Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Präsident

Allein geblieben in den königlichen Gemächern, begann ich wieder, mich gewaltig und erhaben zu fühlen, erschrak darüber. Nein, dem wollte ich nicht zum zweiten Mal verfallen, alle Kraft zusammennehmen um dagegen anzukämpfen.

Doch ass ich in einsamer Grösse den Nierenbraten. –

Der Diener meldete, Herr Wothan habe antelephoniert, ob er seine Aufwartung machen dürfe.

»Natürlich! er soll sofort kommen.«

»Herr Präsident, zu welcher Tür soll ich ihn hereinführen?«

»Dumme Frage! Das ist doch gleich.«

Der Diener stammelte verlegen: »Herr Präsident verzeihen, – ich habe nur gemeint, – nämlich der Herr Herzog, – nämlich da war es nicht gleich, zu welcher der Türen, – wissen Herr Präsident denn nicht?«

»Ach, red' nicht so dumm daher, – der Herzog soll mich, – was war denn da?«

»Wenn Herr Präsident gestatten, werde ich es zeigen.«

»Also!«

Der Diener trat an den Tisch, drückte auf einen 488 Knopf, deutete auf die gegenüberliegende Zimmertür. Vor der Schwelle, in ihrer ganzen Breite, gähnte ein schwarzes Loch. Was bedeutete das? Ich ging hin, sah in bodenlose Tiefe, unten glaubte ich Wasser rauschen zu hören. Der Diener drückte wieder auf den Knopf, das Loch schloss sich durch ein aufsteigendes Brett. Ich berührte das mit der Fussspitze, es war ganz fest, und jetzt fiel mir ein, dass ich vorhin gerade durch diese Tür hereingegangen war.

Ich überlegte einen Augenblick, begriff.

»Was rauscht da unten?« fragte ich.

»Ein Fluss, der unterirdische Stadtbach. Wer da hineinfällt, ist hin.«

»War wohl ein gutes Mittel gegen unangenehmen Besuch? Ist es oft angewendet worden?«

»Noch nicht oft, wurde ja erst vor zwei Monaten geplant. Der junge Innenarchitekt Professor Zerm hat es ihm entworfen.«

»Wirklich ein Wunder der modernen Raumkunst!«

»Als er fertig war, wurde es zuerst an dem Architekten selbst ausprobiert. Der Herzog war sehr befriedigt.«

Ich erinnerte mich, in der Zeitung über das rätselhafte Verschwinden des Professor Zerm gelesen zu haben und dass man später seine Leiche weit unterhalb Münchens im Isarfluss gefunden und dass der Herzog einen prachtvollen Kranz zur Beerdigung geschickt und der Witwe kondoliert hat.

»Die Witwe«, fuhr der Diener fort, »ist selbst zur Audienz beim Herzog erschienen, um sich für das ehrenvolle Beileid zu bedanken. Er hat versucht, sie zu trösten. Ich glaube, es ist ihm gelungen. Eine Weile ist sie jeden Tag gekommen. Dann gab er Befehl, man solle sie nicht wieder vorlassen. Sie hat sich aber 489 hereingedrängt und hat ihm einen Mordskrach gemacht. Herausgekommen ist sie nicht wieder.«

»So – so. Noch jemand?«

»Herr General von Kreibischt kam aus Berlin, um dem Herrn Herzog seine neue Idee: ›Hundestrategie‹ zu unterbreiten, legte eine Denkschrift mit Plänen und Berechnungen vor. Der Herzog war begeistert. ›Wird gemacht!‹, sagte er, ›Selbstredend strengste Diskretion!‹ Der General ist verschwunden. Jetzt hat man gehört, dass der Herr Herzog selber die Hunde erfunden haben will. Am gleichen Tag besuchte ihn sein treuester Anhänger, der Oberstandartenwart Horzel, sah das Schriftstück des Generals Kreibischt und war entzückt. Er durfte zum Souper bleiben. Seitdem wird er vermisst. Und dann – – –«

»Genug für heute, mein Besuch wird gleich kommen. Natürlich will ich die Fallgrube nie verwenden, sie muss ausgefüllt und gesichert werden.« Ich verschloss diese Tür, nahm den Schlüssel in meine Tasche, wollte späterhin die Angelegenheit, ohne grosses Aufsehen, näher untersuchen lassen.

Wenn ich auch dem Diener gegenüber den Gleichgiltigen gespielt hatte, so war ich durch die Mitteilung doch tief erregt, erschüttert. Ich war mir entsetzlich klar, dass alles, was an schlimmen Trieben im Grunde meiner Seele verborgen schlummerte, sich auf Ikarus vererbt und voll entfaltet hatte. Die Sache mit Witzgall, damals am Aubinger See, fiel mir ein, und wie ich bei der Kommerzienrätin die Leiter durchsägte. Das war eine der Ikarusfalle verdammt ähnliche Idee. Zufall, dass Professor Timm sich nicht das Genick brach. So blieb es ein Scherz. Nah beieinander wohnt Verbrechen und Humor. Vielleicht hatte Ikarus es 490 auch nur als lustigen Streich betrachtet, dass er mir meine Persönlichkeit stahl. Aber nein, Ikarus besass den sturen, egozentrischen Ernst des Raubtiers. Ganz sachlich, nicht verspielt wie ich. Er gehörte einer neuen Generation an, daran mochte das liegen.

Wothan wurde gemeldet, trat ein, brachte einen kleinen, älteren Herrn mit, der die Meteorkleidung höherer Charge trug. Wo hatte ich diesen mageren Vogelkopf, dessen borstiges, weisses Haar bis tief in die Stirn hineinwuchs, schon gesehen? Ein dünner, blond gefärbter Schnurrbart gedieh kümmerlich über schmalen Lippen, der Hals mit seinem spitzen Adamsapfel entstieg, lang und faltig wie der einer Schildkröte, dem weiten Uniformkragen. Daneben würde Wothans vierschrötige Gestalt wie die eines Athleten gewirkt haben, wenn nicht die Backstuben-Blässe des Gesichts und die Weichlichkeit der Körperformen den Konditorberuf verraten hätten. Beide begrüssten mich mit Meteorhalloh und herzlichen Glückwünschen. Nun erst erkannte ich den Bankdirektor Werner Kluft wieder und war nicht sehr erfreut.

