasste meine Hand.

»Du sollst ewig bei mir bleiben.« 519

»Nein, die erste Skizze ist immer besser als das ausgeführte Bild.«

»Du hast doch so schöne Bilder ausgeführt. Wenn ich je geträumt hätte, dass der berühmte Maler Emmaus – ach, ich weiss, du verachtest mich jetzt – weil ich – gestern haben wir uns noch gar nicht gekannt. Sage, dass du mich verachtest!«

»Bitte keine Minderwertigkeitsgefühle! Du, die Meisterin von Bayern!«

Ich erhob mich.

»Ich komme mit dir ins Atelier.«

»Ich habe kein Atelier. Ich wohne doch im Schloss.«

»Im Schloss? Bist du mit dem Präsidenten Emmaus verwandt?«

»Allerdings. Sehr nahe sogar.«

»Um Gotteswillen! Du bist es selbst. Dann bin ich dir freilich nicht vornehm genug.«

»Du Dummes! Bitte, komm' morgen zum Mittag zu mir, zwei Uhr, wird mich sehr freuen.«

»Aber du musst mir versprechen, dass du mich nicht umbringen lässt.«

Bei diesen Worten fiel mir Vevi wieder ein. Ich setzte mich auf den Rand der Polsterbank, wurde sehr betrübt. Diana auch. Schliesslich weinten wir beide. Sie schluchzte noch, als sie einschlief. Ich ging leise hinaus, weckte unten die Garderobefrau, die ebenfalls schlief mit meinem Schirm fest im Arm, als ob er ewig bei ihr bleiben sollte. So ging ich wieder ins Schloss.

Diana hielt es für lebensgefährlich, ins Schloss zu kommen! So gab es also immer noch einige, die mich mit dem Herzog verwechselten. Dagegen musste etwas unternommen werden. Ich verfasste sogleich ein Flugblatt, in dem ich den ganzen Fall von Anfang an mit 520 allen Einzelheiten schilderte und betonte, wie abgrundtief verschieden Ikarus von mir war. Das wurde im ganzen Reich verbreitet, den Zeitungen zum Abdruck übergeben, im Rundfunk vorgetragen.

Kluft war glücklicherweise stets skeptisch gewesen, und so oft Ikarus mein Depot anzugreifen versuchte, hatte er die Auskunft bekommen: kein Guthaben. Mit der Post erhielt ich jetzt einen Konto-Auszug der Bank, ich durfte ohne Sorge für meine materielle Zukunft sein. Auch Oberhaus gehörte noch mir, ich wollte demnächst einmal hinfahren um nachzuschauen, denn nun hatte sich doch schon lange niemand darum gekümmert, wer weiss, ob sich nicht auch dort irgend ein Usurpator aufgetan hatte. Schmerzlich genug würde es sein, so viele liebe Erinnerungen wieder aufzufrischen. Vielleicht fiele es mir leichter, wenn Diana mich begleitete. Nur kannte ich sie noch wenig, wusste nicht, ob sie Zartgefühl und Zurückhaltung genug besässe, um die Bitterkeit meiner wehmütigen Rückkehr zu mildern.

Im einer Vitrine standen kostbare Nymphenburger Porzellanfiguren, darunter eine Diana neben einem Rehkalb schreitend, wohl nach antikem Vorbild. Wie eine Huldigung für meinen Gast stellte ich sie vormittags in die Mitte des Tisches, als ich antelephoniert wurde.

»Herr Präsident Emmaus?«

»Ja, am Apparat.« – »Diana Käsbohrer spricht. Erinnern Sie sich meiner noch?« Aha, sie war vorsichtig. Gut!

»Natürlich. Du kommst doch zum Essen?«

»Verzeihung, Herr Präsident, ich vergass ganz zu sagen, ich esse nie Fleisch.« 521

»Wird vom Präsidenten genehmigt.«

»Und dann, ist es nicht besser, wenn wir Sie zu einander sagen?«

»Gehört das zur fleischlosen Kost?«

»Vielleicht.«

»Also auf Wiedersehen um zwei.«

»Auf Wiedersehen. Ach und dann habe ich noch eine Bitte, Herr Präsident, dürfte ich meinen Bräutigam mitbringen?«

»Was?! Deinen – seit wann sind Sie denn verlobt?«

»Seit gestern Abend, Herr Präsident.«

»Bringen Sie ihn nur mit.«

Das nahm mir den Atem so, dass ich das Gespräch nicht fortsetzen konnte. Ich lachte heftig. Aber vielleicht war es nur ein Trick, weil sie sich fürchtete allein zu kommen. Ich würde ja sehen.

In der Küche war man nicht sehr erfreut, dass nun das Menu auf Vegetarisch umgestellt werden musste. Mich störte es nicht, ich sorgte auch für alkoholfreies Getränk.

Pünktlich zwei Uhr kamen die Gäste. Diana, in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, schien heute weicher, gelöster, jugendlicher. Sie versuchte eine Art Hofknix, gab es auf, als sie sah, wie komisch das auf mich wirkte.

