Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Volksversammlung

Der Riesensaal des Bürgerbräus war überfüllt, tausende fanden keinen Platz, drängten sich, trotz der Winterkälte, im Freien um die Eingänge. Viele Rätesoldaten waren da, meistens bewaffnet, auch viele Bürger aller Schichten, sogar Bauern und zahlreiche Frauen und Mädchen. Die meisten Biertische waren aus dem Saal entfernt um Raum zu schaffen, man stand Schulter an Schulter. Auf dem Podium sass eine Art Comité, bestehend aus einigen Landtagsabgeordneten, einigen Abgesandten der russischen Räterepublik, aus Herrn Simon Ochler, früher ein kleiner Literat des Arbeiterblattes, nun Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats, und aus Herrn Wirsing, der hatte eine grosse Pappschachtel neben sich gestellt. Man beabsichtigte, die Versammlung in grösster Ordnung durchzuführen, nur angemeldete Redner sollten sprechen, sie hielten sich in der Nähe des Podiums auf. Ich auch. Daneben hatten sich die Musikanten der Gewerkschaft mit ihren Instrumenten niedergelassen.

Ochler ergriff das Wort. Sein Aussehen war weit von dem eines Arbeiters oder Soldaten entfernt, offenbar nach dem Bildnis von Karl Marx gestaltet. Er hatte langwallende, graumelierte Haare, einen schütteren weissen Vollbart, sein Kopf sass viel zu gross 376 auf dem dürftigen Körperchen, er trug einen schwarzen Zwicker im Gesicht an einem Kettchen, das seinem kragenlosen roten Hemde entsprang. Das Hemd stand offen und liess unter dem Bart noch ein wenig von seiner behaarten Brust sehen. Trotz des roten Hemdes trug er steife, weisse Röllchen, die ihm beim Sprechen immer aus den Ärmeln hervorrutschten und durch eine Handbewegung zurückgeschnellt werden mussten. »Arbeiter und Soldaten! Wir wollen zuerst die Marseillaise singen.« Die Musik setzte ein, ohrenbetäubend schallte der Gesang der Menge, auch Ochlers Mund war weit aufgesperrt, deutlich sang er mit. Als es ruhig geworden war, sprach Ochler: »Arbeiter, Soldaten, Deutsche, Europäer! Die Weltrevolution marschiert. Tausend Jahre, ja Äonen der Schmach liegen hinter uns, sind überwunden. Der Kapitalismus ist besiegt, wälzt sich wie ein getöteter Drache am Boden in seinem Blute, dem Blute, das er dem werktätigen Volke ausgesaugt hat. Nie wird er sich wieder erheben, nie wieder die Welt mit seinem Gifthauch verpesten.«

»Lauter! Lauter'« rief man im Saale, seine dünne Stimme drang nicht durch und er suchte sie gewaltsam zu steigern, das ergab ein komisches Krähen, als er fortfuhr:

»Die Monarchie ist restlos vernichtet, der Militarismus auch, zur Gänze, auf ewig. Das verdankt der Erdkreis dem deutschen Soldaten, der jetzt in den Streik getreten ist, den glorreichsten, den erhabensten aller Streiks, den die Weltgeschichte kennt. Deutsche, Genossen! Noch wissen die Feinde der Monarchie Deutschlands nicht, dass wir diese genau so bekämpfen, wie sie es so erfolgreich getan haben. ›Liebet eure Feinde‹ lautete ein Wahlspruch des nun zum alten 377 Eisen geworfenen Aberglaubens. Aber ihr Feinde draussen an des Reiches Grenzen, wisset, dass wir euch lieben, weil ihr unsere Ausbeuter zerschlagen habt. Alles für das Volk und durch das Volk! Es lebe die Weltrevolution! Heil Moskau!«

Der Beifall war nicht sehr stark, denn seine Stimme war nur in der Nähe hörbar gewesen, in den entfernteren Teilen des Saales applaudierte man mehr aus Pflichtgefühl, besonders die Frauen.

Die Stimme des folgenden Redners klang kräftiger, es war die eines Landtagsabgeordneten der Arbeiterpartei, Kissblech:

»Genossen! Den lichtvollen Ausführungen unseres Vorsitzenden, Genosse Ochler, habe ich nur wenig hinzuzufügen. Ich schlage vor, dass eine allgemeine Volksabstimmung veranstaltet wird, zum Zwecke der Wahl eines Präsidenten des Freistaates Bayern, ja vielleicht des Freistaates Deutschland. Wir stellen nur einen Kandidaten für dieses Amt auf: Genosse Ochler. Die Wahl wird geheim und gänzlich unbeeinflusst sein, wobei ich aber nicht unterlassen will, darauf aufmerksam zu machen, dass jeder, der dem Genossen Ochler seine Stimme vorenthält, sich des Verrats am deutschen Volke schuldig macht und die Folgen selbst zu tragen hat. Erst nach dieser Wahl wird der Arbeiter- und Soldatenrat die zur Neuordnung nötigen Gesetze beschliessen wie: Aufhebung des Privateigentums, Abschaffung des Militärs, des Adels und der Kirche sowie aller Klassenvorrechte, Verstaatlichung des Grundbesitzes und der Betriebe und nie wieder Krieg. Genossen, wir stehen an einer Zeitwende epochalen Ausmasses, wir gehen der herrlichsten Periode entgegen, welche die Geschichte aller Völker jemals 378 erlebt hat. So stimmt mit mir ein in den Ruf: Die Weltrevolution, sie lebe hoch!«

»Hoch, hoch, hoch«, brüllte die Versammlung, rauschender Beifall erfüllte den Saal, wollte sich nicht beruhigen.

Den Lärm benutzte Daffodil, um Stiermeier und Guggemos auf mich hinzuweisen. »Jetzt schiesst los, der Augenblick ist günstig.« »Ja, sehr günstig, du Lump, du dreckiger«, sagte Guggemos und gab Daffodil eine knallende Ohrfeige. Stiermeier wollte nicht zurückstehen und haute ihn mit der Faust auf den Magen. »Du Reaktionär, ausgeschamter! Du Lockspitzel!« »Was ist denn los?« riefen die Nächststehenden. »Einen Spitzel haben s' derwischt.« Getümmel und wüstes Durcheinander entstand, Weiber kreischten, Männer schrieen, Daffodil wurde hinausgeworfen. Während dieses Zwischenfalls hatte Wirsing seiner Schachtel ein Mikrophon entnommen und für mich am Rednerpult aufgestellt, damit meine Stimme laut genug sei.