»Ach, Sie sind es Herr Kluft! Und als Meteorist verkleidet! Ich dachte, Sie seien jetzt eine der Hauptzierden der Standartenpartei.«

»War, Herr Präsident, war.«

»Jetzt möchten Sie also wieder umschwenken, Herr Kluft! Halten Sie Verrat und Lumperei für etwas Schönes?«

»Im Gegenteil, Herr Präsident, Anständigkeit der Gesinnung ist der sicherste Weg zum Erfolg.«

Unaufgefordert setzte er sich, ich wollte ihn schon am Kragen packen und hinauswerfen, aber Wothan hielt mich zurück. So setzten wir uns ebenfalls. 491

»Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Wothan, »dass Herr Kluft immerhin der eigentliche Schöpfer des Meteorgedankens ist. Ich glaube nicht, dass er aus blosser Wankelmütigkeit auch unter dem Usurpator im Amt blieb.«

Kluft drückte ihm die Hand: »Ich danke Ihnen für die durchaus richtige Beurteilung.« Dann, zu mir gewandt: »Ich habe sofort erkannt, dass der Herzog nicht Sie waren, ahnte allerdings nur dunkel, was da geschehen sein mochte. Ich schwieg, weil mir niemand geglaubt haben würde und weil ich keine Lust hatte, umgebracht zu werden, wie unser tüchtiger Wirsing. Der Schwindel konnte nicht lange dauern.«

»Und so haben Sie mich verraten und verkauft.«

Kluft hatte die Gewohnheit, beim Sprechen den Kopf wie ein Futter pickendes Huhn zu bewegen, dabei mit zwei gekrallten Fingern auf der Tischplatte zu scharren. Das tat er auch jetzt, als er mir antwortete: »Ich gestehe offen, es lag mir wenig an Ihrer Person, Herr Emmaus. Mein Ziel war und ist einzig die Durchführung des Meteor-Princips. Nur dadurch kann die Menschheit vor dem Untergang bewahrt werden. Ich gedachte, als Minister, den Usurpator allmählich, ohne dass er es merkte, in unserem Sinne zu beeinflussen, hoffte das umsomehr als es mir gelang, mich unentbehrlich zu machen. Seit dem Kriege war unsere Wirtschaftslage trostlos, unser Geldwert so schlecht, dass die für Ernährung und Industrie nötigen Rohstoffe vom Ausland nicht eingehandelt werden konnten. Zur Sanierung gab es zwei Wege: entweder Besserung unserer Valuta oder Verschlechterung der Valuta der Rohstoffländer. Ich wählte beide. Wir haben in der staatlichen Druckerei die tüchtigsten Fachleute der 492 Welt, von denen liess ich Milliarden Banknoten der ausländischen Staaten herstellen, in solcher Vollendung, dass die Fälschung nie entdeckt werden konnte. Die wurden nicht etwa direkt zur Bezahlung von Lieferungen verwendet, sondern massenweise ins Ausland geschmuggelt, dort heimlich, gratis, verbreitet. Der Geldwert sank in allen Ländern rapid, bei uns stieg er, denn gleichzeitig liess ich unseren Notenumlauf verringern, Stabilisierung der Valuta nannte man das. Jetzt können wir wieder alle Rohstoffe vom Ausland kaufen.«

»Aber Herr Wothan bekommt immer noch keine Schokolade in seine Konditorei.«

»Ist mir bekannt. Ich wollte selbstverständlich unsere wiedererworbene Kaufkraft vor allem zur Hebung der Ernährung verwenden, aber das gelang nicht. Staat und Politik waren noch fest miteinander verklebt. Der Herzog bestand darauf, vorerst das Volk ruhig weiterhungern zu lassen und alles nur auf die Wiederherstellung der Wehrmacht zu verwenden. Nie früher sind so ungeheure Summen für Rüstung und Waffen ausgegeben worden. Ein Volksvermögen verschwendet für Kanonen. Und Wiederaufrüstung ist die Mutter des Krieges. Vom Herzog war nichts zu hoffen. So musste er sich selbst unmöglich machen. Ich riet ihm zu unpopulären Massnahmen. Ich habe ihm die Lockspitzelei, die Aufhebung der Gerechtigkeit, die Steuer-Auspressung suggeriert, und ich war es, der ihn dazu brachte, sich zum Herrgott zu erklären. Das konnte weder Gott noch sonst jemand lange ertragen. Und nun ist der Usurpator beseitigt. Das ganze Volk atmet auf, und ich freue mich, Sie, Herr Emmaus, wieder im Amte zu wissen. Ich stelle meine ganze Kraft 493 der Durchführung der Meteor-Idee restlos zur Verfügung und bitte um Ihr Vertrauen.«

Er wollte mir die Hand drücken, ich bemerkte es nicht. »Alles schön und gut, Herr Kluft, Sie sind offenbar ein grosser Zauberkünstler. Ob Sie weiterzaubern werden, hängt nicht von mir ab, mein Wille ist nicht selbstherrlich. Der Meteor ist bekanntlich eine Aktiengesellschaft, und nur die Generalversammlung kann über die Anstellung von Direktoren entscheiden. Ich denke, wir werden die konstituierende Generalversammlung auf heute in drei Wochen einberufen, ich betraue Sie mit der unparteiischen Durchführung. Setzen Sie die nötigen Erlasse auf und bringen Sie sie mir zur Unterzeichnung.«

Er stand auf und verbeugte sich feierlich vor mir.

Indem erklang von draussen Musik und Lärm. Wir gingen zum Fenster. Ein Fackelzug erschien vor dem Schloss, rief mir begeistert zu. Reden wurden gehalten, die ich meistens nicht verstand, doch konnte ich einer entnehmen, dass aus dem ganzen Reiche, auch aus Berlin, bereits Nachricht eingetroffen sei, dass dort alles Volk freudig mein Wiedererscheinen und das Verschwinden des Herzogs begrüsse, alles Heil vom Meteor erhoffe. Ich winkte zum geöffneten Fenster hinunter, rief blos: »Meteorhalloh!« Kluft umarmte mich so, dass es alle sehen mussten und schrie mit sich überschlagender Stimme hinaus: »Emmaus lebehoch!« Die Menge stimmte ein, die Musik blies einen Tusch, langsam verzog sich der Fackelzug unter Absingung des Meteorliedes.

