Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Idylle

So kamen wir wieder nach Passau. Ich war nicht ganz sicher, wie der Kommandant die Zweischläfrigkeit meiner Gefangenschaft aufnehmen würde. Schwierigkeiten nicht zur Kenntnis nehmen ist immer die beste Lösung. Ich führte Vevi bei der Hand und machte mit ihr Besuch beim Herrn Oberst.

»Melde mich gehorsamst zurück von Urlaubsreise. Gestatte mir, Herrn Oberst meine Gattin vorzustellen: Frau Genoveva Emmaus, geborene Comtesse Chuzky-Leibenfrost, hatte Herrn Oberst ja zwecks Verehelichung um Urlaub gebeten.«

»Gewiss, gewiss – sehr erfreut«, sagte er, bat uns höflich niederzusitzen. Vevi lächelte ihn beinahe schmachtend an:

»Wundervoll ist es hier oben bei Ihnen, Herr Kommandant, ich bin so glücklich, meinem Gatten hier Gesellschaft leisten zu können.«

»Gesellschaft? Ach so, natürlich, freut mich, wenn Sie sich hier heimisch fühlen. Gewiss Tochter des Grafen Adolar Chuzky, Regimentskamerad von mir, ach nein, der könnte höchstens Ihr Grossvater sein – ja, ja, er hatte auch einen Sohn, Arwed, tat nicht recht gut, kam vor die Hunde. Aber das war gewiss andere Linie, nicht Chuzky auf Leibenfrost.« Er hoffte, sie 308 recht bald wiederzusehen, begleitete uns hinaus, schnitt ihr im Garten ein paar schöne Rosen ab, küsste ihr die Hand.

Vevi stellte die Blumen in einer Vase auf unseren Wohnzimmertisch.

»Dein Kommandant hat mir gut gefallen, wirklich ein vornehmer Mensch. Wir sollten uns etwas um ihn kümmern in seiner Einsamkeit.« Unsere nächste gemeinschaftliche Beschäftigung war, Muspet gründlich zu waschen und zu frisieren. Er hatte das sehr nötig, war übrigens restlos glücklich, uns beide beisammen zu haben.

»Womit beschäftigt sich ein Gefangener?« fragte Vevi, »ich hatte mir vorgestellt, dass er den ganzen Tag beim Fenster steht, an den Gitterstäben rüttelt und sich sehnt, aber nun sind wir gar nicht vergittert und brauchen uns nicht hinauszusehnen. Im Gegenteil. Weisst du, ich habe doch ein bisschen Angst, dass sie dich einmal begnadigen werden, und dann musst du in den Krieg und wirst schrecklich tapfer, und Horzel wird sich freuen, wenn er dir zwei Holzbeine zu Vorzugspreisen liefern kann, eins für Wochentags, eins für Sonntag-Nachmittags zum Ausgehen. Und ich muss dann tun, als ob ich garnichts bemerkt habe, aus Taktgefühl, und als ob ich genau so verliebt bin, denn man liebt die Seele, nicht die Beine. Wie ist das eigentlich, behält ein Mann das Holzbein nachts im Bett an?«

»Ja, das wäre peinlich. Man muss vorbeugen.«

Ich schrieb einen Brief: »Lieber Quartaller! Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen neulich nicht Adjö sagen konnte. Es war so wonniglich Sie wiederzusehen. Ich möchte gern den Meteor in die rechte Bahn zurückleiten, die Partei neu aufleben lassen. Trennung 309 von Staat und Politik ist jetzt mehr als je nötig. Man sagt mir, Sie haben gute Beziehungen zur Rüstungsindustrie und also auch zu Regierungskreisen. Veranlassen Sie, bitte dass mir der Rest meiner Strafe im Gnadenwege erlassen wird. Es ist bitter für mich, hinter düsteren Gefängnismauern zu schmachten, wenn draussen der Kampf für Frieden und Freiheit meiner Kraft bedarf. In alter Freundschaft Ihr Emmaus.«

So, dadurch war ich vor einer Begnadigung sicher, und wir konnten in Ruhe an die Arbeit gehen. An die Arbeit? Ja, in unserer Lage war die Hauptsache, dass man nie das Gefühl, unbeschäftigt zu sein, aufkommen liess. Der Tag muss einem zu kurz werden, knappe Zeiteinteilung erfordern. Vevi hatte noch viel zu lernen, und ich konnte ihr dabei behilflich sein. Und ich wollte eine Theorie des Meteorismus verfassen, die Trennung des Staates von der Politik historisch und sozialwissenschaftlich begründen, auch die Wege zur praktischen Durchführung weisen. Einen Teil meiner Zeit würde ich der Malerei widmen. Ausflüge in die schöne Umgebung, Jagd, Fischerei würden uns zur Erholung dienen. Wir gingen in die Stadt hinunter, ich kaufte mir 500 Bogen Kanzleipapier für das Manuskript meines Werkes.

Alle Häuser waren beflaggt: grosser Sieg. Neue Truppen zogen fort mit Blechmusik und Hurrah. Heeresberichte waren angeschlagen, man drängte sich vor ihnen. Wir kauften einige Zeitungen, auch die neueste Nummer des Meteor. Aber er nannte sich jetzt ›Meteor und Standarte‹. Später wurde der Titel ›Standarte und Meteor‹. Dann ist ›Meteor‹ nur klein gedruckt worden, schliesslich ganz verschwunden und das Blatt hiess nun bloss noch ›Standarte‹. So ist die peinliche 310 Erinnerung ausgelöscht worden. Wir schauten nur flüchtig in die Zeitungen.