Mir wurde sehr bange bei dieser Vorbereitung. Ich sollte reden, eine Volksmenge überzeugen, die ganz anderer Meinung war. Was ging mich die Weltgeschichte an? Nur ein Wunder konnte mich jetzt retten. Plötzlich verspürte ich ein grimmiges Bauchweh, wohl von dem kalten Bier, das ich in der Aufregung schnell hineingetrunken hatte. Ich musste unbedingt hinauskommen, mischte mich unter die tobende Menge, hielt mich zu denen, die Daffodil in's Freie beförderten. Auf einmal war ich draussen, dachte an einem stillen Ort über alles nach und beschloss, nicht wieder in den Saal zu gehen. Was drinnen weiter geschah, weiss ich nur aus Berichten. 379

Wirsing verkündete: »Genossen! Die Meteorpartei grüsst euch, schreitet mit euch auf eurer segensreichen Bahn. Der Obermeteorist Emmaus will euch das näher erklären. Darf er ein paar Worte an euch richten?« Zustimmungsrufe aus der Menge. Wirsing zog sich zurück, indem er suchende Blicke umhergleiten liess. Lähmende Stille trat ein. Alles wartete vergeblich auf mich.

Da erhob sich ein junger Soldat, der vorher neben Daffodil gestanden hatte, stürzte zum Rednerpult, schwang sich hinauf. Er sah mir so ähnlich, dass Viele zuerst meinten, ich sei es, bis sie merkten, wieviel jünger er war. Diesem Umstand verdankte er wohl, dass man ihn überhaupt hinaufgelangen liess. Nun stand er am Mikrophon, seine Stimme, vielfach verstärkt, dröhnte bis in die entferntesten Winkel, ja hallte durch die geöffneten Türen zu den Draussenstehenden. Die weit aufgerissenen Augen, die verkrampften Züge schienen die eines Fiebernden zu sein, Schaum stand ihm vor dem Munde, beim Sprechen bewegte er wild die geballten Fäuste: »Soldaten! Deutsche! Ich komme von der Front, aus dem Heil bringenden Stahlbad. Ich rufe euch zu: haltet ein, ihr taumelt dem Abgrund entgegen. Die euch Freiheit und Gleichheit versprechen, sind die Sendlinge unserer Feinde. Das glorreiche deutsche Heer ist unbesiegt, nur der feige Dolchstoss von daheim hat es zum Rückzug gezwungen. Wir wollen weiter kämpfen, siegen oder sterben.«

Lärm erhob sich, Protestrufe, doch mit Hilfe des Mikrophons übertönte er alle. »Wenn hier gesagt wurde: Nie wieder Krieg, so sage ich: Nie wieder Friede! Nie, ehe wir den uns gebührenden Platz an der Sonne erobert haben. Die Zukunft der Welt wird deutsch sein 380 oder sie wird der Vergangenheit angehören. Das Militär, unsere wundervolle Wehrmacht, muss erhalten bleiben, sonst sind wir den verbrecherischen Feinden leichte Beute, wehrlos.«

Wirsing versuchte ihn wegzudrängen, da er aber auch gleichzeitig das Mikrophon beiseite schieben wollte, gelang ihm beides nicht, man begann zu lachen, so gab er es auf. »Der Adel darf nicht abgeschafft werden. Im Gegenteil. Jeder Deutsche soll das Recht haben, einen beliebigen Adelstitel zu führen, damit er sich von den ausländischen Untermenschen abhebt. Jeder Deutsche ein Graf und ich ihr Herzog! Die Kirche muss erhalten bleiben, damit sie unsere Waffen segnen kann. Das Privateigentum muss erhalten bleiben, denn wovon sollen sonst Steuern bezahlt, Kriege finanziert werden? Wir wollen es mit hundert Prozent besteuern.«

»Da bleibt ja nix.«

»Auch ein Kommunismus«, wurde dazwischen gerufen.« Nein! tausendmal nein! kein Kommunismus! keine Revolution! kein Meteor! ›Standarte‹ nennt sich die herrliche Partei, die euch erretten wird aus Schande und namenlosem Elend. Schon eilen ihre Truppen herbei, um euch zu befreien von den gewissenlosen Volksverführern. Scharet euch um mich, denn wisset, ich bin Ikarus der Held, der die Flügel ausbreitet, um zum Licht emporzusteigen. Folget mir nach, und unser ist der Sieg.«

Er breitete die Arme aus und schaute starr nach oben. Es war, als ob von seinem Fieber eine Hypnose ausging, vieler Frauen Blicke schmolzen verzückt wie in Wollust, aber auch manche Männer unterlagen einem Fluidum, das sich ganz gegen ihre Überzeugung auf sie herabsenkte. Massen kann man zu allem 381 überreden, es kommt nur darauf an, in welchem Ton es gesagt wird. Trotzdem widerstanden Viele, und der Spektakel wurde so arg, dass er selbst durch das Mikrophon nicht zu übertönen war. So schwieg Ikarus, sofort erschlafften seine Züge, die Arme sanken herab, es war, als ob er kleiner würde, die Augen verloren ihr Feuer unter müden Lidern. Wirsing und Kissblech benutzten dieses Nachlassen, um Ikarus wegzuziehen und abzuführen. Am Daumen lutschend folgte er ihnen willig.

Aber so gross war die Zauberkraft, die Ikarus ausgeübt hatte, dass Vielen der Hingerissenen dieser jämmerliche Abgang nicht ins Bewusstsein kam, sie waren fest überzeugt, er sei mit ausgebreiteten Flügeln über die Köpfe der Menge hinweg entschwebt. Das glaubten sie gesehen zu haben. Lebhafte Diskussionen entstanden in der Versammlung. Manche waren so erregt, dass sie fortgingen, um in der Stadt Kunde von dem Geschehenen zu geben. Endlich gelang es Wirsing, sich durch das Mikrophon ein wenig Gehör zu verschaffen.

»Genossen! Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, der Irre, den ihr soeben hier gehört habt, war nicht Emmaus. Emmaus ist auf geheimnisvolle Weise aus unserer Mitte entschwunden, ich fürchte, er ist in die Gewalt der Reaktion gelangt, entführt worden. Wir werden ihn befreien. Bei späterer Gelegenheit wird er, so hoffe ich, das Wort an euch richten können.«

Er packte sein Mikrophon zusammen, tat es wieder in die Schachtel und ging fort. Kein Redner meldete sich mehr, unter Absingung der Arbeitermarseillaise brach man auf.