Wir blieben noch beisammen, ich liess ein einfaches Nachtmahl und Moselwein servieren, aber Kluft sagte,494 er tränke grundsätzlich niemals Alkoholisches. Er war auch Nichtraucher.

»Der Meteor ist meine einzige Leidenschaft«, erklärte er, »sie erfüllt mich ganz. Übrigens, wir dürfen nicht vergessen, zu sorgen, dass die Zeitungen unsere Sache in der richtigen Auffassung bringen. Ich bin dafür, dass wir den ganzen Fall Ikarus wahrheitsgemäss veröffentlichen lassen.«

»Nein, Herr Kluft, wir wollen die Presse nicht knebeln, und alle Blätter dienen doch der Standartenpartei und dem Herzog.«

Da lachte Kluft zum ersten Mal, allerdings nur mit den Mundwinkeln, die Augen lachten nicht mit. »Sie sollten die Intelligenz der Presse nicht unterschätzen, Herr Präsident, sie dreht ihre Fahne immer nach dem Wind, Fingerspitzengefühl nennt sie das. Wollen wir nicht die Redaktionen anrufen, dass sie uns sofort Berichterstatter schicken?«

Das gefiel mir nicht, aber es schien wohl nötig. Bald waren die Zeitungsleute da, hatten auch Photographen mitgebracht. Sie freuten sich wie Kinder am Weihnachtsabend über den herrlichen, sensationellen Stoff, den ich ihnen zu schenken hatte, fragten nach allen Einzelheiten, natürlich wurde auch fleissig photographiert. Zum Schluss sagte ich ihnen, dass sich in drei Wochen der erste politiklose Staat konstituieren werde, als Aktiengesellschaft.

»Jedermann ist Aktionär, auch Sie meine Herren. Ob ich oder ein Anderer den Betrieb leiten soll, das wird erst die Generalversammlung bestimmen, in voller unbeeinflusster Freiheit. In der Zwischenzeit muss ich wohl als provisorischer Leiter im Amt bleiben.«

Ich habe mich nicht entschliessen können, von der 495 Fallgrube des Herzogs etwas mitzuteilen, weder den Reportern noch Kluft. Nur Wothan erzählte ich es, als wir dann, allein zurückgeblieben, noch eine Flasche Wein tranken. Er war entsetzt.

»Man darf und kann das Furchtbare nicht geheimhalten«, meinte er, »vielleicht wird es gut sein, den Irrsinn des Herzogs so klar beweisen zu können. Diesen Topf sollten wir am Herd lassen. Weshalb haben Sie es den Journalisten nicht gesagt?«

»Gefühlssache, ausserdem, im gegenwärtigen Augenblick ist es besser, dass die Person des Herzogs uninteressant wird, die sachlichen Fragen sind jetzt wichtiger, man darf davon nicht ablenken. Immerhin, der Fall soll untersucht und das Ergebnis zu Protokoll gebracht werden, schon in den nächsten Tagen. Reden wir nicht mehr davon, das ist alles so ekelhaft.« Ich wurde sehr verstimmt.

»Weshalb traurig sein, Herr Emmaus, jetzt, wo Ihnen das Glück in den Schoss fällt?«

»Nein, zum Teufel, ich bin nicht glücklich. Ich habe mich da auf Dinge eingelassen, die mich nichts angehen und von denen ich nichts verstehe. Kluft könnte das alles viel besser machen, ich will vorschlagen, dass er Präsident wird. Ich bin durchaus ein Privatmensch. Ich hätte Maler bleiben sollen. Ich habe den mir bestimmten Weg verlassen.«

»Ach, lieber Herr Emmaus, ich kann Ihnen das nachfühlen. Habe ich Ihnen je erzählt, dass ich eigentlich Bildhauer werden wollte? Mutter Natur hatte mich ausersehen, Ewigkeitswerte zu schaffen, – und gerade ich musste Konditor werden. Furchtbar!«

»Ja, Kuchen vergeht, Kunst besteht, doch trösten Sie sich, Sie sind der erste Konditor der Stadt.« 496

»Und Sie sind der erste Mann des Staates.«

»Ich pfeife auf die Ehre. Der Ehrgierige lebt nicht in sich selbst, er lebt nur in der Bewunderung der Anderen, in den dreckigen Gehirnen seiner Mitmenschen, wie die Trichine im Schwein. Sind Trichinen glücklich? Darüber schweigt die Wissenschaft – –.«

Ich hatte wohl schon ein bischen zuviel Moselwein getrunken. Wothan bemerkte auch, dass mit mir nichts Vernünftiges mehr zu reden war und ging nachhause.

Am nächsten Morgen erwachte ich beizeiten, fröhlich, als ob mich etwas Angenehmes erwarte. Was? Ach ja, ich hatte nun drei unbeschwerte Wochen vor mir, in denen ich nicht auf das Heil der Menschheit bedacht zu sein brauchte. Ich frühstückte seelenruhig, las dabei die Zeitungen. Die berichteten in Riesenlettern und mit vielen Bildern über mich und Ikarus. Da mein Erlebnis gedruckt vor mir lag, schien es mir weit entfernt, versank aus meinem Bewusstsein, störte mich nicht mehr. Ich trat aus dem Gemach, sah die wundervolle Architektur des weiten, langen Korridors. Das helle Licht hoher Rundbogenfenster spielte auf dem Fussboden, von bläulichen Schatten unterbrochen. Ich versank in den Anblick, war ergriffen. Das musste ich malen.

