Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

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Irrenhaus

Die Nervenheilanstalt, weit draussen im Osten der Stadt, wo die Wälder beginnen, machte schon von aussen keinen erfreulichen Eindruck, mit ihren wenigen, vergitterten Fenstern. Innen kam sie mir noch mehr wie ein Gefängnis vor, und die Krankenpfleger, die sich überall zeigten, hätten ebensogut Gefängniswärter sein können. Drei gesellten sich zu uns, begleiteten uns zu dem Zimmer des Ikarus. Ich fand es sonderbar, dass eine dreifache Tür hineinführte, eine Doppeltür hätte wohl genügt, um die Ruhe des Patienten gegen Lärm zu schützen. Es war ein düsterer Raum, nur von oben, durch ein kleines Fenster in der Decke, beleuchtet, fast ohne Möbel, die Wände dick gepolstert.

»Armer Ikarus!« sagte ich. »Wie geht es ihm?«

Einer der Pfleger, sie waren alle drei mit eingetreten, zuckte die Achseln, deutete auf das Bett hin. Da lag Ikarus, die Augen geschlossen, bleich, mit zuckenden Lippen. Er war sehr gealtert, und nun, da sich seine Züge stärker ausgeprägt hatten, fiel mir von neuem und noch erschreckender als früher auf, wie sehr er mir in seinem Äusseren ähnelte. Sogar der Altersunterschied war kaum noch zu bemerken.

Ich trat auf ihn zu: »Ikarus, ich bin gekommen. Ich verzeihe dir Alles.«

Er riss die Augen weit auf, fasste meine Hand mit 439 beiden Händen, schüttelte sie, versuchte vergeblich etwas zu sagen. Es war mir peinlich, und ich wollte meine Hand zurückziehen. Er hielt sie aber mit grosser Kraft umklammert, es gelang mir nicht, sie freizumachen.

»Was hat er?« sagte ich zu den Pflegern. Die lächelten nur. Daffodil stand uninteressiert dabei.

Ikarus zog mich mit gewaltigem Ruck zu sich ins Bett hinunter. Ich wollte ihn abschütteln, wehrte mich krampfhaft. Zwei Pfleger waren herzugetreten, standen hinter mir.

Plötzlich packten sie meine Beine, hoben sie hoch, so dass ich vornüber in das Bett hineinfiel.

Im Nu war Ikarus herausgesprungen, alle vier hielten mich im Bett fest. Verzweifelt rang ich gegen die Übermacht. Daffodil blieb in einiger Entfernung, mit abgewandtem Gesicht. Ich sah, wie einer der Pfleger eine Injektionsspritze füllte, spürte den Einstich und noch einen, dann schwand mir das Bewusstsein.

Ich weiss nicht, wie lange ich so gelegen habe. Als ich wieder zu mir kam, war ich im Bett, mit dem hellgestreiften, baumwollenen Krankengewand bekleidet. Kein Mensch war zu sehen. Ich brauchte eine Weile bis mir klar wurde, was geschehen war. Dann packte mich Entsetzen und Wut. Ich sprang aus dem Bett, rief so laut ich konnte:

»Halloh! Halloh! Hilfe! Zu Hilfe!«

Niemand kam, es war als ob die Wände jeden Ton verschluckten. Und an die Wände versuchte ich zu trommeln, aber ihre weiche Polsterung blieb stumm, auch die Tür war gepolstert. Ich wollte mich ankleiden, legte den Krankenkittel ab. Aber wo waren meine Sachen geblieben? Verzweifelt schrie ich wie ein 440 wildes Tier. Da schaute der bebrillte Kopf eines Arztes zum Türspalt herein, sagte, nach rückwärts gewendet: »Dauerbad.«

Bevor ich noch auf ihn zuspringen konnte, hatten sich die Pfleger auf mich gestürzt, steckten mir einen Knebel in den Mund, transportierten mich in ein lauwarmes Bad, schnallten mich darin fest. Von Zeit zu Zeit erschien einer von ihnen, um dem sich abkühlenden Wasser wieder warmes zuzuleiten. Endlich überwältigte mich die Müdigkeit, ich schlief ein. Vielleicht hat man mir noch eine Einspritzung gegeben.