Ich hatte in der Gastwirtschaft schnell ein Glas Schnaps getrunken, und mein Inneres war wieder in 382 Ordnung gekommen. Ich eilte zum Hotel, nahm meine Sachen, um schleunigst in ein anderes zu übersiedeln, damit mich Wirsing nicht erwische. Alle Hotels waren überfüllt, sogar in den Badewannen mussten Gäste schlafen, ich fand nirgends Platz. Ich wollte in dem Wartesaal des Bahnhofs die Nacht über bleiben, er war abgeschlossen. In der grossen Eingangshalle des Bahnhofs waren sechs Feldbetten aufgeschlagen, auf denen schliefen Rätesoldaten als Wache, das Gewehr und meistens auch ein Mädchen im Arm, einige, in ziemlich entkleidetem Zustand, benahmen sich sehr unzweideutig. Ich schaute verschämt weg.

»Grüss Gott, Genosse Emmaus«, rief einer davon, es war Guggemos. »Weil du nur grad da bist! Ich hab schon gemeint, die Spitzel hätten dich gefangt und aus wär's. Bist ihnen auskommen, gelt? Wo willst denn hin?« Ich sagte ihm, dass ich nirgends eine Schlafstelle finden könne. »Bleibst halt hier bei mir. Das Mensch werfen wir naus.« Er rüttelte sie:

»He, mach dass d'weiter kommst! Kann dich nimmer brauchen hier.« Das ging nicht so leicht.

»Schaut's mir doch so einen Pazi an!« schrie sie. »Und so was will a Genosse sein! Erst vergewaltigt er ein' und dann schmeisst er ein' naus. Alles für das Volk und durch das Volk. Ich mach dir ja so einen Krach – du Dreckhammel.« Unvermittelt fing sie an laut zu heulen, wie ein Tier. Passanten blieben stehen und lachten. Soldaten wurden wach, riefen »Schmeiss's doch naus! Sollen wir helfen?« Zwei kamen herbei, fassten mit an, zu dritt trugen sie das brüllende und strampelnde, nur mit einem Hemdchen bekleidete arme Ding hinaus auf den kalten Perron, warfen ihre Kleider neben sie hin. 383

»Geh, Guggemos, das war gemein, ist doch ein ganz nettes Mädchen, bring ihr das, bitte.« Ich gab ihm einen Hunderter und er ging wieder zu ihr hin. Ob er ihr ihn wirklich gegeben hat, ist allerdings nicht ganz sicher.

»So da leg dich jetzt nieder«, sagte er zu mir, »hast a Cigaretten?« Ich hatte.

»Magst ein Bier? Wir haben hier ein Fassl, eigens für die Wache.«

»Trink nur, Guggemos, ich kann jetzt nicht, hab's ein wenig in die Gedärm', drum hab' ich auch nicht reden können in der Versammlung.« Er trank. Dann lachte er:

»Gelt, das war eine Gaudi mit dem Ikarus? Ich kenn' den Vogel, ist von unserm Regiment. Meinst Wunder, wie tapfer er war nach seine Sprüch'. Aber sobald das Schiessen losgegangen ist, hat er alleweil Krämpf' kriegt und ist umgefallen. Bei Soissons ist er doch mal in's Feuer gekommen. Da hat er so viel Angst gehabt, geweint hat er und nach seiner Mama geschrieen und dann ist er liegen blieben und sie haben ihn in's Lazarett geschafft. Hat ihm aber nix weiter gefehlt, nur a bisserl narrisch. Das ist ihm, scheints', geblieben, sonst hätt' er nicht so saudumm daherreden können. Und die Weiber heut' haben ihm alles glaubt, sind ja nicht viel dumm die Weiber! Vielleicht hatt' ihn auch der Daffodil angelernt. Hast es gesehen, wie mir den verhaut haben? Der traut sich nimmer.« Er trank sein Bier aus, legte sich neben mich, deckte uns beide gut zu mit der groben Decke und bald schliefen wir.

Ich wachte von einem scharfen, säuerlichen Ledergeruch auf, der mir die Nase beizte, erinnerte mich, dass das Soldatengeruch war und da wusste ich erst 384 wieder, wo ich war. Die Lampen leuchteten noch, hoch an der gewölbten Decke der Halle, aber draussen wurde es schon hell. Guggemos schnarchte fest, den leeren Bierkrug im Arm. Ich wickelte mich vorsichtig aus der Decke, zog meine Schuhe an, ich hatte mich nur wenig entkleidet, und ging leise weg mit meinem Rucksack und dem Handköfferchen. Dieses gab ich in der Garderobe zur Aufbewahrung ab, den Rucksack hängte ich um. Ich frühstückte in der Bahnhofsrestauration, stellte fest, dass der nächste Zug nach Passau erst Mittags fahren sollte. So ging ich in die Stadt, um einige Einkäufe zu machen. Es lag kein Schnee mehr, war trüb und warm, die Strassen mit dickem Schlamm bedeckt, stellenweise fast unpassierbar, denn sie wurden nicht mehr gesäubert. Wer hätte es auch machen sollen, da jetzt alle Menschen gleich waren oder alle Grafen? Im Warenhaus, dem Bahnhof gegenüber, kaufte ich einen schönen Kinderwagen und eine vollständige Baby-Ausstattung. Ich hatte keine Ahnung, was alles dazugehörte, aber ein Ladenfräulein nahm sich meiner an, als ich ihr sagte, es sei nicht für mich, sondern für eine entfernte Kusine. Sie erzählte dabei, dass sie sich genau auskenne weil sie auch ein Kindchen habe, sehr herzig, aber der Vater, der Lump, habe sich gedrückt, ein besserer Herr sei er auch noch gewesen, ein Student, dem habe sie mit ihrem sauer verdienten Gehalt erst das Studium ermöglicht, Mediziner sollte er werden, weil sie gemeint habe, da könnte sie sicher sein, dass nichts passiert.