»Herr Präsident, darf ich Ihnen meinen Verlobten vorstellen? Doktor Hellmuth Schnipser.«

Er trug einen bereits etwas glänzenden, dunkelblauen Anzug, war kleiner als Diana, mager. Durch Hornbrille und lange, braune, am Scheitel schon gelichtete Haare, war versucht, dem Gesicht ein wenig Individualität zu geben. Auf dem Rockkragen hatten 522 sich Kopfschuppen abgelagert. Er machte eine tiefe, feierliche Verbeugung. Ich drückte ihm die Hand.

»Sehr angenehm! Auch Vegetarier, Herr Doktor?«

»Aus tiefinnerlicher Überzeugung, Herr Präsident.«

»Also nicht aus verdorbenem Magen?«

»Nein, aus unverdorbener Seele, wenn Herr Präsident gestatten.«

»Na, dann können wir ja gleich zu essen anfangen. Ich habe nämlich Hunger, und die Unterhaltung vor Tisch ist immer ein bischen steif.«

Wir setzten uns. Es war so gedeckt, dass wir nur die eine Hälfte des runden Tisches einnahmen, Diana sass zwischen uns. Geniessend löffelte Doktor Schnipser seine Suppe.

»Eine unübertreffliche Minestra!«

»Ja, wir beziehen sie direkt aus Italien. In Fässern. Waren Sie in Italien, Herr Doktor?«

»Noch nicht, vielleicht werden wir das Land der Orangen zum Ziele unserer Hochzeitsreise wählen.«

»Können Ihre Patienten Sie so lange entbehren?«

»Ich bin nicht Arzt, ich bin Dr. phil.«

»So, also Lehrer?«

»Nein Ethiker.«

»Wie macht man denn das?«

»Meine Lebensaufgabe ist die Ertüchtigung der gesammten Volksgemeinschaft, A im negativen Sinne, indem ich nachweise, was zu unterlassen ist, B im positiven Sinne, indem ich aufbaue.« Dabei häufte er sich einen riesigen Berg der Vorspeise auf seinen Teller.

»Im Aufbau ist er gross«, sagte Diana, scheinbar tiefernst.

»Sehr interessant, Herr Doktor, da kann ich sicher viel lernen.« 523

»Zweifellos! Der Meteor hat die Bedeutung der ethischen Methoden niemals in ihrer ganzen Tiefe erfasst. Mögen seine Ziele auch oft billigenswert sein, so sucht er sie doch auf Irrwegen zu erreichen. Nehmen wir zum Beispiel den Völkerfrieden. Kann ein Tiger neben einem Schaf wohnen, ohne es zu zerfleischen? Nein, er kann es nur, wenn er beschliesst, sich ebenfalls von Pflanzen zu ernähren. Also ist Fleischnahrung der Urquell aller blutgierigen Instinkte, bei Tieren sowohl als bei Menschen. Durch Weltgesetz muss der Fleischgenuss verboten werden, dann ergibt sich die Abrüstung ganz von selbst. Der Meteor sollte darin vorangehen. Wollen Sie mir versprechen darauf hinzuwirken, Herr Präsident?«

»Ich bin gegen alle Verbote. Aber man kann die Viehpreise so erhöhen lassen, dass Fleischgenuss unmöglich wird. Diese Ethik dürfte auch den Bauern sehr einleuchten. Sind Sie schon lange mit Fräulein Käsbohrer verlobt?«

»Wir lernten uns im Verein für naturgemässe Lebensweise und Leibesübung kennen, abgekürzt ›Nalelei‹, den ich geschaffen habe. Von Anbeginn bewunderte ich das klassische Ebenmass ihres Körpers, ihre Kraft, ihre herbe Jungfräulichkeit, ihre künstlerische Begabung.«

»Ja, Diana ist hervorragend.«

»Nichtwahr? Es gereicht mir zur innigen Freude, dass Sie Dinchens Leistungen Beifall zollen. Gestern Abend, im Nalelei, schilderte sie mir das Zusammentreffen mit Ihnen und wie Sie ihre Malerei für so vollkommen erachteten, dass Sie nicht umhin konnten, dieselbe eigenhändig zu signieren und den Wert der Arbeit auf zehntausend Mark festzusetzen. Eine 524 Anzahl von fünf Werken gleicher Kostbarkeit dürfte wohl jährlich ihrer Staffelei entquellen können. Während mich bis daher Erwägungen wirtschaftlicher Natur stets genötigt hatten, meine Gefühle hintanzuhalten, sah ich nun mit einem Male diese Hindernisse schwinden und konnte die elementare Gewalt meiner Zuneigung nicht mehr eindämmen. Ich legte ihr mein Herz zu Füssen und sie, die Herrlichste von Allen, nahm es huldvoll auf.«

Er warf ihr einen verliebten Blick zu und wollte ihre Hand drücken, was er umso leichter tun konnte, da eben eine Pause zwischen zwei Gängen des Mahles war.