Spät am Morgen erwachte ich im Bett. Ich überlegte, wie ich mich retten könne, kam zu dem Beschluss, Alles widerstandslos über mich ergehen zu lassen und auf Gelegenheit zur Flucht zu warten. Die Pfleger schienen sehr befriedigt, als sie mich so ruhig fanden. Die Krankenschwester Cäcilie brachte mir reichliches Frühstück ans Bett, und ich war sehr hungrig.

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte ich zu ihr.

»In Ewigkeit Amen«, antwortete sie, fragte, ob ich geistlichen Zuspruchs bedürfe.

»Später wird er mir ein grosser Trost sein, heute bitte ich Sie nur, mit mir zu beten.« Wir beteten, auch bei den anderen Mahlzeiten, die sie mir hereintrug.

Auf diese Weise gewann ich ihr Vertrauen. Ich lag den ganzen Tag ruhig zu Bett, wartete auf Besuch des Arztes. Vielleicht würde sich der ganze Zwischenfall aufklären, sobald er käme. Er kam nicht.

Der Abend senkte sich bleischwer herab und eine schlaflose Nacht. Und auch der nächste Tag und die nächste Nacht vergingen ebenso. Dann endlich erschien der Oberarzt, von Assistenten und Pflegern begleitet. 441 Mit gewinnender Freundlichkeit kam er zu mir ans Bett, fühlte meinen Puls: »Schon viel normaler. Na, wieder ein bisschen unruhig gewesen, Herr Lössel?« Wütend schrie ich ihn an:

»Ich bin nicht Herr Lössel. Man hat mich hierhergelockt. Das ist kein Sanatorium, das ist ein Irrenhaus. Diese Kerle da sind von Daffodil bestochen. Sie haben mich mit Gewalt hier in das Bett geworfen. Ich will fort, die Regierungsgeschäfte warten auf mich. Helfen Sie mir Herr Sanitätsrat, ich bin ja nicht Ikarus, ich bin Emmaus.«

»Werden Sie doch ruhig, lieber Herr Lössel. Erinnern Sie sich, Herr Präsident Emmaus war vor einigen Tagen hier bei Ihnen, nicht wahr? Wenn ich gewusst hätte, dass sein Besuch Sie so aufregt, hätte ich ihn nie erlaubt.«

»Das war doch ich! Infamer Betrug! Menschenraub! Ikarus hat mein Meteoristengewand gestohlen, meinen Galarock, vielleicht angezogen. Retten Sie mich! Retten Sie mich!« Noch ein Assistenzarzt kam herein, flüsterte dem Oberarzt etwas ins Ohr, zeigte ihm ein Zeitungsblatt, das den offenbar sehr bewegte. Ich rief:

»Herr Sanitätsrat, Sie müssen doch sehen, dass ich ganz gesund bin, dass ich Emmaus bin. Lassen Sie, bitte, sofort den Reichslotsen Wirsing kommen, damit er es Ihnen bestätigt.«

»Das wird nicht gehen. Ich erfahre soeben, Präsident Emmaus hat den Reichslotsen Wirsing und sechs seiner Berater erschiessen lassen.«

»Was?! Das hat Ikarus getan? In meinem Namen! Oh, diese Schufte! Ich muss hinaus, das Volk aufklären, sagen, dass er ein Betrüger ist, ein Mörder. Helft mir! Helft mir doch!« Ich wollte aufstehen. Mild 442 lächelte der Oberarzt, wandte sich dem Assistenten zu, befahl:

»Spritze, Dauerbad.«

Da konnte ich nicht länger an mich halten. Rasender Zorn durchkochte mich, ich sprang aus dem Bett, schlug den Oberarzt mit der Faust ins Gesicht, seine Brille zerbrach, boxte Assistenten, Pfleger nieder, trat sie, kratzte, biss, brüllte wie ein Orkan der Verzweiflung, rannte hinaus.

Man hat mich wieder eingeholt, auf die übliche Weise mit Morphium und warmem Bad beruhigt und dann, schon im Halbschlummer, in's Bett gebracht.

Als ich erwachte, sass Schwester Cäcilie neben mir, hatte Tränen im Auge und streichelte meine Stirn. »Armer Herr Lössel, geht es Ihnen jetzt wieder besser?«

Von neuem stieg Wut in mir auf, doch ich beherrschte mich, ergriff ihre Hand: »Liebe Schwester Cäcilie, wenn Sie wirklich um mich besorgt sind, nennen Sie mich niemals Herr Lössel –«

»Ach so, ich verstehe. Es soll alles geschehen, um Sie zu beruhigen und wiederherzustellen. Sie waren so schön auf dem Wege der Besserung, die Ärzte hatten Sie schon bald als geheilt entlassen wollen, da kam jener unglückliche Besuch. Aber jetzt sind Sie wieder gut und lieb. Danken wir Gott dafür!« Wir beteten.