»Aber nix hat er verstanden und, wie es so weit war, hat er gesagt: ›Das ist strafbar, das mache ich nicht‹, und weg war er. Ist halt ein Kreuz.« Die Sachen wurden in den Kinderwagen gepackt, und ich nahm ihn 385 gleich mit, schob ihn zum Bahnhof, um ihn dort aufbewahren zu lassen bis zur Abfahrt. Wie ich hinüberkam, war dort angeschlagen, der ganze Zugverkehr sei eingestellt, Generalstreik. ›Alles durch das Volk und für das Volk‹ dachte ich. Wenn nur die Garderobe noch funktioniert! Doch die war eben im Begriff, in den Streik zu treten. Ich konnte gerade noch meinen Handkoffer herausbekommen, legte ihn mit in den Kinderwagen und dachte nach, welches Wunder mich jetzt nach Passau bringen würde. Aber wer weiss, ob man sich noch auf Wunder verlassen konnte, in dieser Zeit, wo alles stürzte. Es blieb nichts anderes übrig, ich musste versuchen, zu Fuss dorthin zu wandern, meinen Kinderwagen auf der Landstrasse zu schieben, in vierzehn Tagen könnte ich vielleicht in Passau sein oder in drei Wochen. Ich machte mich auf den Weg. Da kam ich an einem Taxihalteplatz vorbei, sah, dass die noch nicht alle in Streik getreten waren, zwei Autodroschken hielten dort. »Helfen Sie mir, den Kinderwagen hineinheben«, sagte ich zu dem Chaufför. »Wird nicht gehen, Herr, aber am Gepäckträger können wir ihn festmachen.« »Gut.« Auf dem wurde der Kinderwagen mit Riemen und Stricken befestigt, war eine halbe Stunde Arbeit, der andere Chaufför half mit.

»Wohin fahren wir?«

»Nach Passau.«

»Wohin?«

»Nach Passau, hab' ich gesagt.«

»Nach Passau? Bist narrisch worden? Den schaugt's an, den Ganzandern! Glei tust dei Kinderwagerl wieder runter, dei Glump, sonst stier' ich dir eine.« Ich musste selbst die Stricke und Riemen wieder entknüpfen, die Chaufföre schauten grinsend zu, und Leute 386 waren stehen geblieben und lachten. Ein elegantes Privatauto kam gefahren, hielt. Der Wagen war leer, sein Chaufför trat neugierig zu uns. Schimpfend erzählte ihm der des Taxi, was ich ihm zugemutet habe. Der Privatchaufför stellte sich dicht neben mich, kniff ein Auge zu und deutete mir mit einer Kopfbewegung an, dass ich ihm folgen solle. Dann fuhr er langsam weiter und ich schob mein Kinderwagerl fort unter höhnischem Halloh der Zuschauer. Um die nächste Strassenecke fand ich das Privatauto, war ein schöner, grosser Wagen. Der Chaufför stand davor, erwartete mich. »Ich fahr' Sie, was zahlen S'denn?«

»Was verlangen Sie?« Er nannte eine Riesensumme.

»Um den Preis könnte man ja so einen Wagen kaufen«, antwortete ich.

»Könnte man«, meinte er lachend. »Darüber liesse sich reden.«

»Wieso?«

»Das erkläre ich Ihnen danach. Jetzt, wollen'S fahren?« Ich wollte, und wir wurden über den Preis einig. Es war ein Auto mit abnehmbarem Dach, so gelang es, den Kinderwagen hineinzubringen.

Dabei bemerkte ich einen Mann, der in einiger Entfernung zuschaute, erinnerte mich, dass ich ihn heute und auch am vergangenen Tag wiederholt in meiner Nähe gesehen hatte, nur war er so unauffällig, dass es mir vorher nicht zum Bewusstsein gekommen war. »Vielleicht ein Spitzel«, dachte ich und ging auf ihn zu. Da enteilte er. Nachdenklich geworden, schaute ich mir das Auto genauer an. Es war ein Zralok-Wagen, ich merkte mir die Nummer, sagte zu dem Chaufför:

»Warten Sie hier eine Viertelstunde, ich muss mir noch Geld holen, ganz in der Nähe.« Den Rucksack 387 mit meinem Geld behielt ich auf dem Rücken. Ich ging in die Dachauerstrasse zu einem Waffenhändler, kaufte einen Browning-Revolver und Munition, dann telephonierte ich auf dem nahen Postamt an die Polizeidirektion, Verkehrsabteilung. »Bitte, können Sie mir sagen, wem gehört das Auto Nummer 6390?« Es dauerte eine Weile, bis man nachgeschaut hatte. »Nummer 6390 ist abgemeldet, hat Direktor Daffodil gehört.« Ich kannte mich aus. Als ich zum Wagen zurückkam, sah ich, dass der Unbekannte in das Fenster hineinsprach und schnell wieder wegging. Anscheinend hatte ich nichts bemerkt, setzte mich neben den Chaufför, der schon am Lenkrad postiert war.

»Also los!« sagte ich. Wider meine Erwartung fuhr er den richtigen Weg, bald waren wir auf der Landstrasse, trotz angespannten Achtgebens merkte ich nichts Verdächtiges. Immerhin nahm ich meinen Browning aus der Tasche und tat, als ob ich ihn putzte, gab die Patronen hinein. Der Chaufför nahm es nicht zur Kenntnis.

»Ist fei was Kommodes so ein Browning in dieser gefährlichen Zeit«, sagte ich.

»Ja, Sie hätten ihn leicht brauchen können, Herr Emmaus.«

»Was, Sie kennen mich?«

»Aber selbstredend, haben Ihnen doch schon den ganzen Morgen aufgelauert oder meinen'S vielleicht, das war ein Zufall, dass ich daherkommen bin, wie der Taxi Sie nicht fahren wollt'? Haben'S den Hallodri nicht gesehen, der wo Ihnen nachgangen ist?«

»Der vorhin mit Ihnen durch das Fenster gesprochen hat?«

»Freilich, derselbige. Schaun'S ich hab' auch so ein' 388 Browning, da in dem Wandtascherl ist er.« Ich griff hin, richtig, da war er, vorsichtshalber nahm ich ihn an mich.«

»Sie könnten ihn auch drin lassen, Herr Emmaus, ich tu Ihnen nix. Gestern in der Versammlung hat mir der Stiermeier, wo ein früherer Kolleg' von mir ist schon gesagt, was der Daffodil für einer ist, und dann haben's den Daffodil ja gehaut, dass's nur so gescheppert hat. So zugericht' war er, dass ich ihn gleich hab' zum Doktor fahren müssen zum verbinden. Daheim hab ich ihn seine Wohnung naufgeschleppt, er konnt' fast nimmer gehn. Er ist dann am Sofa gelegen, ich hab' ihm kalte Umschläg' gemacht.

›Losbichl‹, hat er gesagt, ich schreib' mich nämlich Losbichl Rudi, ›magst das Auto haben? Ich schenk's dir, abgemeldet ist's schon.‹ Ich hab' gemeint, er macht Spass.

›Ja, dank schön‹, hab ich gesagt, ›aber das müssen S'mir schon schriftlich geben, sonst heisst es gleich, ich hab's gestohlen.‹

Ich musste ihm Papier und seine Füllfeder holen, und er hat geschrieben:

›Ich schenke hiermit mein Auto, Marke Zralok, Nr. M. 6390 an meinen Chaufför Herrn Rudolf Losbichl unter der Bedingung, dass er darin mit dem Kunstmaler Emmaus eine Fahrt unternimmt, von der dieser nicht lebend zurückkommt.‹

So war also die Sache.