»Am besten ist, wir ignorieren diesen Krieg«, meinte Vevi, »ich finde ihn einfach unerfreulich.«

»Ja, aber sage es nicht zu laut!« Wir kamen an einer Samenhandlung vorbei, da waren Papierdüten mit Abbildungen herrlicher Blumen, sie interessierten Vevi sehr.

»Ich möchte solche Blumen haben, kann ich mir ein Beet anlegen?«

»Gewiss, aber verstehst du denn etwas davon?« »Ein wenig. Wie ich mit Blumen handelte, habe ich sie mir bei einem Gärtner geholt, der hat mir Einiges gezeigt, und der Dellinger besorgt ja dem Oberst seinen Garten, so kann er mir helfen.« Wir erwarben Samen und Gartengeräte. Als wir dann hinauf kamen, liessen wir uns ein sonniges Stück Gartenland anweisen. Aber für dieses Jahr war es schon zu spät zur Anlage, meinte Dellinger, es ginge höchstens in einem Gewächshaus.

»Ja, wir wollen ein Gewächshaus haben.« Wir mussten den Kommandanten um Erlaubnis dazu fragen. Er erteilte sie gern, wenn wir es auf eigene Kosten bauen lassen wollten, empfahl uns eine Firma, die es gut liefern würde, mit praktischer Heizanlage. Vevi war begeistert für die Idee, hat nicht geruht, bis das Glashaus fertig war.

»Etwas Interessantes habe ich hier gefunden«, sagte der Oberst und zeigte uns eine alte Chronik der Stadt Passau. »Sehen Sie diesen Holzschnitt: Die Perlenfischerei im Ilzfluss.« Da ist berichtet, dass früher hier in der Ilz Perlen gewonnen wurden, und einige besonders schöne Exemplare sind in Naturgrösse abgebildet. 311 Ich würde gern nachforschen, ob es dort noch Perlmuscheln gibt. Leider erlaubt mir das meine Gicht nicht. Vielleicht hätten Sie Lust, gelegentlich die Sache zu untersuchen.« Ich versprach es, obgleich mir der Fall recht sagenhaft schien. Der Oberst hatte in seiner grossen Bibliothek auch viele Bücher über Gartenpflege, die stellte er Vevi zur Verfügung, und sie suchte sich gleich einige aus.

Mein Buch sollte ungeheuer gelehrt und gründlich werden. Es begann mit der Erklärung des Staatsbegriffes, wie ihn Plato und Aristoteles aufgestellt hatten, als einer Einrichtung zur Erhaltung von Glück, Tugend und persönlicher Sicherheit, zeigte, dass die Philosophen aller Zeiten ungefähr dieselbe Meinung hatten bis zu Kant, der den Zweck des Staates darin sah, den Sinn des Rechts zu verwirklichen, nötigenfalls auch durch Zwang. Alle hielten den Staat für eine ethische Veranstaltung auf Grundlage des natürlichen, menschlichen Geselligkeitstriebs: eine gemütliche Sache wie ein Stammtisch, ein Verein der Hundezüchter, ein Tennisklub, mit Statuten, Mitgliedsbeiträgen, Vorsitzenden. Die Ungemütlichkeit fängt an, wenn der Verein zu blühend wird, sich ein Vereinsgebäude zulegt. Sofort wird er ein räumlicher Begriff, hat das Verlangen sich auszudehnen, grösser, mächtiger zu sein als die anderen. So war es auch beim Staat, wenn er nicht mehr bloss ein ethisch-praktischer Klub sein wollte, sondern etwas Geographisches. Da fing das Elend an, man nennt es Geopolitik. Da galten Ethik, Glück, persönliche Sicherheit nichts mehr, sondern einzig die Sucht sich auszudehnen; dazu zwang der Vorstand die Vereinsmitglieder mit Gewalt. So kam die Politik in die Welt. Ganz schlimm ist der Zustand geworden, 312 seitdem Macchiavelli seine berühmte Satire gegen diesen Unfug geschrieben hat. Die ist leider von allen Vereinsvorständen für Ernst gehalten worden, und sie haben sich bemüht, danach zu handeln, alle Moral und Vernunft über Bord zu werfen.

Das mit allen Einzelheiten, historischen Daten, Zitaten, Quellenangaben darzustellen, würde auf lange hinaus meine Zeit in Anspruch nehmen. Im zweiten Teil wollte ich die Mittel und Wege zur Beseitigung dieser Misstände angeben, zur Rettung der Menschheit vor drohendem Untergang. Die Aufgabe konnte nicht schwierig sein. Man brauchte sich nur vorzustellen: was würde der Hundezüchterverein tun, wenn sein Vorstand, anstatt Hundeausstellungen zu veranstalten, seine Zeit damit zubringen wollte, anderen Vereinen ihre Lokale streitig zu machen, Prozesse gegen sie zu führen, was viel Geld und Erhöhung der Mitgliedsbeiträge erfordern würde, und wenn er gegen widersprechende Mitglieder mit Gewalt vorgehen, tätlich werden, sie in Hundehütten einsperren wollte. Man würde ihm zuerst einmal keine Beiträge mehr zahlen, dann ihn absetzen, Entschädigung von ihm fordern. Und was der Vorstand des Vereins ›Staat‹ treibt, ist ja noch viel schlimmer. Er verschwendet das Vereinsvermögen für Mordwerkzeuge, um mit diesen die Mitglieder anderer Vereine auszurotten, zwingt seine eigenen Mitglieder, diese Verbrechen zu begehen. Ein gefährliches Unternehmen, bei dem die riskieren getötet oder verstümmelt zu werden. Das ist Politik. Unverständlich, dass sich die braven Mitglieder dazu zwingen lassen, anstatt die Waffen gegen die Herren vom Vorstand zu kehren und den anderen Vereinen freundschaftlich die Hand zu reichen. Die einfachste Sache 313 von der Welt, dem abzuhelfen, sollte man meinen. Aber nichts setzt sich schwerer durch als die Vernunft, vielleicht weil sie zu wenig an die Phantasie appelliert. Vernunft ist immer ein bisschen unkünstlerisch. Die leider viel zu früh verstorbene Meteorpartei war da auf dem richtigen Wege, hatte Riten, Kostüme, Feierlichkeiten, Symbole.