»Und noch eine Bitte habe ich, liebe Schwester Cäcilie: Wenn ich ruhig bleiben soll, veranlassen Sie, dass ich diese Wärter nicht mehr sehe, diese bezahlten Schufte, die mich ausgetauscht haben.«

»Wie meinen Sie das? Das ist doch – – –, aber ja, ich will den Oberarzt darum ersuchen, es sind genug andere Pfleger da.« Sie hat tatsächlich erreicht, dass 443 ich jene Burschen nicht wieder zu sehen bekam. Und das war gut, denn jetzt kam es nicht darauf an, einen oder den anderen zu erwürgen, so gern ich das getan hätte, sondern mehr als je in meinem Leben hiess es nun: ›Nicht unter die Haut gehen lassen!‹ Ich überlegte, was zu tun sei. Es war klar: Hier würde es mir nicht gelingen, irgend Jemanden von meiner Identität zu überzeugen. Flucht war unmöglich, wenn mir nicht von aussen geholfen wurde, und ich konnte niemandem über meine furchtbare Lage schreiben, Briefe würden zweifellos geprüft und zurückgehalten werden. Vielleicht später, wenn sich die Beziehungen mit Schwester Cäcilie in anderer Richtung ausgestaltet haben würden. Aber einstweilen schien mir das noch zu romantisch, und möglicherweise hätte sie jedes sündhafte Erlebnis sofort gebeichtet. Also blieb mir nichts übrig, als in Ruhe abzuwarten, bis man mich als geheilt entlassen würde, mich immer so zu benehmen, wie es nach psychiatrischen Begriffen einem normalen Gehirn entspricht. Um vom Irrenarzt als geistig gesund betrachtet zu werden, ist es nötig, dessen verrückten Ideen nicht zu widersprechen.

So liess ich es mir ruhig gefallen, als der Patient Ikarus Lössel zu gelten. Es war keine leichte Aufgabe, zumal ich wenig schauspielerisches Talent besitze, aber ich habe sie konsequent durchgeführt und es gelang mir, die Zufriedenheit der Ärzte zu erringen.

Ich musste an die Schulzeit denken, wo das Wohlwollen der grimmigen Lehrer auch nur als Lohn unablässiger Verstellung zu haben war. Und genau so langweilig war das. Ja, sogar eine Art Examen gab es hier manchmal, wenn der Oberarzt zur Prüfung meines geistigen Zustandes Fragen an mich richtete, 444 beginnend mit: »Wieviel ist zweimal zwei?« aufsteigend bis zu: »Wer war Cicero?« Und ich antwortete korrekt: »Einer der bedeutendsten römischen Staatsmänner.« Im Gymnasium war ich mit zwei Stunden Karzer bestraft worden, weil ich gesagt hatte, Cicero sei ein reaktionärer römischer Politiker gewesen, der die sozialen Bestrebungen Catilinas in niederträchtiger Weise unterdrückte. Auch auf die Frage des Arztes: »Wer war der grösste Staatsmann Deutschlands?« wusste ich richtig Bescheid: »Bismarck.« »Und wer ist der grösste lebende Deutsche?« Darauf schwieg ich. »Emmaus ist es. Sie wissen es nicht. Also sind Sie noch nicht ganz gesundet.«

Ich kam mir wieder wie ein Kind vor, das, gleich allen Kindern, mit Schmerzen darauf wartet, erwachsen zu sein. Erwachsene vergessen das und bilden sich ein, die Kindheit sei ein glücklicher Zustand.