›Schon recht, Herr Direktor‹, hab' ich gesagt, ›aber die Bedingung muss weg aus dem Schrieb, sonst gilt der ganze Vertrag nichts und ich bin ausgeschmiert.‹

›Aber was fällt dir ein Losbichl, wir sind doch Ehrenmänner‹, hat er gesagt. 389

Ich hab nicht nachgegeben, und er hat eine neue Schenkung schreiben müssen, in der nix von der Bedingung gestanden ist. Wissen'S das Auto hat er schon abgemeldet gehabt, damit er ja in nix hineinkommt. So wär' alles hübsch an mir hängen blieben. ›Du schmierst mich nicht so aus wie den Stiermeier‹, hab ich denkt, ›aber ich dich. Nix soll dem Emmaus geschehen, und wenn mir der Wagen nur erst gehört, dann sag' ich dem Herrn Direktor auf und mach einen Taxi.‹ Ich werd' mir einen Taxameter einbauen, aber vielleicht kaufen Sie mir den Wagen ab?«

»Darüber können wir beim Mittagessen reden, Herr Losbichl. Jetzt müssen Sie zuviel auf den Weg Obacht geben, die Strasse ist miserabel.«

In Landshut tankten wir und assen zu Mittag. Es war schon ein bischen spät dafür, so sassen wir ganz ungestört in der Gastwirtschaft ›Zum bayrischen Löwen‹.

»Also was ist mit dem Kauf, Herr Emmaus?«

»Zuerst möchte ich die Schenkungsurkunde sehen.« Er zeigte sie mir.

»Hm, Herr Losbichl, müsste wohl eigentlich notariell sein, aber sie genügt als Beweis meines guten Glaubens. Ist der Wagen ordentlich in Stand?«

»Tadellos, fast ganz neu, noch keine zweitausend Kilometer gefahren. Und luftgekühlt ist er, das ist sehr kommod' im Winter, friert nicht ein.«

»Was kostet er?«

Ich wusste zufällig Bescheid über die Preise der Zralok-Wagen, so konnte er mich nicht über's Ohr hauen. Allerdings dauerte es lang, bis wir uns über die Summe geeinigt hatten.

»Übrigens, Herr Losbichl, ich kann nicht 390 chauffieren. Wenn das Wetter einigermassen gut ist, könnten Sie mich es gleich lehren, in Passau, bei mir wohnen.«

»Ja, das tun wir, ich bleib' gern eine Weile von München weg.« In Plattling machten wir Kaffeestation. Losbichl liess sich einen Briefbogen geben, schrieb: »Herrn Oberdirektor Daffodil, München! Indem die Sache Emmaus erledigt ist wern Herr Direktor so schnöll nix mer zu sehn kriegn von Ihm. Ich fahr gleich weiter mit meim Wagen trette hirmit aus dem Dinst aus bei Ihnen. Ist besser so. Meine Adrese ist Postlagernd Berlin. Hochachtendst Losbichl Rudi.«

Den Brief gaben wir zur Post.

Vermutlich hat Daffodil es veranlasst, dass am nächsten Tage in Münchener Zeitungen berichtet wurde, der Kunstmaler Emmaus sei bei einer Autotour tödlich verunglückt. Ich habe das erst später erfahren, würde es aber auch sonst gewiss nicht dementiert haben, denn es hatte die angenehme Wirkung dass weder Wirsing, noch die Räte, noch die Waffenparteiler sich weiter um mich kümmerten. Nirgends ist ein Nekrolog auf mich erschienen, das lag wohl an der Unruhe der Zeit. Ich bin nie auf Nachruhm erpicht gewesen, so verletzte das meine Eitelkeit nicht weiter. Die Zeit wurde allerdings immer unruhiger. Man hatte den Fehler gemacht, Ikarus als harmlosen Narren zu betrachten und ihn frei herumlaufen zu lassen. Nun war es geschehen dass er Simon Ochler vor dem Landtagsgebäude durch zwei Revolverschüsse tötete, worauf er von Räte-Soldaten mit Gewehrkolben niedergestreckt wurde. Der Schädel war schwer verletzt, aber er lebte noch, lag in der Klinik. Die Stadt befand sich in hellem Aufruhr. Wie gut, nicht mehr dort zu sein! 391

Spät am Abend kamen wir nach Passau, blieben im Goldenen Stern über Nacht, denn ich wollte Vevi bei Tag überraschen.

So fuhren wir denn zeitig am nächsten Morgen hinauf, war eine schwierige Sache auf dem glattgefrorenen, steilen Weg, aber mein Chaufför machte es sehr gut. Wir hupten, warteten aber nicht bis jemand kam, ich hatte Schlüssel mitgenommen und sperrte Tor und Haustür auf, liess Losbichl unten warten und ging hinein. Alles blieb unheimlich still, als ich die Treppe emporstieg. An der Schlafzimmertür hörte ich, wie Vevi drinnen ein Kinderliedchen sang, öffnete leise. Da sah ich ein rührend schönes Bild: sie sass an einer Wiege, schaukelte sie sanft und streichelte mit der anderen Hand das hochaufgeschichtete Bettchen. Sie drehte den Kopf nach mir um, war garnicht überrascht. »Ich wusste, dass du Weihnachten kommst.«

Sie lächelte und war so schön. Da fiel mir erst ein, dass Weihnachten war, im Drang der Ereignisse hatte ich es wirklich vergessen. Erstaunt blieb ich stehen: »Grüss Gott, Vevi, ist das Kleine schon da?«

»Pst, pst!« flüsterte sie. Ich sah, wie sich etwas in den Kissen rührte. So dunkelhaarig sollte mein Kind sein? Es sprang heraus und bellte. Ich erschrak furchtbar. Aber es war Muspet, den Kopf in ein Kinderhäubchen eingebunden, hüpfte er schweifwedelnd und fröhlich kläffend an mir hinauf. Vevi erhob sich und lachte unbändig. Wir umarmten uns innig. Ich war ein bischen enttäuscht, dass sie schon Kindersachen besass, ich hatte sie mit meinen eingekauften überraschen wollen, aber glücklicher Weise fehlte noch das Meiste. Sie führte mich hinüber in das Wohnzimmer. Da stand schon der geschmückte Christbaum. 392

»Nun wird es doch ein schönes Fest«, sagte sie, »ich habe mich aber elend plagen müssen.«

»Kann ich mir denken, bis der Baum geputzt war und so, und Weihnachtskuchen hast du vielleicht auch gebacken.«

»Damit nicht, aber das Beten – – –. Du hast sicher noch nicht gefrühstückt. Ich will gleich Kaffee machen, gehst du mit in die Küche?«

»Und inzwischen erfriert mir mein Losbichl.«

»Was ist denn das wieder?«

»Nun ja, der Chaufför, ich habe dir doch ein Auto mitgebracht, und er wartet draussen mit dem Wagen.« Sie wollte es gleich sehen. Indem sie vor mir herging, fand ich, dass sie schon recht unförmig war, und beim Gehen schob sie die Hüften vor wie eine Kuh. Natürlich sagte ich ihr das nicht, obgleich es mir eigentlich sehr gut gefiel, es hatte so etwas Anheimelndes. Losbichl ging draussen stampfend auf und ab.