Sie hatte ihre Hand aber unter dem Tisch, wo sie gerade die meinige drückte. Deshalb fand er sie nicht und versuchte, sich mit ihrem Knie zu begnügen. Dort traf er leider meine andere Hand. Die kniff ihn fest in die Finger.

»Au!« schrie er, »ist ein Hund hier?« Er beugte sich zur Seite, hob das Tischtuch, um nachzuschauen.

Da sassen wir schon wieder steif und korrekt nebeneinander, Diana und der Herr Präsident.

»So werden Sie nun Frau Ethikerin, ich gratuliere«, setzte ich das Gespräch, zu ihr gewendet, fort.

»Danke«, sagte sie bloss und lächelte, während Herr Doktor Schnipser weiterredete:

»Hand in Hand mit ihr wird die Arbeit an der Veredlung und Hinaufzüchtung unseres Volkstums umso erfolgreicher sein, wenn Herr Präsident geneigt sind, mit Hand anzulegen. Sache der Gesetzgebung ist es, unter Androhung schwerster Strafen, jedem Volksgenossen zu befehlen, dass er sich sofort mit allen Fasern des Seins zutiefst im Heimatboden verwurzle. 525 Meine Schrift ›Mensch ertüchtige dich!‹, die nur der niedrige Geldwille der Verleger bislang der Öffentlichkeit vorenthielt, weist den Weg, welcher einzuschlagen ist, um die erdgebundenen Grundlagen alles transzendentalen Höherstrebens zu realisieren. Die ethischen Belange – – –.«

In diesem Augenblick wurde Kluft gemeldet, schon stürmte er herein, voller Wichtigkeit:

»Ich habe sie, ich habe sie!«

Schnell die übliche Vorstellung, dann fragte ich: »Wen oder was haben Sie?«

»Ihre Frau natürlich.«

»So ist doch ein Wunder geschehen, sie lebt?«

»Leider nicht. Mit peinlichster Sorgfalt wurden die Flussläufe abgesucht. Unweit der Stadt Landshut fand man dabei die Leiche Oberstandartenwart Horzels in der Isar, sie wird seiner Familie übergeben. Inzwischen war ein Herr des Flussbauamtes auf die Idee gekommen, zunächst einmal im Stadtbach selbst zu suchen und, richtig, fast direkt unterhalb des Schlosses hatte sich ein vorstehendes Stück Eisen in das Kleid Ihrer Frau Gemahlin verhakt und gehindert, dass sie fortgeschwemmt wurde. Die Gerichtskommission ist auf meine Veranlassung sofort zusammengetreten und hat das Protokoll aufgenommen. Ich habe dafür gesorgt, dass Sie fern bleiben konnten. Sie sind wohl einverstanden, dass Ihnen der furchtbare Anblick erspart wird?«

Ich nickte stumm, erschüttert. Diana ergriff teilnehmend meinen Arm und führte mich in einen Lehnstuhl. Sie und die anderen setzten sich mit besorgten Mienen zu mir.

Man servierte den Mokka. Doktor Schnipser wies 526 ihn streng zurück, betonte scharf: »Der Volksgesundheitler lehnt den Kaffee ab, als welcher ein nicht minder unheilvolles Vergiftungselement darstellt denn Alkohol und Tabak. Zumal die heimischen Fluren uns in der Gerste sowie in der Frucht des gewaltigen Eichbaums vollwertigsten Ersatz bieten, dessen Erzeugung und Verbreitung der Nalelei seine Kräfte zu weihen gedenkt.«

Kluft sass dicht bei mir und sprach mit belegter Stimme: »Ich möchte soviel wie möglich die notwendigen, schmerzlichen Banalitäten von Ihnen fernhalten. Ich besorge alles. Haben Sie besondere Wünsche?«

»Einäschern, in Passau beisetzen«, stiess ich mühsam hervor und sank zusammen.

»Armer Emmaus«, hauchte Diana und streichelte meine Hand.

Der Ethiker bemerkte: »Den irdischen Teil unserer Lieben heiliger Flamme zu übergeben, ist uraltes Brauchtum der Ahnen.«

»Oh Gott, er wird doch nicht etwa zum Begräbnis kommen«, fiel mir ein, so bat ich Kluft: »Einäscherung und Beisetzung ganz ohne Feierlichkeit, keine Blumen ausser von mir, keine Menschen dabei.«

»Ein Begräbnis ist bloss ein Symbol. Ja, man kann sogar behaupten, ein Toter hat nurmehr sinnbildliche Bedeutung«, dozierte der Ethiker.

Da bat ich, man möge mich alleinlassen.

Beim Fortgehen flüsterte mir Diana zu: »Nimm es ihm nicht übel.«

»Diana, du musst mich begleiten auf dem schweren Gang, du allein. Ich benachrichtige dich.« Sie gab mir ihre Adresse. 527

 


 << zurück weiter >>