Ich hatte jetzt sehr viel Zeit zum Nachsinnen. An die Zukunft mochte ich nicht denken, die Gegenwart war trostlos, so versenkte ich mich in die Vergangenheit, liess mein ganzes bisheriges Leben im Geiste vorüberziehen. Gestalten längst Verstorbener wurden mir wieder lebendig. Merkwürdig, wie wenig mir meine guten Eltern bedeutet hatten! Das bedrückte mich. Jetzt kam es mir vor, als träten sie leibhaftig vor mich hin und sähen mich vorwurfsvoll an. Gab es vielleicht doch ein Jenseits? Oder begann sich mein Geist nun wirklich zu verwirren? Am Abend vor dem Einschlafen faltete ich die Hände, ein Vers, ich weiss nicht woher, fiel mir ein:

›Lasse im finsteren Raum, Mutter, mich nicht allein.‹

»Liebe Mutter, hilf mir in meiner Not!«

Wie ein betrübtes Kind schlief ich ein.

Am nächsten Tage habe ich mich darüber geschämt. 445

Schwester Cäcilie kam herein: »Ihre Mutter besucht Sie, ist Ihnen gewiss recht?«

Es überlief mich kalt: »Was? Meine Mutter! Meine Mutter?«

Ich muss totenbleich geworden sein, denn die Schwester sagte: »Oder fühlen Sie sich vielleicht nicht wohl genug? Dann wollen wir lieber warten.«

»Also doch! Das gibt es wirklich! Sie soll ruhig hereinkommen, Schwester. Ist sie durchsichtig?«

»Wie meinen? Ich möchte eigentlich den Arzt verständigen.«

»Nein, das auf keinen Fall! Sie wird schon mit ihm reden.« Ich hörte unterdrücktes Weinen hinter der angelehnten Tür.

»Mutter, komm zu mir!« rief ich aufspringend.

»Mein guter Junge!«

Eine verschleierte Gestalt wandelte herein und umarmte mich.

Es war Frau Lössel.

Die Überraschung wirkte verschieden auf uns beide. Ich fand den Fall sehr komisch und, seit langer Zeit zum ersten Male wieder, konnte ich herzhaft lachen. Frau Lössel dagegen begriff den Zusammenhang nicht. Das Mutterauge hatte sofort gesehen, dass ich nicht ihr Ikarus war. Ich wandte mich schnell zur Krankenschwester:

»Bitte, Schwester Cäcilie, lassen Sie uns ein wenig allein, wir haben wichtige Familienangelegenheiten zu besprechen.« Cäcilie verschwand gehorsam. Frau Lössel, jetzt sehr beunruhigt, fürchtete, dem lieben Ikarus sei etwas passiert:

»Ach, Emmaus, Sie sind hier! Besuchen Sie auch Ikarus? Wo ist er? Wie geht es ihm?« 446

»Nein, keine Sorge, liebe Frau Lössel! Ikarus ist wohlauf. Ich bin hier an seiner Stelle.« Sprachlos, mit offenem Munde, starrte sie mich an, bemerkte wohl erst jetzt, dass ich die Anstaltskleidung trug. Dann fand sie Worte:

»Wieso? Was ist los? Ist das ein Spass?«

»Vor allem regen Sie sich nicht auf und sagen Sie hier niemandem, dass ich nicht Ihr Ikarus bin, sonst hält man Sie auch für verrückt und sperrt Sie ein.« Ich erzählte ihr, wie es mir ergangen war, oft durch ihre Zwischenrufe unterbrochen. Am liebsten wäre sie gleich zum Oberarzt gestürzt und hätte ihn aufgeklärt. Mit Mühe gelang es mir, sie davon abzuhalten und ihr begreiflich zu machen, dass ein Arzt nie einen Irrtum einsehen darf.

»Aber was machen wir bloss mit Ikarus, diesem Lausbuben, dem frechen?« rief sie, »und wie bringen wir Sie wieder heraus, lieber Emmaus?«

»Ja, dazu müssen Sie mir helfen. Lassen Sie sich nichts anmerken. Sagen Sie, dass Sie sehr erfreut sind, Ihren Sohn so gesund zu finden und fragen Sie, ob Sie nicht eine kleine Spazierfahrt mit ihm machen dürfen.«

Es wurde gestattet. »Aber bitte, nicht zu weit, gnädige Frau Kommerzienrat, es darf ihn nicht anstrengen.«

»Selbstverständlich, Herr Professor.«

Mit Vergnügen bemerkte ich, das Lössels jetzt ein schönes Auto hatten, es ging ihnen wieder gut. Der Chauffeur öffnete dienstfertig die Wagentür und half der dicken, alten Dame hinein, schien ein wenig erstaunt, dass ich in meinem Krankenanzug auch Platz darin nahm.