Wo waren meine Farben, meine Malgeräte? Ich eilte fort, um neue zu kaufen, der Laden war ja ganz in der Nähe. Dort waltete immer noch die gute, alte Dionysia Pruckner. Sie hatte alle Maler betreut, wusste genau, welche Farben, Pinsel, Leinwand jeder bevorzugte. Hinten im Laden hing die grosse Aktstudie, die der berühmte Professor Hopf nach ihr gemalt hatte, da er noch ein armer Akademieschüler war und Dionysia ihn unterstützte. Er blieb nicht der Einzige, für den sie sorgte, besonders als sie älter geworden war. 497

»Ah, Grüssgott Herr Emmaus, auch wieder hiesig? Brauchen S'doch endlich wieder mal was? Was machen Sie für dumme Geschichten! Hab's grad im Tagblatt gelesen. Das kommt davon, wenn einer nix tun mag. Und Sie hatten doch so ein gutes Genie bei sich! Freut mich, dass Sie wieder was Gescheites arbeiten wollen. Eben war eine Dame da, ganz eine nobligte, im Auto, hat eine Malstaffelei gekauft und einen Malkasten und Farben, ich sollt' das Sach gleich ins Schloss schicken. Wohnen S' denn alleweil noch da? Ich wüsst ein schönes Atelier für Sie.«

»So? Das war gewiss die Majorin von Stuhlreif, bissl dick und alt, nichtwahr?«

»Nein, so gar alt war sie nicht, eher jünger, und dick auch nicht. Hier wär Ihre Leinwand, wird sofortigst aufgespannt und mit hinübergeschickt.«

Es musste trotzdem die Stuhlreifin gewesen sein. Ich zerbrach mir den Kopf nicht weiter darüber, konnte es kaum erwarten mit Malen anzufangen.

Endlich vor der Staffelei! Ich gab mich ganz der Wollust meiner Augen hin. Formen und Farbtöne vereinten sich zu einer Symphonie, die bald rauschend, bald im spielenden Tanz des Lichts, auf der Leinwand erschien, so leicht und frei als sei die Hand unbeteiligt. Es war herrlich.

Vor dem vollendeten Werk erwachte ich wie aus einem schönen Traum. Doch betrachtete ich es nun mit abwägender Kritik und war nicht recht befriedigt. Es fehlte ein gesteigerter Mittelpunkt. Weshalb wandelte nicht eine hellseidene Barock-Dame durch den Gang, wie zur Zeit der Erbauung des Schlosses? Oder wenigstens einer der Hofherren in farbigem, goldbetresstem Kostüm? Ich sehnte mich danach. 498

Geschah ein Wunder, dass plötzlich eine hohe Gestalt, in Rot und Gold gewandet, im Hintergrund auftauchte und auf mich zuschritt? Nein, kein Wunder war es, im Gegenteil, es war General Wedepohl. Er kam zu mir in seiner roten Gala-Uniform, die war reich mit Goldschnüren geschmückt, zahllose schimmernde Orden, weitausladende Epauletten, ein antiker Form nachgebildeter Helm erhöhten die Pracht. Er schlug die Hacken zusammen, grüsste stramm militärisch:

»Gestatten Herr Präsident, General von Wedepohl. Ersuche um Audienz. Hochernste Angelegenheit.«

»Wunderbar, Herr General! Ganz ausgezeichnet! Sie sind ein grossartiges Motiv!«

Rausch packte mich von Neuem, jetzt hatte ich, was mein Bild brauchte. Der General, über den Empfang verwundert, stellte sich steif und breitbeinig hin, voller Zorn, mit beiden Händen auf seinen Schleppsäbel gestützt.

So war es gerade richtig. »Halt!«, donnerte ich ihn mit Kommandostimme an.

»So bleiben Sie stehen, genau so! Rühren Sie sich nicht!«

Er stand wie versteinert. Oder wie hypnotisiert. Militär ist für Hypnose sehr empfänglich, sagen die Ärzte. Seine Augen glotzten geistesabwesend, nach einer Stunde lief ihm Schweiss die Backen herab, ein Tropfen hing lange Zeit an dem Unterkinn, das sich über die Goldborte des Kragens hervorpresste.

»Sobald er heruntertropft, höre ich auf«, nahm ich mir vor. Der Tropfen fiel, gleichzeitig begann der General zu zittern, wurde sehr bleich, aber da war ich schon fertig. 499

»Schluss!« rief ich. »Ich danke Ihnen Herr General.«

Sofort war der Bann von ihm geglitten. Er warf mir einen wütenden Blick zu, nahm den Helm ab, trocknete sich mit dem Taschentuch Stirn und Schädelplatte.

»Ist es Herrn Präsidenten jetzt gefällig?« Meine Malerei würdigte er keines Blickes, als ich ihn nun ins Zimmer geleitete. Ermattet sank er in einen bequemen Stuhl, ich liess Cognac bringen, den schluckte er auf einen Ruck. Dreimal füllte ich ihm nach, dann war er erholt, begann:

»Ziel und Zweck meines Kommens ist in erster Linie, Tuchfühlung mit Herrn Präsidenten zu nehmen. Die militärischen Gesichtspunkte fanden stets weitgehendstes Verständnis bei dem Herrn Herzog. Ist anzunehmen, dass die Regierung im selben Geiste weitergeführt werden wird?«

Ich antwortete nicht.

»Darf wohl voraussetzen, dass auch fernerhin die Belange der Landesverteidigung voll und ganz gewahrt bleiben?«

Ich schwieg.

»Insbesondere, da das Ausland neuerdings bedrohliche Haltung zu nehmen beginnt. Die Massnahmen des Herrn Finanzminister Kluft werden dort nicht als Erfordernis unserer Selbsterhaltung gewürdigt, sondern als feindselige Akte betrachtet. Wird er im Amt bleiben?«

»Das weiss ich nicht. Fragen Sie ihn!«

»Habe ich bereits. Er wird.«

»Na also.«

»Aber Herr Präsident haben angeordnet, dass in drei Wochen Volksabstimmung stattfindet.«

»Mir nicht bekannt. Ich habe nur die konstituierende 500 Generalversammlung der Aktiengesellschaft Deutschland einberufen.«

»Und wenn die beschliesst, Minister Kluft nicht weiter amtieren zu lassen?«

»Dann wird das Ausland die bedrohliche Haltung aufgeben.«

»Aber vielleicht wird die Versammlung auch Sie selbst, Herr Präsident, absetzen wollen.«

»Das wage ich kaum zu hoffen, es wäre zu schön. Darf ich Sie dann noch einmal porträtieren, ganz gross, in Ihrer prächtigen Uniform?«

