Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Der Verbrecher

Schon bald darauf war ich vor die Professoren-Konferenz geladen. Da sassen alle die Herren, die ich klein und gebückt am Bahnhof gesehen hatte, gross und hochaufgerichtet. Professor Urschleim legte meinen Laokoon-Text im Original vor, er erregte gebührende Entrüstung. Zur Verhandlung über meine Untat in der Anatomie waren einige Schüler als Zeugen geladen. Sie sagten sehr günstig für mich aus und dass es begreiflich sei, wenn ein feinfühlender Mensch durch den Anblick dieser, für unser Studium unnötigen, Brutalität in Sinnesverwirrung geriet. Professor Urschleim beantragte meinen Ausschluss. Direktor Prof. Mühlung meinte, halbjährige Entfernung sei genügend. Der Sekretär bat bescheiden ums Wort: »Wenn ich ergebenst auf einen Punkt aufmerksam machen darf, so möchte ich mir ganz unmassgeblich zu bemerken erlauben, dass eine Ausschliessung des Inkulpaten nicht angängig ist, weil er noch garnicht officiell als Schüler aufgenommen wurde.« Auf diese Weise kam ich ohne Hinauswurf davon.

Aber schon erschienen in den Zeitungen grosse Inserate: »Box-Schule Emmaus, Ratingerstrasse 6. Box-Unterricht auf anatomischer Grundlage. Erfolg garantiert.« 44

Als ich die Annonce im Morgenblatt nachsah, fiel mir eine fettgedruckte Notiz im redaktionellen Teil auf: »Soeben wird uns die Trauerkunde, dass unser verehrter Mitbürger Professor der Anatomie Geheimer Medizinalrat Sürdiek heute Nacht verstorben ist. Er ist ein Opfer seines schweren Berufes geworden. Bei einer Sektion erlitt er eine unbedeutende Verletzung, die aber eine perniciöse septische Infektion zur Folge hatte.« – War mir recht unangenehm. Ich sah auch in den anderen Zeitungen nach. Das Skandalblättchen der Stadt, in dem ich nicht annonciert hatte, sagte es schon deutlicher: »Herr Professor Sürdiek ist das beklagenswerte Opfer einer unglaublich rohen Tat geworden. Bei der Sektion einer weiblichen Wasserleiche wurde er von dem früheren Zuhälter der Frauensperson überfallen und niedergeschlagen. Im Falle verletzte den Herrn Professor eins der chirurgischen Instrumente am Halse. Trotz sofortiger Behandlung trat Sepsis ein, der er heute Nacht erlag. Die Polizei fahndet nach dem Täter. Er soll ein hiesiger Boxlehrer (sic!) sein.«

 

Als ich am Abend in die Amicitia gehen wollte, stellte sich mir am Eingang eins der Mitglieder entgegen: »Sie dürfen nicht mehr herein, Mördern ist der Zutritt verboten.« »Ich will Trikkes sprechen«, sagte ich. Der kam heraus, steif und fremd: »Sie wünschen?« »Das ist natürlich nur Ulk, nichtwahr, Trikkes?« »Nein, wir können nicht mehr mit Ihnen verkehren, nachdem sich gezeigt hat, dass Sie Mörder sind, noch dazu Mörder eines geheimen Medizinalrates. Wir würden uns unmöglich machen.« Er schlug mir die Tür vor der Nase zu. 45

In meinem Zimmer hatte ich mir gerade eine Pfeife angezündet, um in Ruhe zu überlegen, was ich nun machen sollte, da kam Graf Glespel. »Ich dachte, mit mir kann man nicht mehr verkehren«, sagte ich. »Saubere Freunde!« Aber er drückte mir herzlich die Hand: »Bezieht sich nicht auf mich. Darfst es den anderen nicht so übel nehmen. Sie alle wollen noch viel im Leben erreichen, möchten das grosse Rennen nicht als Handicap reiten. Freundschaft ist ein Vergnügen für satte Menschen. Die Sache sieht im Augenblick ein bischen gefährlich aus, habe mit meinem Rechtsanwalt darüber gesprochen. Mit unserem Box-Salon wird es vorerst nichts, haben auch ganz vergessen, um Konzession nachzusuchen. Schon ein Kapitalverbrechen. Wegen der Sürdiek-Sache wirst du vor Gericht kommen, kann sich aber höchstens um Körperverletzung handeln. Jeden Augenblick kann jetzt die Polizei erscheinen, um dich zu verhaften. Dann wirst du ein wenig irre reden, Fratzen schneiden, Glieder zucken. Jetzt brauchen wir ein ärztliches Attest. Ich habe einen befreundeten Nervenarzt mitgebracht. Autorität, er wartet unten in der Wirtschaft. Ich hole ihn. Jetzt zieh dich aus und leg dich ins Bett.«