»Wir fahren natürlich nicht wieder zurück, Frau 447 Kommerzienrat, ich kann wohl heute bei Ihnen bleiben?«

»Ja, das wird uns riesig freuen. Wir haben uns wieder grösser etabliert, besitzen eine schöne Villa im entworfenen Stil, Gästezimmer mit Bad, nur hochherrschaftlich. Aber wird man Sie nicht zurückholen wollen?«

»Das kann man nicht so ohne weiteres, wenn Sie sich kräftig auf die Hinterfüsse stellen. Ich weiss schon, wie wir das machen.«

»Ja, darüber sprechen wir später«, sagte sie und deutete auf den Chauffeur zum Zeichen, dass er nicht Alles hören sollte. So schwiegen wir bis zur Ankunft. Das Haus lag weit draussen in dem eleganten Villenviertel Bogenhausen. Wir traten ein.

»Das ist unsere Hall. Genau nach der im Schloss Windsor kopiert. Nur die Verzierungen hat der Architekt weggelassen. ›Ornamente sind nicht mehr fein‹, sagt er. Alles schlicht und gediegen. Sehen Sie den herrlichen offenen Kamin, mit elektrischer Heizung und zwei Karyatiden, die eine stellt mich vor, die andere meinen Schorschl, der Bildhauer hat sie direkt nach Photographie ausgehauen, ganz in Marmor. Gelt da schauen Sie?«

»Ihren Geschmack habe ich schon immer bewundert, Gnädigste. Ich bin begierig, Alles anzuschauen. Aber jetzt sind erst einige eilige Dinge zu erledigen.«

»Natürlich, lieber Emmaus. Wir können dabei Kaffee trinken.« Sie bestellte ihn, und wir begaben uns in das Schreibzimmer des Kommerzienrats. Er war noch nicht daheim. Zuerst verfasste ich ein Telegramm an den Oberarzt:

›habe ikarus heimgenommen befindet sich wohl brief 448 folgt kommerzienrätin lössel.‹ Das liessen wir gleich aufgeben. Dann setzte ich ihr einen Brief auf:

›Hochverehrter Herr Professor! Nicht genug kann ich Ihnen danken, dass Sie meinem Sohn Ikarus die volle Gesundheit wiedergegeben haben, das vermag nur ein genialer Psychiater. Auch mein Gatte ist hocherfreut und dankt Ihnen herzlichst. Ikarus wird jetzt im Elternhaus bleiben, und wir hoffen, dass er nie wieder einen Rückfall erleiden wird. Sollte sich der geringste Anlass zu neuerlicher Befürchtung ergeben, werden wir nicht ermangeln, unseren Sohn sofort Ihrer einzig dastehenden ärztlichen Kunst anzuvertrauen. In tiefgefühlter Dankbarkeit und Hochachtung

Kommerzienrätin Lössel.‹

Das musste sie sofort schreiben und als Expressbrief absenden.

»Und wenn man Sie trotzdem zurückholen will?« »Dann sagen Sie einfach, dass ich nicht gemeingefährlich bin und nicht entmündigt, basta. Nun eine andere Frage:

Meine ganze Garderobe befindet sich im Schloss, vielleicht trägt Ikarus sie jetzt. Ich habe nur diesen Krankenkittel. Sind Anzüge von Ikarus da?«

»Natürlich, liebster Emmaus, ich gebe Ihnen gleich einen.«

Sie führte mich in sein Schlafzimmer, wir suchten eine passende Kleidung aus. Ich musste ihr gestatten, mir beim Umziehen behilflich zu sein. Das machte ihr viel Spass, mir war es etwas peinlich und bedenklich, besonders da sie dabei immer das Gespräch auf alte Zeiten zu lenken versuchte. Einmal nannte sie mich sogar ›Bubi‹. 449

Glücklicherweise kam der Kommerzienrat jetzt nach Hause. Bei meinem Anblick stutzte er einen Augenblick, hielt mich zuerst wohl auch für Ikarus. Dann stotterte er:

»Ah, der Herzog höchstselbst, welche Ehre!«

»Wieso Herzog?«

»Nun, Herr Präsident haben doch vorige Woche verkündet: ›nicht Präsident will ich mich fürder nennen, nicht Kaiser, ganz schlicht walte ich unter dem Titel: Der Herzog.‹«