»Wie meinen? – Um mich kurz zu fassen, ich möchte mir ganz unmassgeblich erlauben, Herrn Präsidenten zu ersuchen, den Termin der Abstimmung zu verschieben, bis unsere politische Lage mehr geklärt sein wird.«

»Der Meteor kennt keine politische Lage. Übrigens – hat Sie vielleicht Herr Kluft zu mir geschickt.«

»Jawohl, Herr Präsident.«

»Möchte er vielleicht selbst Präsident werden?«

»Jawohl, Herr Präsident, und es wäre gut.«

»Warum wäre es gut?«

»Dann bleibt unsere Rohstofflage gesichert, wir können weiterrüsten.«

»Freut mich, dass Sie so aufrichtig sind, Herr General.« Ich schenkte die Gläser wieder voll. »Also Prosit! Auf das Wohl des neuen Präsidenten Werner Kluft! Ich werde für seine Wahl eintreten.«

»Im Namen des Vaterlandes danke ich Ihnen, Herr Präsident.« Er schüttelte mir kräftig die Hand.

»Ich will ebenfalls aufrichtig sein, Herr General. Kluft ist ein Tatsachenmensch. Er weiss auf den 501 Pfennig genau, wie teuer die Verquickung von Staat und Politik kommt. Er wird nicht weiterrüsten.«

»Halten Sie ihn denn für keinen Ehrenmann?«

»Hoffen wir das Beste!«

Mochte der General das auslegen wie er wollte. Jedenfalls verabschiedete er sich hochbefriedigt.

Auch ich war in gehobener Stimmung, freute mich, nun wohl bald wieder ganz ich selbst werden zu können. Kluft würde natürlich den General enttäuschen, so wie er den Herzog an der Nase geführt hatte und wie er es mit mir versuchte. Nur ahnte er nicht, welchen Gefallen er mir damit tat. Eins an ihm war echt: sein Meteorismus. Dem würde er immer treu bleiben, hoffte gewiss, durch ihn als einer der grossen Weltbeglücker in die Geschichte einzugehen. Ich wollte ihm die Karten offen auf den Tisch legen, telephonierte ihn an:

»Herr Kluft, eben war General Wedepohl bei mir. Bitte, kommen Sie sofort zu einer Besprechung.«

»Stets gern zu Ihrer Verfügung, Herr Emmaus, will sehen, ob Herr Wothan jetzt mitkommen kann.«

»Wenn nicht, so kommen Sie eben allein.«

»Ausgeschlossen. Ich gehe nie unbegleitet ins Schloss.«

»Warum?«

»Damit ich nicht versenkt werde, ich habe da beim Herzog einmal etwas erlebt.«

»So? Sie wissen das? Gut, ich komme zu Ihnen in das Konferenzzimmer Ihrer Bank. In einer halben Stunde bin ich dort.«

»Wird mich freuen.«

Kluft empfing mich sehr reserviert: »Um was handelt es sich, Herr Emmaus?« 502

»Wedepohl sagte mir, Sie möchten gern Präsident werden.«

»Möchte ist zuviel gesagt, aber es könnte sich vielleicht als notwendig erweisen, dann wäre ich bereit, dieses Opfer zu bringen.«

»›Opfer‹ ist gut!«

Mit pickender Kopfbewegung, scharf betont: »Ja, Opfer im Interesse der Sache. Der Meteorstaat wird eine rein wirtschaftliche Angelegenheit sein, ihn zu leiten erfordert einen Fachmann.«

»Zum Beispiel einen Bankdirektor.«

»Sehr richtig. Niemand bewundert Ihre einzigdastehenden Qualitäten herzlicher als ich, Herr Emmaus, doch fürchte ich, dass dieselben sich zum grossen Teil auf Gebiete erstrecken, die für die Gegebenheiten eines technisch-kaufmännischen Unternehmens nicht von zwingendem Belang sind. In Ihrem eigensten Interesse dürfte es liegen, einen Fehlschlag hintanzuhalten. Ein solcher wäre ein katastrophales Unglück allergrössten Ausmasses.«

»Wollen Sie Präsident werden?«

»Ja und nein.«

»Ja oder nein?«

»Ja.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich habe nichts dagegen. Soll ich Sie im Rundfunk empfehlen oder wie machen wir das am besten?«

»Belieben Herr Präsident nicht etwa zu scherzen?«

»Nein, Ernst. Der Fall ist erledigt, für heute. Sprechen wir von etwas anderem! Sie erwähnten die Versenkungen im Schloss, also kennen Sie diese Wahnsinnstaten des Herzogs. Ich halte es für gut, sie jetzt nicht öffentlich bekannt zu geben. Nichtwahr?« 503

»Gewiss, es wäre nicht opportun.«

»Hat er Sie auch auf diese Weise beseitigen wollen, oder wie haben Sie davon erfahren?«

»Er hätte es bei mir schwerlich versuchen können, ich sagte Ihnen schon, dass ich nie ohne Begleitung zu ihm ging. Die Diener hatten mir nämlich Alles sofort berichtet, ich entlohnte sie ja stets sehr grosszügig für wichtige Mitteilungen. So hatten sie mich auch von dem Besuch des Generals von Kreibischt verständigt, und ich eilte in Begleitung des Herrn Oberstandartenwart Horzel zum Schloss, erfuhr dort, dass Herr von Kreibischt bereits verschwunden sei. Horzel ging ahnungslos hinein, blieb zum Souper. Ich hatte mich von ihm verabschiedet, wartete aber lange Zeit in einem abgelegenen Zimmer auf ihn. Er ist nicht wieder zum Vorschein gekommen. Als der Herzog schlafen gegangen war, schlich ich mich mit einem Diener in das Zimmer, liess mir die Fallgrube zeigen, rief hinunter ›Herr Horzel!‹ Keine Antwort kam, nur das Wasser rauschte.