Diese Dinge wollte ich in einer Art Katechismus festlegen. Eines Tages musste die Partei wieder aufgerichtet werden, das würde sich ganz von selbst ergeben. Mein Buch sollte ihre Bibel sein. Zwei Stunden täglich, vormittags, waren dieser Arbeit gewidmet. Dann wollte ich immer eine Stunde lang Vevi bei ihren Lektionen helfen, aber ich hatte mir das leichter vorgestellt. Wir waren oft beide zu wenig sachlich. Vevi sagte zwar, sie habe nie gedacht, dass Unterricht so schön sein könne. Als Pädagog war ich jedoch nicht ganz das Richtige. Merkwürdig benahm sich Muspet dabei. Wenn wir von unserer Aufgabe abschweiften, gab er uns deutlich sein Missfallen zu erkennen, brummte und suchte uns von einander wegzuzerren. Er hatte in manchen Dingen seine eigenen Ansichten.

Nichts freute ihn mehr als uns durch Wald und Feld zu begleiten, und so dachte ich, er würde sich leicht zur Jagd abrichten lassen. Aber als ich einmal einen Rehbock geschossen hatte, benahm sich Muspet sehr unkorrekt. Er lief zu dem Bock, setzte sich neben ihn und heulte jämmerlich. Dann versuchte er, mit seiner Zunge die Blutung zum Stillstand zu bringen, streichelte und liebkoste den tödlich Verwundeten mit der Pfote. Auf mich war er sehr bös, wollte mich nicht in die Nähe kommen lassen, biss und knurrte. Ein Jagdhund, der die Partei des Wildes nimmt – 314 unmöglich. Aber Vevi fand, Muspet habe Recht und sie hätte es ebenso gemacht.

Das Gewächshaus war fertig, und wir hatten vollauf zu tun es einzurichten. Da waren lange, flache Kästen, die mit Erde gefüllt werden mussten, Regale, auf denen kleinere Tonkästen und Blumentöpfe standen, eine Bewässerungsanlage, mit der man auch feinen Sprühregen erzeugen konnte, eine Warmwasserheizung, die von aussen gefeuert wurde. Dellinger stellte uns seinen Komposthaufen zur Verfügung, Vevi und ich fuhren um die Wette die fette, schwarze Erde in das Glashaus.

Sie sagte: »Ich will den ganzen Winter hier Blumen und Gemüse haben, zu Weihnachten frischen Salat, Gurken und Tomaten und besonders Maréchal-Niel-Rosen, die blühen am üppigsten im Gewächshaus.« Ich musste ihr eine besorgen, sie wuchs gut an, und es dauerte nicht allzulange, da hatte sie sich mächtig ausgebreitet, fast wie eine Schlingpflanze, mit gelben Blüten, die herrlich dufteten. Die Samen von Gemüse und vielerlei Blumen keimten und wuchsen, und es war eine mühsame Arbeit, sie alle zu pikieren. Im Herbst, als es draussen kalt und regnerisch wurde, war das warme, feuchte Treibhaus ein angenehmer Aufenthalt, man fühlte sich wie auf einer fernen, exotischen Insel – wir zwei, losgelöst von Raum und Zeit. Später habe ich Vevi einmal dort gemalt, nackt zwischen ihren Pflanzen stehend, in der einen Hand eine hellgrüne Giesskanne, mit der anderen biegt sie einen Rosenzweig zu sich herab.

Ich hatte das Fischrecht in der Ilz gepachtet. Dort gab es schöne Forellen. Wir hatten Wurfangeln und künstliche Fliegen, und es war eine spannende 315 Beschäftigung, die auszuschleudern und im rechten Augenblick so anzureissen, dass der Fisch fest daran sass. Vevi hatte die schlechte Gewohnheit, dabei die Angel in die Höhe zu schnellen, und einmal, als ich von der Jagd kam, fand ich sie verzweifelt am Fluss, in die Zweige eines hohen Erlenbaumes hinaufschauend. Da ganz oben hing ihre Forelle.

»Du musst hinaufklettern und sie holen«, verlangte sie. Ich nahm aber meine Büchse, schoss durch die Angelschnur, und der Fisch fiel zappelnd herab.

Leider sahen das ein paar Holzflösser und lachten unbändig. Es sprach sich herum, und seitdem hiess ich bei ihnen: Der Närrische, wo die Fisch' von die Bäum' schiesst.

Nicht weniger närrisch fanden sie es, dass ich Muscheln einsammelte, mit einem Ketscher den Grund des Gewässers nach ihnen absuchte. Mehrere Körbe voll hatte ich schon heraufgeschleppt, sie lagen im Garten angehäuft, damit sie sich, absterbend, von selbst öffnen sollten. Ein paar Muscheln hatte ich untersucht, aber keine Perlen gefunden. Ich hielt den Bericht der Chronik für eine Fabel. Eines Tages waren meine Muscheln verschwunden. Vevi hatte entdeckt, dass sie sehr geeignet zu Beeteinfassungen waren, die schwarzen Schalenreihen rings um die farbigen Blumenteppiche sahen wirklich sehr hübsch aus, und ich mochte nichts dagegen einwenden.