»So? Das auch noch! Lieber Herr Kommerzienrat, ein furchtbarer Schwindel ist im Gange. Kommen Sie, ich erkläre Ihnen alles.« Ich führte ihn in sein Schreibzimmer. Er hörte mir stumm und kopfschüttelnd zu. Auch Brief und Telegramm der Kommerzienrätin erwähnte ich, die sass weinend dabei. Sein altes runzliges Gesicht wurde immer sorgenvoller, mit einer sonderbaren Geste der Fassungslosigkeit klopfte die Fläche seiner mageren Hand auf das pralle Bäuchlein, wo die beiden untersten Westenknöpfte offen standen. Als ich zu Ende war, schwieg er zunächst, stand langsam auf, zündete sich umständlich eine Zigarre an, bot mir aber keine.

»Und was gedenken Sie jetzt zu tun?« fragte er mich.

»Zunächst will ich einmal meinen Rechtsanwalt, Dr. Wurmbrand, anrufen.«

»Das dürfen Sie nicht tun, Sie wissen wohl noch nicht, dass jetzt alle Telephongespräche abgehört werden. Auch die Post wird streng überwacht. War ein grosser Fehler, an die Irrenanstalt zu telegraphieren und zu schreiben. Jetzt ist der herzogliche Geheimdienst schon über Sie informiert. In den letzten 450 Wochen hat sich alles gründlich geändert hier. Das Leben ist gefährlich geworden. Der Herzog lässt jeden erschiessen der ihm nicht beistimmt. Meine Frau hat keine Ahnung, in welche Gefahr sie uns gebracht hat. Ich muss Sie leider bitten, unsere Villa sofort zu verlassen.«

Schreiend schnellte die Kommerzienrätin aus dem Klubsessel empor:

»Du bist der gleiche Lump wie dein Ikarus! Dir geb ich –«, Sie schlug nach seinem Gesicht, traf nur die Zigarre, die fiel funkensprühend auf den dicken Smyrnateppich. Der Kommerzienrat hob sie auf, versuchte mit dem Taschenmesser das zersplitterte Ende wieder rauchbar zu machen, seine Hand zitterte, es gelang nicht.

»So eine Gemeinheit! Willst unseren guten Emmaus einfach auf die Gasse werfen, in den Tod jagen! Wo soll er denn nur hin? Ein Geld hat er jetzt natürlich auch nicht dabei und – –«

»Dafür wird gesorgt. Schrei bloss nicht so, das Personal hört es sonst und denunziert uns.« Er schloss seinen Sekretär auf, brachte etwa dreissig Einhundertmarkscheine. »Darf ich Ihnen aus der momentanen Verlegenheit helfen, Herr Emmaus? Wäre mir eine grosse Freude.« Ich drehte ihm den Rücken zu, aber die Kommenzienrätin ergriff die Scheine und steckte sie mir in die Hosentasche. Ich tat als hätte ich es nicht bemerkt.

»Ich gehe jetzt fort«, sagte ich.

»Nein, mein lieber Emmaus, du musst bleiben. Wir verstecken dich.«

»Ich will niemanden in Gefahr bringen. Ich gehe.«

»Aber wohin nur? Wohin? Was kann man tun? 451 Halt, ich weiss, wo ich Sie hinbringe.« Sie stürzte hinaus.

Der Kommerzienrat ging im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken.

»Dumme Geschichte, dumme Geschichte«, sagte er vor sich hin, immer wieder.

Nach einer Weile kam seine Gattin in elegantem Mantel, brachte mir einen Überzieher und Hut aus dem Vorrat des Ikarus sowie einen kleinen Handkoffer voll Wäsche und Toilettesachen.

»Kommen Sie, Emmaus!«

»Wohin geht ihr?« fragte der Kommerzienrat.

»Das werde ich dir gerade auf die Nase binden.«

»Nehmt ihr den Wagen?«

»Kannst du dir denken! Damit der Chauffeur angeben kann, wo Emmaus hin ist.«

Der Trenchcoat des Ikarus passte mir sehr gut. Die Kommenzienrätin führte mich hinaus, durch den schönen Garten, in dem noch Blumen auf den gepflegten Beeten blühten, auf die Strasse, an vornehmen Häusern und Parkanlagen vorbei, die Anhöhe hinauf.