›Herr Standartenwart, hören Sie doch!‹ – Nichts! –

›Herr Oberstandartenwart, leben Sie noch?‹

Totenstille. Er war schon fortgespült.«

»Und Sie meinten, ich könnte auch die Fallgrube benutzen, um mich Ihrer Nebenbuhlerschaft zu entledigen?«

»Keineswegs! Das war nur eine Form der Conversation. Ich kenne Ihren edlen Charakter viel zu gut.«

»Kommen Sie morgen Vormittag zu mir ins Schloss, ohne Zuhörer!«

Er kratzte verlegen auf der Tischplatte, blickte mich nicht an, sprach zögernd: »Ich werde sehen, dass es 504 geht, meine Zeit ist allerdings sehr in Anspruch genommen.«

»Wir wollen die Aussagen der Diener zu Protokoll nehmen. Das kann später einmal von Nutzen sein.«

»Ach so!«

»Ja so! Auf Wiedersehen, pünktlich um zehn Uhr, nichtwahr?«

»Gewiss, Herr Präsident.«

Er kam mit dem Glockenschlag, allerdings in Begleitung Herrn Wothans. Ich sprach meine Freude darüber aus, einen so vorsichtigen Mann zum Nachfolger zu bekommen. Ich hatte auch einen Notar beigezogen, damit das Protokoll amtlich beglaubigt werde. Der war in stark angeheitertem Zustand erschienen, fragte, ob etwas zu trinken da sei, bekam eine Flasche Portwein und war jetzt schon ziemlich hinüber, immerhin, für eine Beurkundung noch genügend bei Bewusstsein. Die Diener mussten antreten, wir sagten ihnen, es sei ihre gesetzliche Pflicht, die reine und ganze Wahrheit zu sagen, liessen sie eine Eidesformel nachsprechen, wozu wir natürlich nicht berechtigt waren. Sie berichteten, was ich schon wusste. Ausserdem nannten sie noch ein Dutzend Namen von prominenten Parteigängern der Standarte, die der Herzog auf dieselbe Weise beseitigt hatte. Einem nur war es gelungen, sich im letzten Augenblick am Rande des Loches festzuklammern. Der Herzog trat zu ihm hin, entschuldigte sich:

»Pardon! Aber das Wohl des Vaterlandes verlangt es«, hielt ihm seine brennende Zigarre an die Finger, bis sie losliessen. Dann, zu den Dienern gewendet:

»Wohl das erste Mal in der Weltgeschichte, dass das Vaterland durch eine Zigarre gerettet worden ist.« 505

»Schade«, meinte Kluft, »wenn er noch vier Wochen weiter gewirkt hätte, würde er die ganze Standarte eigenhändig weggeschwemmt haben. Offenbar traute er seinen Freunden nicht.«

Auch einige den Dienern unbekannte Persönlichkeiten waren geopfert worden. So kam einmal eine Dame mit einem Empfehlungsschreiben unseres Gesandten aus Amerika. Was sie zu bestellen hatte, war dem Diener nicht klar geworden, beim Horchen hinter der Tür konnte er anfangs nichts verstehen, solange sie nur leise sprach. Dann schienen sie in Streit zu geraten, und sie rief mit erhobener Stimme:

»Nein, Sie sind es nicht, das weiss ich sehr genau. Sie haben meinen Mann ins Unglück gestürzt. Ich verlange, dass er sofort ohne Gefahr zurückkehren kann und alles wiedererhält. Sonst werde ich den ganzen Skandal veröffentlichen, dann ist es gleich vorbei mit Ihrer Herrlichkeit.«

Und der Herzog antwortete ihr sehr freundlich: »Aber gnädige Frau, regen Sie sich nicht unnötig auf! Sie wissen doch, wie hoch ich Ihren Gatten schätze. Ich will machen, was Sie wünschen, noch heute Abend werde ich das Erforderliche betätigen. Also Alles in Ordnung? Wünsche Ihnen wohl zu ruhen, Gnädigste.«

Vermutlich wollte sie nun fortgehen. Ein grässlicher Schrei ertönte. Der Diener öffnete behutsam die Tür ein klein wenig. Er blickte in die gähnende Fallgrube. Die Dame sah er nicht wieder.

Bei seiner Aussage hatte mich mehr und mehr ein furchtbarer Schreck gepackt. Jetzt rang ich nach Atem, mein Herzschlag stockte, ich sprang auf, taumelte, stöhnte:

»Um Gotteswillen, meine Frau! Vevi!« Alle waren 506 um mich bemüht, reichten mir, wie in solchen Fällen üblich, ein Glas Wasser. Kluft klopfte mich auf die Schulter:

»Lassen Sie den Mut nicht sinken, lieber Präsident. Vorerst ist es ungewiss, ob es wirklich Ihre Frau Gemahlin war. Und selbst wenn sich das Furchtbare bewahrheitet, dürfen Sie sich Ihrem Schmerz, den ich von ganzem Herzen mitfühlen kann, nicht restlos hingeben. Unsere grosse Sache bedarf Ihrer noch.«

Ich legte die Arme auf die Tischplatte, vergrub mein Gesicht hinein, ich glaube, ich weinte. Der Notar erwachte und liess sich erzählen, um was es sich handelte, schlug vor, zuerst einmal das Schreiben des Gesandten zu lesen, daraus müsste doch ersichtlich sein, wie die Dame hiess. Das Suchen nach dem Brief lenkte mich ein wenig ab. Er war nicht zu finden. Ich bat, mich allein zu lassen. Vorher wurde das Protokoll in aller Eile fertiggestellt, unterschrieben. Der Notar setzte einen schönen Amtsstempel neben seinen Namen.

Immer nach niederschmetternden Schicksalschlägen werde ich sehr müde. Im Bett schlief ich sofort, bleiern und traumlos, bis spät in den Morgen.

Da legte sich mir ein Alpdrücken schwer und beklemmend auf die Brust. Aber nein, das war kein böser Traum sondern Wahrheit, ich war wach. Mit erschreckender Anschaulichkeit stellte sich mir Vevis furchtbares Ende vor Augen. Nein – nein – das durfte sich nicht ereignet haben! Ein Wunder müsste geschehen – sie würde wieder bei mir sein, gütig und jugendlich und schön, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Wenn ich ihr doch gefolgt wäre! Wie ruhig hätten wir uns zusammen des Lebens freuen können. Und Alles wäre wie es früher war. Wo blieb das Glück? Ich hatte 507 es fortgeworfen, mir eingebildet, ich könnte es für die Menschheit erringen. Eitelkeit! Zum ersten Mal in meinem Leben quälte mich Schuldbewusstsein. Arme, gute Vevi! So war sie noch einmal gekommen um mich zu retten, hatte ihr Leben für mich geopfert. Vielleicht hatte sie mir vorher von Amerika aus geschrieben, und der Brief war natürlich von der Zensur unterdrückt worden. Der Gedanke weckte Zorn und Tätigkeitsdrang in mir. Sofort wollte ich die Freiheit der Post wiederherstellen, des Ikarus ganze niedrige Spitzelei beseitigen, Rechtszustände schaffen. Dazu brauchte ich die Generalversammlung nicht abzuwarten.