»Ach, wir haben Sie so lang warten lassen, jetzt kommen Sie in das Haus zu einem heissen Kaffee«, entschuldigte sie uns. Er wollte ihr aber erst noch den Wagen genau zeigen, machte die Türen auf, sie musste sich hineinsetzen.

»Was ist denn das?!« rief sie und hatte auf einmal die beiden Revolver in der Hand.

»Vorsicht! Um Gotteswillen Vevi, sie sind geladen.« Sie erbleichte, legte sie wie etwas Giftiges zurück.

»Du musst mir dann alles erzählen, Emmaus.«

Wir frühstückten gleich in der Küche, mit Losbichl, der einen gesegneten Appetit entwickelte.

»Das glauben S' auch nicht, gnädige Frau, dass ich Herrn Emmaus hätt' durchtun sollen. Wär schad' gewesen, gelt?« 393

»Jetzt reden Sie nicht so dumm daher, Losbichl, das sind keine Spässe.«

»Was meint er? Ich fürchte mich«, sagte Vevi. Wir wiesen dem Chaufför seine Kammer an, dann zeigten wir ihm im Garten den ehemaligen Hühnerstall als provisorische Garage, und er machte sich daran, den Wagen zu säubern. Als wir wieder allein waren, sagte Vevi mit Tränen in den Augen:

»Armer Emmaus, du musst Schreckliches erlebt haben in diesen Tagen.«

»Allerdings, beinahe hätte ich in einer Volksversammlung reden müssen, aber Gott sandte mir eine Diarrhöe, gewiss hattest du ihn darum gebeten.«

»Braucht man denn dazu einen Revolver?«

»Nein zwei, du hast dich wohl verzählt?« Ich verschwieg ihr den grössten Teil der Dinge, um ihr unnötige Aufregung zu ersparen. Wenn sie erfahren hätte, dass Losbichl beauftragt war, mich umzubringen, würde sie ihm nie mehr recht getraut haben, und ich wollte ihn eine Weile bei uns behalten.

Im Schreck über die Revolver war sie so schnell wieder aus dem Auto gestiegen, dass sie den Kinderwagen nich bemerkt hatte. Das war mit recht, so konnte ich ihn ihr unter den Weihnachtsbaum stellen, die Baby-Ausstattung breitete ich auf dem Tisch aus, nichts hatte meine Ladnerin vergessen, sogar eine Waage war dabei. Ich hatte die erst nicht kaufen wollen, meinte, unsere Küchenwaage würde genügen, aber die Verkäuferin sagte bestimmt:

»Geht nicht! Gewöhnliche Waagen zeigen richtiges Gewicht, Säuglingswaagen müssen immer einige Pfund zuviel angeben. Deshalb heisst diese Marke auch ›Mutterstolz‹.« Schnell ging ich noch in den Ort hinunter, 394 um die Geschenke für Frau Guggemos, Dellinger und Losbichl zu ergänzen. So verlief der Weihnachtsabend in allgemeiner Glückseligkeit. Allerdings hat Vevi mir leider ein Grammophon geschenkt, das spielte ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ und, als ganz besondere Überraschung, war dabei auch eine Platte mit dem Meteoristenlied. Auf deren Rückseite war ›Deutschland, Deutschland über Alles‹.

Nach den Feiertagen begann mein Fahrunterricht. Über den Berg zu fahren lernte ich aber erst nach einigen Wochen.

Zu Neujahr bekamen wir zum ersten Mal einen Brief von Frau Katja aus Amerika, der Krieg hatte lange Zeit die Korrespondenz verhindert. Sie lebte in Boston mit ihrem Vater, der an der dortigen Universität die Professur für Weltuntergangswissenschaft inne hatte. Sie hatte sich wieder der Journalistik zugewandt, suchte den Meteorgedanken in Amerika zu verbreiten, mit ziemlichem Erfolg, meinte sie. Ihr Sohn Washington, so unternehmend veranlagt wie sein Vater (von dessen Tod sie übrigens noch nichts wusste), war nach Guatemala gezogen, um dort in den diplomatischen Dienst zu treten, mit der Absicht, einmal Präsident dieses mittelamerikanischen Staates zu werden. Trotz seiner Jugend war er zum Münchener Gesandten Guatemalas ernannt worden und befand sich gerade auf dem Wege nach Europa. Die Tochter Roswitha wollte ein berühmter Filmstar werden, war nach Hollywood gegangen und hatte bereits die ersten Enttäuschungen hinter sich. Katja hatte nicht vergessen, sich um Vevis Wilcox-Legat zu kümmern, festgestellt, dass es durch Zins und Zinseszins inzwischen fast auf die doppelte Summe angewachsen war, leider aber wohl nie zur 395 Auszahlung kommen werde, doch habe sie ihre Bemühungen noch nicht ganz aufgegeben. Sie war sehr besorgt um uns, riet uns dringend, nach Amerika zu kommen, denn Europa sei jetzt doch wohl eine für Menschen unbewohnbare Hölle geworden. Sicher würde auch meine Kunst in Amerika viel besseren Boden finden als daheim, ich sei bereits in den Kreisen der Kunstinteressenten sehr bekannt drüben. Das Buch des Geheimrats von Wackes über mich, das bisher in Deutschland nicht erscheinen konnte, habe, übersetzt, grossen Erfolg in Amerika gehabt. »Amerika erwartet Emmaus, und Katja erwartet Genoveva.«

