Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Kommerzienrats

Mittags gab es eine Überraschung. Rot und aufgeregt vor Freude kam Frau Lössel auf mich zugestürzt, ein Schreiben in der Hand. »Raten Sie was hier darin steht? Nein, Sie raten es nicht. Diese Ehre! Meinem Gatten ist der Kommerzienratstitel verliehen worden. Anna, Du bist eine Kommerzienratstochter.«

Ich drückte ihr ehrerbietig die Hand: »Meinen herzlichsten innigsten Glückwunsch, Frau Kommerzienrat.«

Sie läutete dem Mädchen: »Das gesamte Personal soll kommen. Es ist etwas passiert.« Bald waren alle ganz erschrocken versammelt, die Mädchen, der Kutscher, der Gärtner mit seiner Frau.

Die Gnädige sprach erhobenen Hauptes: »Von heute ab habt ihr mich nicht mehr ›Gnädige Frau‹ zu titulieren oder gar ›Frau Lössel‹ sondern Frau Kommerzienrat. Wir sind erhöht worden. Zum Mittagessen bekommt heute Jedes von euch eine Mass Bier. Abtreten!«

Bei der Mahlzeit war sie sehr gut aufgelegt, bedauerte nur, das ihr Gatte nicht anwesend sei. »Ich habe es natürlich meinem Schorsch sofort nach Karlsbad telegraphiert. Der wird schauen! Aber er darf seine Kur noch nicht unterbrechen. Wenn er wieder da ist, werden wir ein grosses Fest in unserem 97 Münchner Heim feiern. Sie werden uns doch dabei beehren, Herr Emmaus, vielleicht Ihren geschätzten künstlerischen Rat dazu geben? Unsere Stadtwohnung ist selbstredend viel eleganter als diese hier, und unsere herrliche Gemäldesammlung wird Sie interessieren. Früher hat mein Mann nur Briefmarken gesammelt. Bis ich ihm gesagt habe: ›Schorsch, es muss was an die Wänd!‹ Da hat er sie gegen Bilder eingetauscht.«

Frau Lössel pflegte zum Essen stets eine Halbe Bier zu trinken, ihre Tochter ein Quart. »Anna«, sagte sie, »das ist vielleicht unser letztes Bier. Bei Kommerzienrats trinkt man nur Wein.«

Sie verzichtete heute auf ihr Nachmittagsschläfchen, liess anspannen und fuhr mit Anna in die Stadt. Es war so Vieles zu besorgen: Neue Visitenkarten mussten bestellt werden, neue Messingtürschilder, Briefpapier mit geprägtem Aufdruck, ganz schlicht: Josefine Lössel, Kommerzienrätin. Vielleicht konnte man auch einige Bekannte treffen, um ihre vorläufigen Glückwünsche entgegenzunehmen, zu sehen, wie sie vor Neid platzen.

Ich blieb da und hatte Zeit, mich meiner Erfindung zu widmen und über sie nachzudenken. Das würde eine der grössten menschlichen Errungenschaften werden. Im Geiste erblickte ich eine neugestaltete Welt, auf der die Erdbewohner frei und friedlich durch die Lüfte miteinander verkehren, die Gegensätze der Völker ausgeglichen werden, so dass sich alle zu einer grossen Einheit von Glück und Menschenliebe zusammenfinden. Zuerst machte ich ein ganz kleines Modell, nicht sehr viel grösser als eine Hand. Statt des Fahrrads musste ich bei diesem eine andere Triebkraft verwenden, benutzte ein aufgewundenes 98 Gummiband. Der Versuch gelang. Sobald der Gummi losschnellte, erhob sich das kleine Ding hoch in die Luft, schwebte, kam unbeschädigt wieder herab.

Es dunkelte schon, als die Damen am Abend zurückkamen. Die Kommerzienrätin brachte einen grossen Korb voll französischem Sekt mit, denn im Keller hier draussen war nur deutscher. Auf dem Abendtisch hatte ich mit Hilfe des Gärtners ein grosses Blumenarrangement aufgebaut. Das freute sie sehr. Wir blieben nachher noch beisammen, um die neue Würde mit Champagner und Kuchen einzuweihen. Die Kommerzienrätin zog sich sogar dazu um, erschien in stark decolletiertem Abendkleid. (Ich entschuldigte mich, dass ich meinen Frack nicht mit hätte).