Als die beiden kamen, lag ich mit geschlossenen Augen da, krampfte die Hände in die Bettdecke, liess meine Lippen zittern. Der Arzt, offenbar schon über alles unterrichtet, fühlte meinen Puls, untersuchte mich sehr gründlich, notierte sich meine Personalien. »Also Graf, den Schrieb bekommst du in einer halben Stunde«, damit wollte er gehen. Indem hörte man schwere Tritte vor der Tür, sie wurde aufgerissen. Drei Polizisten traten mächtig herein: »Da haben wir 46 ja den Burschen. Hat sich ins Bett gelegt. Sind Sie der Turnlehrer Emmaus?« Der Arzt trat vor das Bett: »Herr Wachtmeister, ich bin hier zur Behandlung des Patienten. Ich bitte um grösste Schonung und Vorsicht. Es handelt sich um eine schwere psychische Erkrankung.« Inzwischen fiel mir Graf Glespels Rat ein. Ich warf mich in wilden Zuckungen hin und her, verdrehte die Augen, rief »Holdrioho-Evoë-Holdrioho« richtete mich im Bett auf und deklamierte mit schreiender Stimme was mir gerade einfiel:

»Die Polizei, die Polizei, die Polizei hat immer Recht,
Sie ist von göttlicher Natur, von übermenschlichem Geschlecht,
Und gäb es keine Polizei
Wär Anarchie und Schweinerei.
Sie kümmert sich um jeden Mist.
Drum dreimal hoch der Polizist. Hoch-hoch-hoch!«

»Der Kerl ist doch bei Vernunft. Polizeiarzt wird schon feststellen«, meinte der Wachtmeister und kommandierte: »Aufstehen, hopp! Bischen plötzlich!« »Das kann ich nicht verantworten«, sagte unser Arzt, »ich muss jetzt eine beruhigende Injektion machen.« Er nahm eine Spritze aus dem Etui, desinficierte sie, füllte sie aus einem kleinen Fläschchen und spritze mich in den Arm. »Jetzt wird der Patient sofort in tiefen Schlaf verfallen, er darf unter keinen Umständen gestört werden«. Vermutlich bestand die Einspritzung nur aus aqua destillata, aber gehorsam stellte ich mich schlafend.

Die Polizei zog sehr übelgelaunt ab. Leise beriet sich der Arzt mit dem Grafen. Sie fürchteten, früher 47 oder später würde doch der Polizeiarzt auftauchen, deshalb sei es das Beste, sehr schnell zu verschwinden. Der Graf hatte in einer schönen Gegend ein altes Schloss, Glespelbrunn. Dort sollte ich vorerst Unterkommen finden, und dann wollten wir weiter über meine Zukunft nachdenken. Noch in derselben Nacht fuhren wir hin, einige Stunden Bahnfahrt. Wir hatten ein Coupé erster Klasse für uns allein. Er war rührend besorgt um mich, gerade als ob ich wirklich krank wäre. Durchaus sollte ich meinen Kopf an ihn lehnen, und er streichelte mir die Stirn mit seiner weichen Hand, die sich wie die Hand meiner Mutter anfühlte.

»So jetzt können dir die bösen Menschen nichts mehr tun, Liebling.«

Dann tröpfelte er ein wenig Parfum auf sein seines Batist-Taschentuch und rieb mir das Gesicht damit ab. Wir hatten in dieser Nacht noch nicht viel Ruhe gefunden. Das Schwanken des Zuges machte mich sehr müde und, einschlafend, träumte ich, dass ich wieder vom Kindermädchen im Arm gewiegt werde, murmelte: »Du hast mir keinen Gutenacht-Kuss gegeben, Mina.«

Vielleicht hatte der Graf auch schon geschlafen und geträumt: »Ja, nenne mich Mina«, stammelte er und küsste mich, aber nicht wie mich als Kind unsere Wilhelmine geküsst hatte, sondern so wie Mercedes.

Sogleich war ich wieder ganz wach. Dieser Kuss passte so wenig zu dem kratzenden Spitzbart des Grafen, dass ich laut lachen musste. Ganz verwirrt sprang er auf und lief aus dem Coupé.

Er kam erst zurück, als wir in der Station Glespelbrunn einfuhren. 48

 


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