Aber es war, als ob sich die Muscheln rächen wollten. Ich traf Vevi weinend und ganz verstört im Garten. Beim Einsammeln von Tulpenzwiebeln war der Faden ihrer Perlenkette, des Hochzeitsgeschenks, zerrissen, und bis sie es merkte, waren schon fast alle herabgefallen, im Boden verkrümelt. 316

»Bedeutet sicher ein Unglück!«

»Unsinn! Ich habe dir ja immer gesagt, du solltest die Kette nicht bei der Arbeit anlegen. Nun wollen wir schauen, ob wir die Perlen nicht wieder finden.« Das Suchen war mühsam.

»Ich habe eine«, rief sie freudig, »und noch eine und noch.« Auch ich fand eine ganze Anzahl. Wir sammelten sie in ein Gefäss. Schliesslich hatten wir eine grosse Menge wieder.

»Es kommt mir vor, als seien es mehr geworden«, meinte sie. Wirklich, nun schien es mir auch so. Wir zählten sie, es waren hundertsechsundsiebzig, also sechs Perlen mehr als die Kette hatte. Wir konnten uns das Wunder nicht erklären. In der Stadt Passau gab es einen kleinen Goldarbeiter, dem brachten wir sie hin, damit er sie wieder aufreihe. Er prüfte sie und bemerkte: »Aber acht davon sind noch nicht durchbohrt, soll ich das machen? Es sind gerade besonders schöne.« Ich hatte eine Idee, sagte: »Ach nein, da haben wir die unrechten ausgesucht, wir bringen Ihnen die gelochten noch.« Die acht nahmen wir wieder mit. Draussen sah mich Vevi vorwurfsvoll an:

»Warum hast du das gemacht.« »Nur ruhig, Vevi, ein kleines Wunder ist geschehen, die acht sind sicher aus den Muscheln. Nun müssen wir aber die zwei Stück suchen, die noch von deinen fehlen.« Sie war begeistert. Tatsächlich gelang es uns die übrigen zwei zu finden.

»So hat es nicht Unglück bedeutet, sondern Glück.«

»Aber, Vevi, wir wollen es niemandem erzählen.«

»Auch dem Oberst nicht?«

»Noch nicht, es muss erst ein wenig vorbereitet werden.« Die Muscheln nahmen wir sorgfältig aus der 317 Erde, prüften jede einzelne und entdeckten wirklich noch drei Perlen in ihnen.

Wenn wir dem Oberst unseren Fund berichteten, hätte er zwar eine grosse Freude, aber er würde es gewiss einer Behörde melden, der Staat würde die Ausbeutung in die Hand nehmen, Einnahmen daraus erzielen, diese zur Anschaffung von Mordwerkzeugen verwenden. Das zu verhindern war also meine moralische Pflicht. Ich hatte das Fischrecht nur in dem Teil des Flusses gepachtet, der dem Bezirk Passau gehörte. Nun wollte ich es käuflich erwerben und zwar auf dem ganzen Lauf des Flusses. Die Ilz ist nur 54 Kilometer lang, entspringt im Waldgebirge, wird hauptsächlich zur Holzflösserei benutzt, so gab es glücklicherweise keine Berufsfischer dort. Ich musste mit mehreren Gemeinden darüber unterhandeln, ein Teil gehörte auch staatlichen Forstverwaltungen. Die Verhandlungen zogen sich sehr in die Länge, man versuchte die Preise ungebührlich in die Höhe zu schrauben, da man mich für einen Fischnarren hielt. So kamen die Verhandlungen erst im nächsten Frühjahr zum Abschluss, wurden auf dem Notariat Passau protokolliert, es war ausdrücklich darin bestimmt, dass mir das unbeschränkte Recht auf alle Fische, Krebse, Muscheln und sonstigen Wassertiere zustehe. Inzwischen liessen wir die Muscheln unbehelligt. Beiläufig erzählte ich dem Kommandanten, dass ich das Fischrecht kaufen wollte, lieferte ihm manche schöne Forelle für seinen Tisch.

Da er so einsam war, hatte ihm Vevi vorgeschlagen, wir wollten wöchentlich einmal zum Bridgespiel zusammen kommen, als Vierter fand sich dazu ein Dozent der Passauer theologischen Hochschule, Dr. Borromäus Herfurth. Er war Jesuit und in allen 318 Wissenschaften zuhause. So konnte er mir bei Abfassung meines Buches nützlich sein, ich verdankte ihm viele historische Angaben. In manchen Punkten unserer Auffassung von Staat und Politik stimmten wir merkwürdig weit überein. Er erklärte mir, dass die ersten Christen den irdischen Staat überhaupt abgelehnt haben, weshalb die damaligen Herrscher sie ungefähr so betrachteten und behandelten, wie die heutigen die Kommunisten. Später allerdings habe sich diese Staatsverneinung nicht aufrecht erhalten lassen, besonders als die christliche Lehre sich als Kirche konstituiert hatte, doch auch da sei Nächstenliebe die Grundlage der Staatsidee geblieben. Der Staat sei eine göttliche Einrichtung, civitas Dei, die nur nach Gottes Gesetzen regiert werden dürfe. Nationale oder gar räumliche Ziele seien zu verwerfen. Die Kirche sei das Vollzugsorgan Gottes. Alles, was man heute Politik nenne, stehe im schärfsten Gegensatz dazu. Er meinte, dass alle Pfarrer, die den Segen Gottes für die Kriegsheere erbitten, dafür später in der Hölle braten werden. Als bei einem neuen Siege Glockengeläute anbefohlen war, hat tatsächlich die Glocke der Domkirche geschwiegen.