Der Brief machte uns sehr nachdenklich. Bis dahin war es uns noch nicht recht zum Bewusstsein gekommen, wievieles sich in den letzten Jahren zum Schlechteren gewendet hatte. Immerhin wohnten wir in dieser Hölle noch ziemlich bequem, wer weiss, ob sich in dem wohnlicheren Amerika so gut leben liesse, und vorerst konnten wir ja garnicht fort, mussten das Kind abwarten und in ein reisefähiges Alter gelangen lassen. In diesem Sinne schrieben wir zurück und dankten der lieben Katja von Herzen. Bevor unsere Antwort noch dort sein konnte, kam ein zweiter Brief von ihr, an Vevi allein gerichtet. Katja hatte in amerikanischen Blättern über meinen plötzlichen Tod gelesen, ausführliche Nachrufe waren dort erschienen. Sie schrieb aufrichtig teilnehmend und sehr erschüttert, wiederholte dringend ihre Einladung und fügte hinzu, dass materiell Vevis Zukunft in Amerika durchaus gesichert sei, da nach meinem Tode die Preise meiner Bilder dort sofort eine fabelhafte Höhe erreicht hätten. Vevi ist es kalt über den Rücken gelaufen, ich hatte ihr bis dahin nichts von meinem Tode erzählt. Ganz 396 verstohlen legte sie den Finger auf meine Hand, auf meine Backe, um zu fühlen, ob ich noch warm sei. Dann fiel sie mir schluchzend um den Hals:

»Einen Augenblick habe ich gedacht, es sei dein Geist, der zu mir zurückgekehrt ist.« Ich beruhigte sie lachend, musste ihr nun mehr erzählen als ich beabsichtigt hatte. »Vielleicht sollten wir doch fort nach Amerika«, meinte sie. Aber wir blieben da.

Vevi wollte mich nun nicht wieder nach München fahren lassen, weil sie fürchtete, ich würde dort umgebracht werden. Ich liess mir deshalb einen Vollbart wachsen, um unerkennbar zu sein, doch sie gab nicht nach und, bei ihrem Zustand, wollte ich sie nicht aufregen. Aber ich hätte gern wieder einige Perlen verkauft, das war in Passau unmöglich. Meine Barmittel schwanden zusehends dahin, das Auto hatte viel Geld verschlungen, und die Inflation stieg und verteuerte Alles. Mit verschränkten Armen musste ich dem Unheil entgegensehen.

Aber etwas Wunderbares trat ein: In Berlin war mein Ableben bekannt geworden, und Geheimrat von Wackes wollte seinem Museum noch schnell eins meiner Hauptwerke sichern, bevor sie unerschwinglich wurden. Vevi bekam ein Telegramm:

»herzlichstes beileid falls bild hasenfamilie verfügbar erbitte preisangabe wackes nationalmuseum.« Ich hatte das Bild seinerzeit aus dem Lössel-Konkurs zurückgekauft. Wir telegraphierten:

»hasenfamilie vorhanden kunsthändler flagtime newyork bietet 10 000 dollar emmaus.« Umgehend kam die Antwort:

»biete 2 500 pfund zahlbar sofort nach erhalt wackes.« Worauf wir zurückdrahteten: 397

»hasenfamilie geht morgen eilgut ab emmaus.«

Gerettet! Aber Vevi meinte:

»Wir hätten es nicht hergeben sollen, man darf nichts verschleudern. Ich habe ja noch meine roten Gurken.«

»Mit denen wirst du sicher noch viel verdienen, aber das geht nicht so schnell, und ich möchte die Hebamme nicht gerne schuldig bleiben.«

Der Geheimrat hat pünktlich und in englischer Valuta bezahlt, aber die Sache hat ihn leider seine Stellung gekostet, die ihm Viele längst neideten. Als in Berlin wieder geordnete Zustände eingetreten waren, sickerte es allmählich durch, dass ich noch am Leben sei, und man fand infolgedessen, dass kein Grund vorlag, ein Werk des berüchtigten Meteoristen für die Staatsgalerie zu erwerben.

Kunsthistoriker Professor Grandolf, der Verfasser des Werkes: ›Das gotische Element in der Negerplastik‹ und des klassischen Buches: ›Wandzeichnungen mitteldeutscher Bedürfnisanstalten‹, wurde zum Direktor ernannt und ›Die Familie Hase‹ verschwand einstweilen im Keller des Museums.

Ich musste aber doch nach München fahren. Es war ein Gesetz gemacht worden, dass alle ausländischen Valuten sofort an die Reichsbank abzuliefern seien, auf Zuwiderhandlung stand Todesstrafe. Also nützte uns der ganze Segen nichts. Es blieb nichts anderes übrig, als mich persönlich zu erkundigen, was da zu tun sei. So sagte ich zu Vevi: »Teures Weib, gebiete deinen Tränen, ich gehe jede Wette ein, dass ich lebendig wiederkomme.«

Losbichl fuhr mich ganz zeitig früh; meine Lehrzeit bei ihm war beendet, und er konnte nun wieder in 398 München bleiben, beabsichtigte, sich vorläufig als Automechaniker zu beschäftigen, bis er einen billigen Wagen fände und Taxifahrer werden könnte. Ich wohnte im Hotel ›Vier Jahreszeiten‹, stellte dort auch das Auto ein. Von Losbichl nahm ich herzlich Abschied, entlohnte ihn reichlich. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört, er ist spurlos verschwunden. Mein erster Gang war zu meinem Rechtsanwalt. »Ich kann Ihnen nur raten, das Gesetz genau zu befolgen. Da kann man nichts machen.« Er war etwas schwerfällig, so ging ich wieder in das Café Gassler, um meinen Perlenschieber zu treffen, setzte auch einige sehr günstig ab. Ganz nebenbei fragte ich: »Was machen jetzt die unglücklichen Valutabesitzer?« Da lachte er: »Hier am Tisch hat sicher ein jeder Dollars, und keiner liefert sie ab. Wir sind nämlich alle Ausländer, die dürfen Valuta haben, Staatsbürger von Nicaragua, Ecuador, Guatemala. Ich bin Guatemalaer. Sehr zu empfehlen, nicht ganz so teuer wie die anderen Länder. Man geht einfach zu dem Gesandten, und der macht es.«

»Na ich bin trotzdem froh, dass ich keine Valuta besitze«, sagte ich.