Wie immer wenn ich seelisch leide, frühstückte ich sehr ausgiebig, dann eilte ich fort, um die nötigen Massnahmen zu veranlassen, Kluft sollte sich um die Einzelheiten kümmern.

Als ich bei ihm erschien, drückte er mir mit inniger Leichenbittermiene die Hand, war dann sehr getröstet, dass mich mein Schmerz nicht davon abhielt, wichtige Staatsangelegenheiten zu betreiben.

»Wird sofortigst gemacht, Herr Präsident. Und dann wäre es auch gut, wenn Sie es bereits über sich gewinnen könnten, noch heute eine kleine Rundfunkrede zu halten und mich für die Abstimmung zu empfehlen. Aber nur, wenn es die Schonung zulässt, deren Sie gewiss bedürfen.«

»Ja, ich will tun, was ich kann. Jetzt kommen Sie mit auf das Oberpostamt.«

Dort wurden wir in einen riesigen, von Oberlicht erhellten Saal geführt, die Briefüberwachungsstelle, Abteilung A für ankommende Briefe. (Abteilung B für abgehende Briefe befand sich in einem anderen ebensogrossen Raum.) An langen Tischreihen sassen 508 die fleissigen Prüfer. Postbedienstete brachten in grossen Körben die eingelaufenen Briefe herbei, schichteten sie in Haufen. Zuerst wurden sie nach ihren Herkunftsländern sortiert und verschiedenen Tischen zugeteilt. Jeder einzelne wurde durchleuchtet, um explosiven oder sonstwie lebensgefährlichen Inhalt zu entdecken. Dann schnitt der Zensor den Briefumschlag auf, nachdem er ihn mit einer Nummer versehen und diese sowie Namen des Adressaten und Absenders in ein Buch eingetragen hatte. Er las alles genau durch, machte sich hie und da Notizen. Enthielt der Brief Verdächtiges, brachte man ihn in ein anstossendes Zimmer, auf dessen Tür stand: Geheime Briefpolizeistelle. War nichts zu beanstanden, wurde er in einen Kasten gelegt und wanderte zum Code-Zensor, der ihn auf verabredete Wortzeichen zu untersuchen hatte. Fand der nichts, setzte er ebenfalls eine Nummer darauf und verbuchte sie. Nun kam der Brief zur chemischen Prüfstelle, die auf Lesbarmachung von Geheimschriften spezialisiert war. Oft zerstörten die Lösemittel den Brief vollständig. Überlebte er die Experimente, so bekam er auch hier Nummer und Buchvermerk und war zur Zustellung an den Adressaten bereit, man brauchte bloss noch den Umschlag wieder zuzukleben und mit dem Amtsstempel zu versehen, ›Herzoglich geprüft und zugelassen‹ stand darauf. In dieser Weise sollten täglich Hunderttausende von Briefen behandelt werden, keiner der Beamten machte sich der geringsten Fahrlässigkeit schuldig, und die Menge der auf Behandlung wartenden Post wuchs ins Ungeheure.«

»Wo sind die Briefe aus Amerika?« fragte ich den Oberpostdirektor.

»Fünfte Reihe, Abteilung U. S. 27.« Die leitete ein 509 kräftiger Mann, der sicher für nützliche Arbeit brauchbar gewesen wäre. Ein Gebirge von Briefen, so hoch, dass es durch einen eigenen, sinnreichen Stäbchen-Mechanismus gestützt werden musste, umgab ihn und seine Unter-Briefprüfer. Wir gingen hin, die Beamten sprangen auf, grüssten stramm mit dem Standartengruss. Zu ihnen schien noch keine Kunde von dem Umschwung gedrungen zu sein. Triumphierend schwenkte der Herr Oberprüfer einen Brief, jetzt behandle man bereits den ersten von den vor drei Monaten eingetroffenen. Der Direktor warf einen flüchtigen Blick darauf, meinte: »Ist sicher unbestellbar. Adressat verstorben.«

Nun schaute auch ich hin, die Aufschrift war: ›Herrn Reichslotsen Wirsing c/o Meteorverlag. Filsingergasse 11 München. Germany.‹ Es überlief mich eiskalt, war das nicht Vevis Handschrift? Ratsch – wurde das Kuvert geöffnet.

»Geben Sie her!« rief ich, riss es mit zitternder Hand an mich.

Der Brief lautete: ›Sehr geehrter Herr Reichslotse! Ich wende mich an Sie denn ich halte Sie immerhin für einen ehrlichen Menschen wenn auch nicht direkt sympathisch, und Sie wissen sicher was eigentlich mit Emmaus los ist und wo er steckt und was das für ein Kerl ist, der ihn jetzt vertritt. Hier stand in einer Zeitung der wirkliche Emmaus ist abgesetzt worden und der jetzt regiert das ist ein falscher. Mein Emmaus würde auch nie solche Dummheiten gemacht haben wie der. Im Kino sah ich die Wochenschau aus München: Herzog Emmaus lässt den Fürsten Fichtenstein verhaften. Da merkte ich gleich, das ist nicht mein Gatte sondern wer Anderer. Ich kenne mich nicht 510 aus und bin sehr besorgt. Deshalb meinte Frau Katja Quartaller-Steinbeis ich solle zu Euch nach München reisen und nachschauen. Das mache ich jetzt. Der deutsche Gesandte gibt mir für alle Fälle ein Schreiben an seine Regierung mit. Wenn Sie meinen Mann sehen, bereiten Sie ihn bitte schonend auf meinen Besuch vor. In München gehe ich zuerst zu Ihnen, und Sie werden mir alles sagen und mich zu ihm führen. Aber zu dem Richtigen, nichtwahr? Hochachtungsvoll Genoveva, Präsidentin Emmaus.‹

So war also kein Zweifel mehr. Vevi war von Amerika nach München gefahren, hatte versucht, Wirsing zu sprechen. Der lebte nicht mehr. Sie hatte sich dann selbst Aufklärung verschaffen wollen, war in die Höhle des Raubtieres geeilt, verschlungen worden.