Und Siege gab es jetzt genug. Sogar bis zu uns herauf drang manchmal das Hurrahgeschrei. So laut, dass selbst der Oberst es ohne Hörrohr vernehmen konnte und glaubte, sein Gehör habe sich gebessert.

»Das Stahlbad wirkt verjüngend«, sagte er, denn auch er begann, von der Kriegsstimmung angesteckt zu werden. Zwar gefiel es ihm nicht, dass die Heerführer, fern vom Schuss, sicher im Hinterland sassen.

»Mein hochseliger König Ludwig II. hätte das anders gemacht. In goldener Rüstung und wehendem Purpurmantel wäre er auf falbem Schlachtross, 319 schwertschwingend, seinen Truppen vorangesprengt, allerdings gegen Preussen. Davon träumte er oft.« Und gar als der Schützengrabenkrieg begann, war der Oberst voller Verachtung und froh, dass sein Alter ihm nicht gestattete, an dem Feldzug der Maulwürfe teilzunehmen. Zu Weihnachten hat ihm Vevi ein Tischtuch geschenkt, auf das sie in verschiedenen Farben die Landkarte Europas gestickt hatte, sehr hübsch. Bei den Mahlzeiten gab er sich darauf mit Brotkügelchen die Stellung unserer Truppen an, wo besonders blutige Schlachten waren, machte er einen Rotweinfleck, die strategischen Rückzüge markierte er mit Senf. Ich hatte nicht gewusst, dass Vevi so schöne Handarbeiten machen konnte.

Mich überraschte sie durch ein geschmackvoll gesticktes Kissen in Kreuzstich mit der Inschrift: »Nur vier Jährchen.« Überhaupt war unser Weihnachtsfest sehr stimmungsvoll. Draussen lag schon Schnee, und im Gewächshaus war es, wie sie es sich gewünscht hatte. Es hing voller Gurken, reife Tomaten glühten in ihrem dunklen Laub, es gab Salat, neue Kartoffeln und viele wundervolle Blumen. Eine grosse, hohe Azalee hatten wir als Christbaum hergerichtet, mit Kerzen besteckt zwischen den roten Blüten, einige Würste für Muspet hingen auch daran. Und als Überraschung hatten wir ihm eine neue Hütte machen lassen, mit Kufen darunter wie ein Schaukelstuhl, da lag er darin, schaute vergnügt mit dem Kopf heraus und schaukelte sich.

Der Kommandant hatte es sich nicht nehmen lassen. am zweiten Weihnachtsfeiertag ein kleines Gastmahl für Kriegsbeschädigte zu geben. Zehn Mann – Dellinger hatte sie ausgesucht – waren eingeladen. Ein sonst unbenutzter Saal war dazu hergerichtet worden, festlich 320 geschmückt, in der Mitte eine grosse Tafel, darauf stand ein Lichterbaum. Auch wir mussten teilnehmen. Wir wurden ein bischen traurig, als die Gäste kamen, man sah ihnen an, was sie erlitten hatten. Zwei davon mussten im Rollstuhl gefahren werden, vier hatten Holzbeine, Weihnachtsgaben des Staates, die sie zum ersten Mal trugen, zwei hatten Armprothesen, dann einer mit schwarzer Binde über einem Auge, einem hatte das Christkindl schon ein Glasauge gebracht. Ländliche, starkknochige Menschen, wohl Holzflösser, Bauern, Handwerker. Ungeschickt und geniert traten sie ein, manche versuchten zu lächeln. Neben der Tür stand ein Bierfass, schon angezapft, eine Menge Masskrüge daneben, wurde sofort mit deutlicher Befriedigung wahrgenommen. Der Oberst in Gala-Uniform begrüsste die Gäste herzlich, schüttelte jedem die Hand. Bei denen mit Armprothese war er einen Augenblick in Verlegenheit, dann klopfte er sie auf die Schulter. Man setzte sich um den Tisch, die im Rollstuhl gefahrenen mussten herausgehoben werden, Dellinger und ich machten das. Auf der einen Seite der Tafel präsidierte der Kommandant, auf der anderen Vevi. Neben jedem Teller der Besucher war ein kleines Weihnachtspackerl, alle mit gleichem Inhalt: Zigarren, Schnupftabak mit dazugehörigem Glas, eine Tafel Schokolade, eine Flasche Kirschgeist, ein griffestes Messer. Einige untersuchten gleich den Inhalt der Pakete, der eine sagte: »Aber das kann man ja nicht verlangen«, der andere hielt den Kirschgeist in der Hand und fragte Vevi: »Sie, Fräulein, haben'S einen Korkenziecher?« Frau Guggemos und ihre Enkelin Ursula servierten. Dellinger schenkte das Bier aus, jeder tat sofort einen kräftigen Zug. Es gab zuerst eine 321 Nudelsuppe, die löffelten alle andächtig, manche setzten zum Schluss den Teller an den Mund, um den letzten Rest zu schlürfen. Dann erschienen mächtige Schüsseln, auf dreien waren gebratene Gänse, auf der vierten ein knuspriges Spanferkel, dazu gab es Sauerkraut und Knödel. Alle Augen weiteten sich, freudige ›Ah‹ ertönten.

»Aber Frau Guggemos, die Braten sind ja nicht tranchiert!« sagte der Oberst vorwurfsvoll.