»Leider habe ich nur wenige Bekannte in München getroffen, die meisten sind noch am Land. Frau Loibelfing, wissen Sie, von der Wurstfabrik Loibelfing und Co, wurde direkt grün vor Wut, als ich es ihr mitteilte. ›Ah, da gratuliere ich herzlich‹, sagte sie ›Mein Gatte hätte es ja schon voriges Jahr werden können, aber er hat abgelehnt. Na, da wird nun Ihr Töchterchen wohl einen Mann finden.‹ Was sagen Sie zu so einer Frechheit? Aber ich habe geantwortet: ›Ach wie schade, dass es Herr Loibelfing nicht angenommen hat, sonst könnten wir noch weiter mit Ihnen verkehren.‹ Die hat gelangt!«

Wir setzten uns in bequeme, weiche Lehnstühle. Viel Sekt war in einer Zinkwanne kalt gestellt. Den liessen wir drei uns schmecken, sowie die ausgezeichneten Fruchttörtchen, eine Schöpfung Fräulein Annas. Diese hatte die Mandoline geholt und sang mit ihrem dünnen Stimmchen fröhliche Volkslieder, in 99 deren Refrain manchmal ihre Mutter die immer aufgeräumter wurde volltönend mit einstimmte. In lebhaften Farben schilderte sie das Glück, auf den kommerzienrätlichen Höhen der Menschheit zu wandeln, erzählte dann, immer zutraulicher, wie bescheiden sie anfangs in einer Mietwohnung leben mussten, nur mit einer Aufwartefrau dreimal die Woche und einem Bad, das von mehreren Parteien gemeinsam benutzt wurde. Man könne es sich nicht vorstellen, dass noch heute manche Menschen so vegetieren. Und wie die Aufwärterin gestohlen habe! Bier und die Drei-Liter-Flasche angesetzten Blaubeerschnaps und schliesslich sogar ihren Pelzmantel, allerdings nur gewöhnlichen Nerzmurmel, an Breitschwanz war damals noch nicht im Traum zu denken. Und da hat man die Person betrunken auf der Strasse gefunden, im Pelz mit der offenen Schnapsflasche im Arm. Auf die Polizei wurde sie gebracht, der Pelz war voll Blaubeeren, ganz ruiniert. Die Kommerzienrätin fiel in so heftiges Lachen, dass wir sie auf den Rücken klopfen mussten, kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Sie sprach auch viel von ihrem Mann, wie gut er immer zu ihr gewesen sei. Jetzt allerdings sei er nicht mehr so närrisch verliebt wie am Anfang. Abends im Bett lese er immer die Zeitung und wenn sie sage: »Komm Schorsch, gibst du mir heute keinen Kuss?«, lege er ihr die Zeitung aufs Gesicht. Und sie sehne sich so nach einem Kind. »Anna hättest du nicht gern ein Brüderchen gehabt?«

»Ja, Mama, aber wir haben ja Peter.«

Wir wurden sehr angeheitert, sassen nun nebeneinander auf dem Sofa, hatten uns eingehängt und schaukelten, ein Lied singend, hin und her, lachten, 100 tranken immer wieder. Ich war auch schon ganz benebelt, fühlte mich unendlich glücklich, umarmte die Damen, küsste sie auf die Backen, küsste auch Peter und gab ihm Kuchen, da er durchaus keinen Sekt trinken mochte. Anna fiel zuerst ab, stand auf, um Peter schlafen zu legen, konnte sich kaum mehr aufrecht halten, lallte: »Bettchen gehen« und entschwankte.

Wir zechten weiter. »Nun hat sie uns verlassen, und wir sind ganz einsam«, lachte die Kommerzienrätin. »Einsam«, wiederholte sie, wurde bei diesem Wort auf einmal ernst und dann immer betrübter. »So furchtbar einsam – wenn ich Sie nicht hätte, Emmaus – Sie sind mir ja so sympathisch – Sie sind mir ja so sympathisch – Sie müssen immer bei uns bleiben – immer bei uns.«

Sie weinte, lehnte ihren Kopf an mich. In meinem Rausch tat sie mir schrecklich leid, ich umfasste sie ebenfalls weinend: »Ja, immer will ich bei Ihnen sein.«

Sie schluchzte: »Du bist mein liebes Kind.«

»Und du meine liebe Mama«, stammelte ich, barg mein Gesicht dicht an ihrem Kleid, blies mit fest angepressten Lippen den Atem durch die dünne Seide, dass es ganz heiss darunter wurde.

Sie seufzte tief auf. Ich blickte in die herrlichen kühlen Farbtöne ihrer üppigen Rubensbrust. Ein Schwindel erfasste mich, ein Verlangen nach ihrer Mütterlichkeit. Als Kindchen hatte ich nie so recht an der Brust meiner Mutter liegen dürfen, unbewusst war wohl eine Sehnsucht danach in mir geblieben, packte mich jetzt unbezwinglich. Heiss drückte ich meinen Mund auf die Fülle. Im Rausche schwangen unsere Sinne im gleichen Akkord. 101

»Komm, mein Kind«, hauchte sie und gab mir die Brust wie einem Säugling. Unersättlich und entzückt konzentrierte sich mir der Lebenstrieb in den Lippen, die nach mütterlicher Nahrung strebten.