Meine Begleiter sahen, wie ich erbleichte, schwer atmete. Sie führten mich in das Privatbüro des Direktors, labten mich durch einige Gläser Zwetschgenbranntwein. Darauf wurde mir besser. Von neuem mischte sich Wut über die Briefzensur in meine Trauer.

»Herr Oberpostdirektor, ich kann nicht umhin, aufrichtig zu bewundern, wie genial Sie die Briefüberwachungszentrale organisiert haben. Sie muss aufgehoben werden, sofort, augenblicklich!«

»Ein wahrhaft edelmütiger Entschluss, Herr Präsident! Aber, wenn ich mir erlauben darf, was geschieht dann mit den vielen Beamten, die dadurch beschäftigungslos werden?«

»Wir können sie bei der Arbeitslosenzählung verwenden oder bei der Schlachtviehuntersuchung oder vielleicht wird sich der eine oder der andere zu einem richtigen Beruf entschliessen müssen.« 511

»Unmöglich! Diese Herren sind nur noch zur Briefprüfung zu gebrauchen.«

»Dann sollen sie Anstellung bei den Zeitungsredaktionen suchen. Die erhalten täglich tausende von Einsendungen und Zuschriften, die sie ungelesen in den Papierkorb werfen. Nun können sie die von geübten Leuten prüfen lassen.«

Es blieb bei der Aufhebung. Der Oberpostdirektor liess sich einen längeren Urlaub bewilligen, er schämte sich vor seinen Beamten und fand, dass die ganze Post nun keinen Zweck mehr habe.

Kluft dankte mir herzlich dafür, dass ich selbst die Verantwortung für diese Massnahme auf mich nehmen wollte, denn sie würde ihren Urheber den grössten Teil aller Beamten-Stimmen kosten.

»Ich werde mich erkenntlich zeigen, Herr Präsident und Sorge tragen, dass die Leiche Ihrer verehrten Frau Gemahlin aufgefunden wird. Die Stadtbäche fliessen in die Isar und diese in die Donau. Ich lasse die ganzen Flussläufe absuchen, bis hinab zur Landesgrenze bei Passau.«

»Kolossal nett von Ihnen, Herr Kluft.«

›Passau!‹ Das drang mir wie ein Pfeil ins Bewusstsein, weckte schmerzliche Erinnerung an versunkene, schöne Zeit. Traurig und ziellos schlenderte ich durch die Strassen der Stadt. Das ekelhafte Wort Witwer fiel mir ein. Ich besorgte mir eine lange, schwarze Kravatte, denn die kleine Smokingkravatte, die ich vorläufig trug, kam mir unpassend vor. Man verkaufte mir in dem Geschäft auch einen Armflor, schwarzgerandete Taschentücher lehnte ich ab.

Ich schlich ins Schloss zurück, doch erkannten mich Viele im Vorbeigehen und huldigten mir mit dem 512 Meteorgruss, ich dankte ebenso. War das nicht alles Unsinn und die Ursache meines Unglücks? Gut, dass ich keinen Bekannten traf, mit dem ich hätte reden müssen. Ich hatte ja wenig Bekannte und keinen einzigen Freund, nie hatte ich einen Freund gehabt, fiel mir jetzt ein. Jeder normale Mensch hat doch Freunde. Wozu? Sie würden sehen, dass ich in Trauer bin und ihr Beileid abladen und so herzlich an meinem Schmerz teilnehmen, dass ich sie schliesslich trösten müsste. Das blieb mir erspart. Aber nicht erspart blieb mir die Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten. Kaum war ich, vernichtet, in einen Lehnstuhl gesunken, als mich Kluft antelephonierte und mir unter vielen Entschuldigungen nahelegte, die versprochene Rundfunkrede zu halten. Er wollte eine grosse Versammlung dazu einberufen. Nein, nur das nicht, lieber wollte ich jetzt gleich sprechen. Er war einverstanden, holte mich im Auto zur Sprechstelle. Ich sagte dem Volk, dass die Meteorsache nun in alle Ewigkeit gesichert sei und so fest im Volksbewusstsein verankert, dass ich meine Aufgabe als erfüllt betrachten könne. Was noch zu geschehen habe, sei eine rein technische Angelegenheit, deren Ausführung in die Hände eines erfahrenen Organisators gelegt werden müsse. »Wir haben das Glück, den tüchtigsten Fachmann der Welt zu besitzen: Werner Kluft. Ihm werde ich meine Stimme geben und rate allen dasselbe zu tun. Ruhig kann ich dann ins Privatleben und zu meiner Kunst zurückkehren. Meteordeutschland halloh, halloh!« Darauf ertönte das Meteorlied. Ich fuhr wieder zurück.

Bei einem Glas Whisky, eine Pfeife rauchend, dehnte ich mich bequem im Klubsessel und war traurig, bemerkte, dass ich mir nicht mehr recht deutlich und 513 lebhaft vorstellen konnte, wie Vevi aussah, schon schwebte sie wie im Nebel. Und ich hatte sie doch so oft gemalt und gezeichnet, das war alles auf Oberhaus geblieben. Ich versuchte, mit Bleistift sie aus der Erinnerung zu skizzieren. Es gelang nicht. Ich verzweifelte. Da fiel mir ein, dass ich in der Zeitung gelesen hatte, der Kunsthändler Hunyadi habe eine Anzahl alter und neuer Meisterwerke dem Museum als Leihgabe überlassen, wohl in der Hoffnung, dass der Staat einige davon erwerben würde. Darunter auch das Bild, auf dem ich Vevi als stillende Mutter gemalt hatte. Ob es ihm Vevi verkauft hatte oder ob es in Oberhaus gestohlen worden war, wusste ich nicht, war auch gleichgültig. 514

 


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