»Wenn wir doch kein gescheites Messer nicht dazu haben, und Zeit war auch keine mehr, Herr Oberst.«

»Geben Sie her!« Die Platten wurden vor ihm aufgestellt, er zog seinen Säbel und zerteilte Spanferkel und Gänse kunstgerecht.

»Das is schon das erste Mal, dass ich seh', dass ein Offizier seinen Säbel braucht«, sagte mein Nachbar halblaut.

Die Teller waren aufgehäuft voll, bewundernswert, wie schnell sie sich leerten, unter schmatzendem Geräusch der Befriedigung, oft mit glucksendem Bier nachgespült. Die Beschäftigung war zu ernst, um Zeit zu viel Gesprächen zu lassen.

Der Oberst klopfte mit dem Messer an seinen Bierkrug, erhob sich, redete: »Liebe Kameraden! Ich sage Kameraden, denn im Kriege sind wir alle gleich. Es freut mich, euch hier beisammen zu sehen in der Heimat. Ihr habt tapfer gekämpft, das Vaterland mit Einsatz eures Lebens verteidigt. Es wird euch ewig Dank wissen. Einige von euch sind, wie ich mit Stolz bemerke, sogar mit dem eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Und wenn Ihr auch nicht unbeschädigt geblieben seid, so möge es euch zur Befriedigung dienen, dass ihr dadurch zur Vernichtung des Feindes 322 beigetragen habt. Lasst es euch gut schmecken! Es lebe der Endsieg, Hurrah, Hurrah, Hurrah!« Der Oberst erhob seinen Bierkrug, aber niemand stimmte in den Ruf ein, nur der mit der Augenbinde sagte leise in trauriger Kadenz:

»Hurrah – ja Hurrah.« Die anderen fanden offenbar, dass der Mund, solange er zum Essen dient, nicht zu Hurrahzwecken missbraucht werden soll. So trank der Oberst betrübt und allein ein paar Schluck, setzte sich wieder. Mein Nachbar flüsterte vor sich hin:

»Krampf! Alles Krampf!«

»Wieso«, fragte ich, »Sie sind doch mit dem eisernen Kreuz dekoriert.«

»Ja, weil ich vier Franzosen auf einmal durchgetan hab', einen mit dem Gewehrkolben, drei mit meinem Knicker. Un bei der Kirchweih in Dettenweiss hab ich einmal ein Bürscherl a weng gestupft mit dem Messer, wissen'S Notwehr, un er is hin worden un i hab' zwei Jahr dafür sitzen müssen.« Viele hatten schon die dritte oder vierte Portion auf dem Teller und konnten sie nicht mehr ganz bezwingen.

»A Papier bräuchten mir, Fräulein«, wandten sie sich an Vevi. Sie holte einige Zeitungen, und die Gäste wickelten sich das Übriggebliebene ein zum Mitnehmen, auch den grössten Teil der Schmalzkrapfen, die es als Nachspeise gab, denn sie brachten nur wenig davon noch hinunter. Manche rülpsten laut und befriedigt. Bier konnten sie unentwegt weiter trinken und kamen allmählich in Stimmung, wurden gesprächig.

»Wieder mal haben wir nix zu fressen gehabt, da sind wir a bisserl requirieren gangen, drei Mann. Mir haben versucht die Hühner zu fangen, aber ich hab keins derwischt. Da bin ich nein ins Haus, war ein 323 ganz windiges, nur eine Stuben. Da is der Häusler gesessen mit seine Kinder und haben gebetet und eine Kerzen is auf dem Tisch gestanden. Geweint haben's und gesagt: »Mama malade«, das sollte heissen: »Die Mutter ist krank.« Sie is im Bett drin gelegen, tief in die Federn, den Kopf eingewickelt in ein Tuch. Ich wollt schon leis wieder nausgehen. Da hör ich, wie die Mama grunzt, und gequiekt hat sie auch. Aha, ich kenn' gleich, sie haben die Sau im Bett versteckt. Ich feuer' nein, die Federn fliegen umanand, aber die Sau rumpelt raus, fährt mir unter die Beine und schmeisst mich hin. Eh ich aufspringen kann, nimmt der Franzos mein Gewehr und schiesst mich, ganz nah, in den Arm. Im Lazarett haben's mir ihn abnehmen müssen. Der Franzos is natürlich gehenkt worden, Franktirör. Die Sau haben mir nimmer derwischt. Schad!«

Einer erzählte: »In Belgien hab ich ganz allein einmal zwanzig Mann umzingelt und gefangen. Nahe bei unserem Graben war ein Wald, den sollte ich ein bisserl rekognoszieren. Ich schleich mich nein, richtig, an einer Lichtung sitzen zwanzig Engländer, junge Buben in nagelneuen Uniformen, hatten gespassige Mützen auf mit ganz lange Schirm', wollten grad abkochen, die Gewehr' hatten's zammgestellt. Ich pirsch mich hin, Gewehr im Anschlag, ruf': ›Hände hoch!‹ Das tun sie ganz brav. Einer sagt auf deutsch: ›Sie sollen uns nichts tun, wir kommen schon mit.‹ Ein paar fangen richtig an zu weinen. Ich stell sie auf, zwei und zwei, kommandier: ›Vorwärts Marsch!‹ Sie müssen vor mir her marschieren, Hände immer in der Luft. Na, unser Leutnant wird schaun, denk ich, da bekomm ich sicher das E.K.1. Ja, der Leutnant hat gschaut, wie ich daherkomm mit meine Gefangene. 324

›Du Rindviech!‹ hat er geschrieen, ›das sind ja Deutsche! Vom Regiment List‹. Ich konnt ja nicht wissen, dass sie solchene Schulbuben ins Feld geschickt hatten und mit so narrische Uniformen.«