»Wir gehen nach Oberföhring zur Frau von Stuhlreif.«

»So? Wer ist denn das?«

»Sie kennen sie gut, das ist doch mein Annerl.«

»Die Hasen-Anna? Ach, die hatte ich ganz vergessen. Richtig, die gibt es ja auch noch. Ich wusste nicht, dass sie geheiratet hat.«

»Freilich. Zuerst allerdings meinten wir schon, sie würde uns auf der Hand bleiben. Sie hatte wenig Ansprache, und die Mannsbilder haben es nie so recht mit ihr gehabt, und dann, wie wir unser Sach verloren haben und in einer kleinen Wohnung hausten, da war es 452 natürlich ganz aus. Sie erbarmte mich oft, schaute schon aus wie ein Apfel im März, bald tat ihr der Kopf weh, bald das Kreuz und immer war sie bei ganz einem schlechten Humor. Gelernt hatte sie auch nichts Rechtes und wenn wir ihr sagten: ›Annerl, du solltest auch ein bisserl was verdienen‹, antwortete sie: ›Ich kann ja nix, daran seid ihr schuld. Am besten wärs ich läge auf dem Friedhof.‹ Dann haben wir geweint miteinander. Sie ist am Fenster gesessen tagelang und hat auf die Gasse gestiert. Aussen war ein Spionspiegel, da hat sie alles gesehen. Ganz besonders hat sie sich für die Hunde da draussen interessiert, alle aus der Nachbarschaft hat sie gekannt. ›Fünfzig Manderln laufen vorbei bis einmal eine Hündin daherkommt. Schrecklich, was die armen Tiere leiden müssen, da ist's kein Wunder, dass es so viel Tollwut bei ihnen gibt‹, hat sie gesagt. Grad gefreut hat es sie, wenn ein Hund doch mal ein Weiberl gefunden hat. Da ist eine grausliche läufige Bulldoggin gekommen und die Hunde hinterher, ganz narrisch. ›Wie du nur so einen Saustall ansehen magst! Schütt doch einen Krug Wasser darauf!‹ hab ich gesagt. Da is schon ein Bier-Auto von der Spatenbrauerei dahergesaust, mitten hinein in die Viecher. Die sind schnell auseinander, aber ein schöner Jagdhund hat nicht mehr loskommen können, soviel ihm sein Herr gepfiffen hat und gerufen: ›Tasso, da gehst her! Sofort herein!‹ Tasso ist mitsammt der Hündin überfahren worden, die war gleich tot, ihm hat es einen Fuss abgeschlagen, und geheult hat er, können Sie sich denken, und geblutet! Die Anna ist hinaus, hat ihn ins Haus geholt und verbunden, ihr ganzes Kleid war voller Blut. Sein Herr ist mit herein und hat sich sehr 453 bedankt. Er hat sich vorgestellt: ›Major von Stuhlreif, Ziegeleibesitzer in Oberföhring‹. War schon ein alter Herr mit weisse Haar, aber hochnobel. Er hat nach seinem Auto telephoniert. Bis es gekommen ist, hat er sich mit der Anna unterhalten, meistens über die Hunde. Er meinte auch, dass es viel zu wenig Hundeweiberl gibt, das sei statistisch erwiesen und es sei ein grosser Misstand. Die beiden haben gut harmoniert, und wie er gegangen ist, hat er gefragt, ob er wieder Visite machen dürfe und er würde der Anna gern seine zwei preisgekrönten stichelhaarigen Vorstehhunde zeigen, es freue ihn, dass sie soviel Herz für die Tiere habe. Er wollte den Schaden von den Blutflecken an Annas Kleid ersetzen. ›Aber ich bitt Sie, Herr Major‹, hab ich gesagt, ›ist nicht der Rede wert. Das Kind hat eine Freude damit gehabt.‹ Beim Abschied hat er mir die Hand geküsst.