Welcher Wirbelsturm hat uns dann in ihr Schlafzimmer hinaufgetragen? Wir lagen in dem ungeheuer breiten, daunenweichen Bett. Alle Bewusstheit von Raum und Dimensionen, ja meiner Identität, war mir entschwunden. War ich das All? War ich ein Punkt? War ich ein Körnchen, das sich in die Unendlichkeit fruchtbaren Ackerbodens sehnt? Ich wusste es nicht.

Mächtiger urzeitlicher Strom eines unerklärlichen Gefühls hatte uns beide fortgerissen. »Heim will ich, Mutter, in dich.«

»Komm Kind, ich nehme dich auf.« – – –

Ich erwachte, weil ich, ganz unter der Bettdecke verkrochen, schwer atmete. Sonderbar zusammengekauert lag ich, die Knie in die Höhe gezogen, den Kopf tief gesenkt, die Arme eingebeugt, – wie ein Kind im Mutterleib. Ängstlich hob ich die Decke, schöpfte Luft. Es dämmerte bereits. Mama lag mit lächelnden Lidern im Halbschlaf auf dem Rücken; Der Anblick ihrer Üppigkeit erweckte von neuem kindliche Zuneigung in mir. Ich flüsterte: »Mama, ich komme zu dir.« Sie hüllte die Arme um mich und liess mich in ihrer Mütterlichkeit versinken.

Als wir nach einer Weile ganz wach im Bett lagen, die Köpfe nah beieinander auf den Kissen, sagte sie leise: »Emmaus, du darfst nicht schlecht von mir denken.«

»Nein, Frau Kommerzienrat, jetzt achte ich Sie höher als je.«

»Du musst immer bei uns bleiben, Emmaus. Du kannst Anna heiraten, ich habe nichts mehr dagegen.« 102

»Aber Mama, ich habe ja keine Position.«

»Die wirst du bald bekommen. Ich bin von deinen Fähigkeiten voll und ganz überzeugt.«

Indem krähte ein Hahn, und ich verabschiedete mich schnell, um unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen.

Danach haben wir beide den Rausch dieser Nacht aus dem Bewusstsein entlassen, korrekte Verkehrsformen eingehalten.

Wir schliefen lang, trafen uns erst beim Mittagessen, Anna sehr blass, ich mit einigem Kopfweh, nur die Kommerzienrätin ganz frisch und wie neu erblüht. Wir sprachen wenig.

Beim Dessert, als das Mädchen hinausgegangen war, begann die Kommerzienrätin: »Anna, Herr Emmaus hat gestern mit mir gesprochen. Es ist ihm gelungen, mich zu überzeugen. Ich bin jetzt einverstanden.«

»Ja, wirklich Mama? Das freut mich. Die Gymnastik wird mir gut tun.«

Mama war entsetzt: »Na, hör mal Anna, das ist ein reichlich frivoler Ausdruck, Du darfst nicht bloss an die ehelichen Freuden denken, dazu ist die Ehe denn doch eine zu ernste Sache.«

Anna glotzte verständnislos. »Wieso, Mama?«

»Nun zier dich doch nicht, Kind! Ihr wollt eben heiraten und euere gute Mama gibt euch ihren Segen.«

Anna sprang auf und lief weinend aus dem Zimmer.

Da war ich in einer schönen Patsche! Ich überlegte schnell, wie sich alles verhielt: Ich wollte nicht heiraten, Anna wollte nicht heiraten, wollte die Kommerzienrätin, dass ich heirate? Gewiss nicht, sie wollte 103 bloss, dass ich nicht entschwinde. Es war also nur nötig, alles aufzuklären, manchmal ist es am besten, bei der Wahrheit zu bleiben. So sagte ich nach einer Pause: »Mir scheint ein kleiner Irrtum vorzuliegen, Frau Kommerzienrätin. In der Tat hätte ich nicht gewagt, einer Kommerzienratstochter die Heirat anzutragen. Es war gar nicht die Rede davon. Ich hatte ihr nur geraten, etwas Gymnastik und Sport zu treiben. Darüber mit Ihnen zu reden, hatte ich ihr versprochen. Sie werden es ihr wohl nicht verbieten. Ich hoffe jedoch, Ihrem Hause nah verbunden zu bleiben und vielleicht später, wenn ich es zu etwas gebracht habe, werde ich mir doch noch erlauben, um die Hand Ihrer Tochter anzuhalten, das heisst, wenn sie mich mag.«

»Ach, so ist das, Herr Emmaus! Die Hauptsache ist, dass du, pardon, Sie uns erhalten bleiben. In ein paar Tagen will mein Mann, der Kommerzienrat, wiederkommen, wir werden dann zusammen über Ihre Zukunft beraten.«

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau«, sagte ich und verabschiedete mich einstweilen mit einem Handkuss.