Der Stuckenschmied stand auf, um eine Rede zu halten, klopfte an seinen Bierkrug, wie er es beim Oberst gesehen hatte: »Werte Festversammlung, sehr geehrter Herr Oberst, alle miteinander und die Dame! Das Essen war reichlich und gut und das Bier auch. Deshalb hat uns das Wiedersehen in der Heimat gefreut und weil wir die Köpf' nimmer hinhalten brauchen für die feinen Herrn, wo daheim sitzen in die warmen Stuben bei ihre Frau Gemahlinnen. Un grad gemütlich haben es die und uns lassen's verrecken in die Schützengräben, die dreckigen. Ein jeder von uns kennt seine Pflicht und die heisst Vaterland. Und was die Feinde sind, die kennen auch ihre Pflicht und die heisst auch Vaterland. Die wären lieber daheim blieben bei ihre Geschäft, wie wir auch. Aber die Grosskopfeten haben es befohlen, un da kannst halt nix machen.«

»Halts Maul, bist ja besuffen«, rief ein anderer dazwischen. »I geb dir glei besuffen, bist ebba froh, dass d'nur noch ein' Haxen hast?«

»Hast ja keine Buildung nicht, so was zu sagen beim Herrn Oberst, wo uns grad so gut auftischt hat ganz umsonst.«

»Red jetzt i oder du, du Hanswurscht?«

»I gib dir ein' Hanswurscht, Tropf damischer!« Schon schütteten sie sich das Bier ins Gesicht. Der Einbeinige nahm seine Krücke und wollte über den Tisch weg auf den Stuckenschmied losschlagen, der zückte sein griffestes Messer. Einige versuchten, sie zurückzureissen, andere wollten wieder die daran hindern, es 325 wurde mit Masskrügen und Krücken zugeschlagen, sogar die Gelähmten langten nach den Messern. Allgemeines Durcheinander, Raufen und Geschrei entstand. Einige fielen hin, versuchten sich am Tischtuch festzuhalten. Der Dellinger konnte gerade noch dem Stuckenschmied das Messer entwinden, sonst wäre Blut geflossen. Der Oberst, puterrot im Gesicht, sprang auf und kommandierte:

»Achtung! Stillgestanden.« Es war als hätte man im Marionettentheater die Puppen am Draht gezogen, unwillkürlich versuchten alle zu gehorchen, in möglichst strammer Haltung.

»Ganze Kolonne – rechts um kehrt! Abtreten!« Sie folgten willig dem Befehl, den meisten gelang es nur mit Mühe, teils wegen der Gebrechen, teils wegen der Räusche. Ihre Packerl mitzunehmen haben sie nicht vergessen.

»Fröhliche Weihnachten, Kameraden!« rief ihnen der Oberst, nun wieder beruhigt, nach.

»Es war reichlich und gut«, antworteten sie.

Der Oberst bot Vevi galant den Arm, wir sollten bei ihm eine Tasse Kaffee trinken. Im Saal sah es wüst aus, zerbrochenes Geschirr, umgeworfene Stühle, ausgeschüttetes Bier. Das Tischtuch war halb herabgerissen. Da, wo es noch auflag, glotzte uns etwas, wie erschrocken, an, das Glasauge war dem einen herausgefallen und lag dort. Frau Guggemos wickelte es sorgfältig in Papier, um es ihm hinzubringen.

Im neuen Jahre machte sich bereits der Mangel an Nahrungsmitteln bemerkbar. Rationierungskarten wurden eingeführt, die Hausfrauen brachten ihre Zeit mit Schlangestehen vor den Läden zu, Mittagessen wurden verspätet, Gatten schimpften, wenn sie hungrig 326 heimkamen und warten mussten. Man hörte seltener ›Hurrah‹ rufen, und wenn Bürger die angeschlagenen Heeresberichte lasen, sagten sie: »Schmarren« oder »Krampf«.

So fuhr alles, meist auf Fahrrädern, hinaus zu den Bauern, die kehrten sich nicht an die Verbote, verkauften ihre Butter und Eier zu Rekordpreisen.

»So a Kriegerl is gar nicht dumm«, meinten sie. Manche wurden so reich, dass sie nicht wussten, wohin mit dem Geld. Amtlich und sogar von der Kanzel herab wurden sie aufgefordert, es in Kriegsanleihe anzulegen, aber sie trauten der Sache nicht, kauften sich lieber Klaviere, und zu dieser Zeit hielt zum ersten Mal das Wasserclosett seinen Einzug in jene ländlichen Bezirke.