Dann ist die Anna wieder am Fenster gesessen und hat nach den Hunden ausgeschaut. Oder nach ihm, ich weiss es nicht. Nach acht Tagen ist er dahergekommen mit seinem Tasso, der konnte schon ein bisserl hinken und hat sich so gefreut mit der Anna und ihr die Hand geleckt. Sie musste mit dem Major im Auto nach Oberföhring fahren und wie sie zurückgekommen ist am Abend, war sie endlich einmal gut aufgelegt und hat erzählt, dass das ganz ein richtiger Besitz ist, den der Major hat, die Ziegelei und Landwirtschaft und das herrschaftliche Haus und so schöne Hunde. Dann ist der Major jeden Tag gekommen, und schliesslich ist die Anna ganz zu ihm gezogen, denn er hat keine Frau gehabt, hatte nie die richtige gefunden. Auf Annas Rat haben sie eine Anstalt gebaut, wo Hundeweiberln gehalten wurden, damit die Manderln 454 immer eins finden könnten, wenn sie Bedarf haben. Sie ist dafür zum Ehrenmitglied vom Tierschutzverein und vom Hundezüchterklub ernannt worden. ›Freya, Ehevermittlung für Hunde‹ nennt sich das Institut. Und am Tage der Einweihung haben Major von Stuhlreif und meine Tochter geheiratet. Es war ein grosses Fest und eine schöne Hochzeit mit vielen Reden beim Schampus. Mich hat es ein bisserl geniert, was die Alles gesagt haben, man hat sich nimmer ausgekannt, meinten sie die Hunde oder das Brautpaar.

Eine Woche nach der Vermählung ist der Krieg ausgebrochen. Der Major hat sich gleich wieder gemeldet und ist mit hinaus. An der Marne ist er auf dem Felde der Ehre gefallen, im Heldentod. Jetzt führt die Frau Majorin das Freya-Institut allein weiter und die Ziegelei und die Landwirtschaft.«

»Freut mich, dass Ihre Tochter einen Lebenszweck gefunden hat, wünschte, ich wäre auch soweit. Und was soll ich bei ihr machen?«

»Vor allem sind Sie dort in Sicherheit. Oberföhring ist ein kleines Dorf, und der Ortsvorstand tut nur, was die Frau Majorin will. Sie brauchen sich nicht zu melden und so. Eine Beschäftigung für Sie wird sich auch ergeben, Sie malen gewiss gern Rassehunde. Und dann, die Anna möchte eine Zeitung herausgeben: ›Die Hundehochzeit, Organ für Sichfinden der Hunde‹, soll sie heissen, dabei können Sie ihr helfen, denn sie hat es nicht so mit dem Schriftlichen, braucht einen Redakteur.«

»Zu gütig.«

Frau Majorin Stuhlreif war zu Tränen gerührt, dass ich mich ihrer erinnerte und sie besuchte. Sie machte eine Art Hofknix vor mir. »Diese Ehre, Herr 455 Oberherzog, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht zu erhoffen gewagt.«

»Pst! Pst!« wehrte Mama Lössel, »Nix Herzog, ganz stad sein!«

Und ich fügte hinzu: »Nein, es ist nicht so mit mir, wie Sie meinen. Ich habe meine Identität verloren.«

»Ihre was? Na, da müssen wir sie halt suchen, werden sie schon finden, vielleicht mit einem Spürhund, die Tiere sind ja so gescheit.«

»Blühend schauen Sie aus, Frau Majorin, Sie sind noch schöner geworden.«

»Gehn S', machen S' nicht solche Sprüch', meine Schönheit habe ich alleweil noch tragen können.« Tatsächlich sah sie frisch, rosig und gesetzt aus, die Landluft bekam ihr offenbar gut.

»Weisst Annerl«, erklärte die Kommerzienrätin, »die Geschicht' mit der Identität ist ein bisl kompliziert, du tätest es vielleicht nicht recht verstehn. Ich sag dir nur soviel: der Herr Emmaus muss eine Weile bei dir wohnen bleiben, und es darf niemand erfahren, dass er es ist.«

»Aber wenn ich Herr Emmaus zu ihm sage, weiss es Jeder gleich.«

»Da haben Sie recht, Frau Majorin. Sie waren immer sehr klug. Ich muss hier unter anderem Namen auftreten, schlage vor ›Herr von Oberhaus‹.«

»Gewiss, Herr von Oberhaus, Sie sind mir ein sehr lieber Gast.«

»Und er könnte dir viel helfen, Annerl. Ich habe ihm vorgeschlagen, er soll deine Zeitschrift ›Die Hundehochzeit‹ redigieren, er scheint aber keine Lust dazu zu haben.«

»Ich bin da nicht Fachmann genug.« 456

»Sie haben doch den Meteor herausgegeben.«

»Das wohl, aber das intime Familienleben der Hunde hat mich weniger interessiert.«

»Es gibt nichts Herzigeres.« 457

 


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