Von dort aus ging ich zum Gesandten von Guatemala, er hiess Don Washington Guardallo y Estenbis. Als er meinen Namen hörte, war er sehr erfreut: »Ich hätte Sie längst besuchen sollen, meine Mutter hat mir Grüsse für Sie aufgetragen, aber wir haben hier jetzt so viel zu tun, wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Alle wollen auf einmal Staatsangehörige von uns werden.«

»Ja, Washington, ich bin auch deshalb zu Ihnen gekommen.« 399

»Ausgezeichnet! Ich mache Ihnen einen ausnahmsweise billigen Preis.« Er war zu einem schönen und eleganten jungen Mann herangewachsen, sah aber seinem Vater doch etwas ähnlich. Er belehrte mich: »Die Gesetze Guatemalas schreiben vor, dass man dort ein halbes Jahr gewohnt haben muss, um die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Ich habe hier Meldeformulare mit Unterschrift des Direktors des Einwohneramts Guatemala. Man setzt einfach Ihren Namen ein und datiert es entsprechend zurück. Übermorgen können Sie die Urkunde abholen. Kostet eigentlich zweitausend Dollars, aber ich gebe es Ihnen für zweihundert. Vorauszahlung, wenn ich bitten darf.«

Ich bezahlte in Pfund und nahm seine Zeit nicht länger in Anspruch, lud ihn herzlich ein, einmal zu uns zu kommen. Ich habe dann meinen Staatsbürgerschein am übernächsten Tag abgeholt. Er sah ungemein ernsthaft aus, gross darüber das Wappen Guatemalas: ein Krokodil, das einen Kaktus auf der Schnauze balanciert, und darunter die Unterschrift des Präsidenten und einiger Würdenträger dieses Staates. Ich machte gleich eine Probe, präsentierte eine Fünfpfundnote zur Einwechslung am Schalter der Reichsbank.

»Geht nicht, is einzuliefern, höchstens gegen Kriegsanleihe und die nur zum Nennwert.«

»Bedaure, keine Verwendung, ich wünsche Mark und zum vollen Pfundkurs.« Ich zeigte mein Dokument:

»Ja, Señor Emmaus, das ist selbstredend etwas Anderes.« Ich bekam so viele Tausendmarkscheine dafür, dass der Beamte eine Stunde lang daran zählte. Es funktionierte.

Ich ging möglichst wenig aus, aber natürlich traf ich gerade den Grauen. Er erkannte mich erst nicht, dank 400 meinem Vollbarte und der dunkelgerandeten Fensterglasbrille, aber dummerweise wollte ich ihm entfliehen, und meine Rückseite hatte sich nicht verändert.

»Meteorhalloh, Herr Emmaus! Was? Sie leben noch? Ich dachte, Daffodil hätte Sie killen lassen.«

»Und meine Leiche hat Sie weiter nicht interessiert? Sie hätten mit meinem Tod doch eine Mordsreklame für die Partei machen können.«

»Vielleicht noch mehr mit Ihrem Leben. Ich werde einen Riesenartikel bringen: ›Die Auferstehung des Emmaus – das Meteorwunder‹, werde von Augenzeugen beschreiben lassen, wie Sie aus dem Grabe unverwest und frisch hervorgestiegen sind, nur ein Vollbart ist Ihnen dort gewachsen. Ich werde sogar täuschend echte Photomontagen des Vorgangs bringen, werde berichten, dass Gott dieses Wunder geschehen liess, damit Sie die Leitung der Partei wieder übernehmen und dass Sie bereit sind, seinem höflichen Ersuchen Folge zu leisten. Die Zahl der Meteoristen ist inzwischen wieder auf einige Millionen angewachsen.«

»Das können Sie machen, aber dann trete ich aus der Partei aus und verlange Berichtigung der Nachricht.«

»Wie wollen Sie das denn dementieren? Sie können doch nicht behaupten, Sie seien noch tot.«

»Das nicht, aber ich habe mich in's Privatleben zurückgezogen und keine Lust, fortwährend umgebracht zu werden. Respektieren Sie meinen letzten Willen! Adjö.« Nun musste ich leider noch länger in München bleiben, um abzuwarten, ob Wirsing wirklich sein Vorhaben ausführen würde. Er hat es nur teilweise riskiert. Der ›Meteor‹ des folgenden Tages brachte quer über die ganze Vorderseite in Kapitalbuchstaben den Satz ›Emmaus ist auferstanden‹, weiter nichts, und an 401 allen Mauern und Säulen prangten Riesen-Anschläge mit den Worten ›Emmaus ist auferstanden‹. Sogleich veranlasste ich das Plakatinstitut, genau in der gleichen Grösse darunter zu kleben ›und verlässt die Meteorpartei‹. Gleichzeitig teilte ich Wirsing in eingeschriebenem Brief meinen Austritt mit. Vom Hotel telephonierte ich der Redaktion der Zeitung ›Parteiloser Anzeiger‹, sie möchte mir einen Interviewer schicken. Er kam sofort und ich sagte ihm, dass ich weder tot noch krank gewesen sei, sondern künstlerische Tätigkeit habe meine ganze Zeit in Anspruch genommen. Der Berichterstatter hatte einen Arzt mitgebracht, ich musste mich ausziehen, und er untersuchte mich genau, Körpertemperatur, Pulsschlag, und bescheinigte, dass ich tatsächlich lebe, mein Körper weise auch weder Leichenflecke noch irgend eine Verletzung oder Narbe auf. Ich erzählte, dass ich beabsichtigte, mich ganz vom öffentlichen Leben zurückzuziehen und mich nur mehr der Malerei zu widmen. Der Zeitungsschreiber hat einen langen Artikel daraus gemacht. Als der erschienen war, wurde ich im Hotel antelephoniert:

»Grüss Gott, mein lieber Emmaus. Vom ›Parteilosen Anzeiger‹ habe ich erfahren, dass Sie in den ›Vier Jahreszeiten‹ wohnen. Das freut mich aber wirklich, dass Sie noch leben, und ich gratuliere zu Ihrem Entschluss, sich wieder ganz der Kunst zu weihen. Ist sehr vernünftig.« Die Stimme kam mir bekannt vor.

»Wer spricht?«

»Daffodil, ich wollte – – –«

»Ach so, und drei Mörder hatten Sie mir auf den Hals geschickt.«

»Sie übertreiben, lieber Herr Emmaus. Jetzt hören Sie zu, ich möchte ein Bild von Ihnen kaufen.« 402

»Ich verkaufe nichts an meine Mörder.«

»Aber meine Frau hat Ihnen doch nie nach dem Leben getrachtet, und sie möchte so gern von Ihnen porträtiert werden. Darf sie zu Ihnen kommen?«

»Ja, aber Sie nicht.« Ich hängte ein.

»Soll ich sie vorlassen?« überlegte ich. Ich hatte die Frau nie gesehen, Katja war sehr begeistert von ihr gewesen, rühmte ihre Schönheit. Aber was mochte wohl beabsichtigt sein? Vielleicht sollte sie das Todesurteil mit mehr Erfolg vollstrecken. Ach was! Dagegen konnte ich mich schützen. Die Neugier siegte. 403

 


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