Uff – die Gefahr war beseitigt.

Anna beruhigte sich schnell, als ich ihr erklärte, es sei nur ein Missverständnis gewesen und dass wir jetzt den Gymnastiklehrer besorgen sowie den Tennisplatz herrichten lassen wollten.

Den Gymnastiklehrer fanden wir durch ein Inserat, allerdings nannte er sich Trainer, das klang vornehmer. Er war ein in allen Sportarten geübter Kraftmensch, hatte geöltes, in der Mitte gescheiteltes, schwarzes Lockenhaar, einen lang ausgezwirbelten, dünnen Schnurrbart, war wohl vorher Artist 104 gewesen, er hiess Witzgall. Ich besorgte ihm in der Stadt alles zum Tennisspiel und zu den Körperübungen Nötige. Der Tennisplatz war gut aber ganz verwahrlost, unter seiner fachmännischen Leitung wurde er von Gärtnergehilfen in Stand gesetzt, ein Geräteschuppen für die Gymnastik adaptiert. Anna entwickelte sich schnell zu einer sehr guten Tennisspielerin, wurde viel frischer und munterer, sodass sie fast anfing mir zu gefallen. Sogar ihre Mama versuchte manchmal mitzutun, besonders bei der Gymnastik, und es bekam ihr gut. Die Zahl ihrer Unterkinne nahm ab, ihr Körper straffte sich, sie zeigte viel Lebhaftigkeit und gute Laune. Der Trainer brauchte jetzt nur mehr dreimal wöchentlich zu kommen, ich konnte ja immer mit den Damen üben. Darüber vernachlässigte ich nicht die Arbeit an meiner Erfindung. Bald sollte der Apparat zu einem Probeflug fertig sein, stand schon in einem Schuppen auf der Anhöhe beim See. Witzgall interessierte sich auch sehr dafür, blieb manchmal über die Zeit, um mir behilflich zu sein. Was mir weniger gefiel, war, dass er sich auch für Fräulein Anna zu interessieren schien, besonders das Gymnastik-Training liess mich bemerken, dass er sie oft in einer Weise berührte, die sportlich nicht begründet war, und ihr dabei tief in die Augen zu schauen suchte. Und Anna wehrte dem nicht, ermunterte ihn sogar durch freundliches Lächeln. In meinem Revier sollte er nicht jagen, ich beschloss, bei Zeiten einzugreifen. Nur abwarten!

So vergingen Wochen, es herbstelte schon. In den letzten Tagen begann die neue Lebhaftigkeit der Kommerzienrätin wieder nachzulassen. Die Rückkehr ihres Gatten verzögerte sich von Tag zu Tag, und 105 das Warten machte sie nervös. Wir sassen allein beieinander in der Abenddämmerung.

»Warum der Schorsch nur so lang ausbleibt? Ich werde hinfahren und ihn holen.«

»Der Kommerzienrat wird doch nicht kränker geworden sein?« fragte ich besorgt.

»Oh nein, Herr Emmaus, er schreibt mir sehr vergnügt. Höchstens hat er dort ein Gschpusi angefangen.«

»Aha, Frau Kommerzienrat sind ein bischen eifersüchtig.«

»Aber was fällt Ihnen ein! Ich gönne ihm jedes Vergnügen. Es ist nur – nämlich – es ist nur – auch er soll nicht eifersüchtig werden, deshalb muss ich hinfahren.« Plötzlich erfasste sie meine Hände, drückte sie heftig:

»Emmaus, du lieber, guter Emmaus, ich bekomme ein Kind. Ich bin ja so glücklich, so unsagbar glücklich, aber es muss sein Kind sein.«

»Oh verflucht!« murmelte ich. Dann erregte mich aber die Kunde mächtig. Ich schloss die Kommerzienrätin in meine Arme, küsste sie innig und lang.

Sie entwand sich mir: »Emmaus, wir müssen vernünftig sein und vorsichtig.«

»Ja, Mama, du hast recht. Niemand wird etwas von uns wissen. Gnädige Frau, Sie können sich auf mich verlassen.«

Am nächsten Tag ist sie nach Karlsbad gereist. 106

 


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