Im Frühjahr bekam ich zu meiner Überraschung einen Brief von Quartaller: »Teurer Freund! Leider sind all meine Bemühungen, für Sie Begnadigung zu erwirken, erfolglos geblieben, was ich umsomehr bedauere, als sowohl das Vaterland wie unser Blatt dadurch Ihre wertvolle Mitarbeit noch weiter entbehren muss. Schmerzlicherweise haben wir auch einen anderen fast unersetzlichen Mitarbeiter eingebüsst: Doktor Aloys Huber starb den Heldentod. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, am Kampf für Kaiser und Reich teilzunehmen, kommandierte in Russland eine Verpflegungskolonne. Da ist das Furchtbare geschehen. Abends im Quartier bei schlechter Beleuchtung hat er seine Hühneraugen geschnitten und sich dabei verletzt. Blutvergiftung trat hinzu, und nach einer Woche war der tapfere Krieger in Walhall eingegangen. Seine irdischen Überreste sind in München beigesetzt worden. Der Sarg war mit dem E.K.1. geschmückt, das 327 ihm die Heeresleitung nachträglich verliehen hatte. Sein glorreiches Beispiel wird uns allen als Fanal voranleuchten, ich beklage aufrichtig, dass Sie, lieber Freund, verhindert sind, ihm nachzueifern. Aber ein anderer Weg zeigt sich, wie Sie dem Vaterlande nützen werden. Ein zweiter Bruder unseres genialen Erich Horzel ist dirigierender Arzt der Münchner Militärspitale. Die steigende Zahl der Verwundeten macht die Umschau nach neuen Lokalitäten notwendig. Da hat ihn unser stets hilfsbereiter Erich auf Ihr Haus und Ateliergebäude in der Georgenstrasse aufmerksam gemacht. Es wurde besichtigt, für den Zweck hervorragend geeignet befunden, und die Behörden sind der Sache näher getreten, wollen es, natürlich zu angemessenem Preis, erwerben. Ich zweifle nicht, dass Sie voll und ganz damit einverstanden sind, schon um die sonst drohende Zwangsenteignung zu vermeiden. Wenn ich Ihnen in dieser Angelegenheit irgendwie behilflich sein kann, bin ich jederzeit herzlich gern dazu bereit.

Getreulich Ihr alter Freund
Quartaller.                
Ehrendoktor der Universität
Berlin.«                  

So, Ehrendoktor war er auch schon! Es lohnte sich, mit den Einflussreichen gut zu stehen. Ich gab ihm keine Antwort, schickte seinen Brief meinem Anwalt Dr. Wurmbrand, ersuchte ihn, die Sache, wenn irgend möglich, zu hintertreiben und fügte hinzu, dass ich das Haus auf keinen Fall verkaufen wolle. Nach einer Woche antwortete er mir, die Angelegenheit liege nicht günstig für mich, die Behörden beständen darauf, das 328 Haus und besonders das Ateliergebäude sofort zu einem Sanatorium umzubauen. Einspruch würde infolge des Kriegsrechts wenig nützen. Er empfahl mir, darauf einzugehen und meinen Preis zu nennen. Das Atelierhaus bedeutete mir gefühlsmässig so viel, dass der Gedanke es zu verlieren unerträglich für mich war. Ich lehnte den Verkauf kategorisch ab, hatte den Glauben, er würde doch, irgendwie, auf wunderbare Weise, verhindert werden. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich die Mitteilung, dass die Enteignung beschlossen, der Wert nach sachverständiger Schätzung auf dreihunderttausend Mark bemessen sei. Aus. Die Zinsen daraus hätten nicht den Einnahmen entsprochen, die ich aus den Mieten gehabt hatte, aber ich besass auch noch Geld auf der Bank, brauchte also keine Existenzsorgen zu haben. Doch war ich sehr deprimiert, besonders da die Einrichtung des Ateliers bei einem Speditör eingelagert werden musste.

»Jetzt siehst du aus wie ein ernster Mann, das gefällt mir nicht« sagte Vevi.

»Du hast recht, ich will es mir nicht unter die Haut gehen lassen. Der Teufel soll den Ernst des Lebens holen.«

»Er überkommt uns, wenn wir etwas besitzen, uns daran verankern.«

»So? Aber wie du deine Perlen verloren hattest, hast du geweint, und wenn man dir heut dein Gewächshaus nehmen wollte, würdest du auch weinen.«

»Das verstehst du nicht, Emmaus, Tränen der Frauen haben nichts mit Ernst zu tun. So wenig wie die der Kinder.«

Dabei ruhten wir im Grase, liessen uns von der Frühlingssonne bescheinen. Muspet lag daneben, 329 schnappte nach einer Butterblume, die ihn an der Nase kitzelte. Zwei Libellen flirrten vorbei, mit den Enden ihrer Leiber verbunden.

»Schau, Emmaus! Heut Nacht hab ich geträumt, dass wir so zusammen durch die Luft flogen, weithin über die Täler, das war so schön – so schön, dass ich weinen musste. Wie ich aufwachte, war das Kopfkissen ganz nass.«

»Ja, Libellen sind glücklich.«

»Menschen auch.«

»Horzels nicht. Arme Horzels! Sie haben nichts auf der Welt als ihr bisschen Neid, werden immer neidisch sein müssen, auch wenn es ihnen noch so gut geht. Jeder Mensch bewegt sich in der Bahn seines Schicksals, das Naturgesetz in der Westentasche. Man muss es nur rechtzeitig erkennen oder eigentlich erfühlen. So weiss ich, ich werde nie mit ganzer Kraft einen richtigen Beruf ausüben, immer wird mir das Leben ein Spiel mit Wundern sein, ich werde immer mein genügendes Auskommen haben, ich werde immer –«

»Emmaus, ich möchte einmal versuchen, rote Gurken zu züchten, glaubst du, dass es geht? Eine meiner Gurken hat einen kleinen rötlichen Schimmer, ich will Samen von ihr nehmen, die Blüten immer wieder von den rötlichsten befruchten lassen, bis ich zinnoberrote erzielt habe.«

»ich werde immer.«

»Und dann möchte ich Tomaten mit Kartoffeln kreuzen, sind ja«

»ich werde immer.«

»Pflanzen der gleichen Gattung, so wird man von ihnen im Boden Kartoffeln und über der Erde Tomaten ernten.« 330

Unsere Gedanken hatten sich in diesem Augenblick weit voneinander entfernt. Das taten sie manchmal, aber sie kamen dann immer wieder zusammen, oft in einem Kuss. 331

 


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