Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Den Physikus hatte das schreckliche Ereignis völlig geknickt. Jetzt, nach eingetretener Ruhe, war die Rückwirkung auf seine Gesundheit eingetreten. Frau Paulsen klagte der jungen Frau, wie leidend, wie ernst und hinfällig ihr Vater werde. »Ach, Dora, ich denke mit Angst und Besorgnis an die Zukunft. Lange kann dein Vater die Anstrengungen der Praxis nicht mehr auf sich nehmen. Er spricht schon selbst davon. Aber was soll dann werden? Und nun auch du, mein einziges teures Kind: Wodurch haben wir den Himmel so erzürnt? Das Ungemach bricht an allen Enden hervor –«

Wie mit Messern drang es bei den Worten durch Doras Seele, um so mehr, als gerade an diesem Tage wiederum eine Szene zwischen ihr und Heinrich stattgefunden hatte. – – Das habe gerade noch gefehlt, eine solche Geschichte! Das könne auch nur ihr passieren! hatte der Apotheker mit Beziehung auf Doras Unglück am Morgen des Tages gesagt.

Wiederum war es Sophie, die zu einem Streite Veranlassung gegeben hatte.

Er wisse nicht, was sie an der alten Person habe, die spioniere und klatsche und ihn in den Mund der Leute bringe. Und dann gab ein Wort das andere, und immer heftiger spitzte sich das Gespräch zu, bis sogar, zum erstenmal überhaupt, Heinrich Doras Blindheit berührte und die entsetzliche Äußerung fiel.

»Heinrich, Heinrich!« ächzte Dora. »Nimm die Worte zurück. Es ist ja furchtbar! Bist du kein Mensch, daß du mir mein Unglück noch vorwirfst? Erst bringst du mich um den Trost, die alte, bewährte Freundin bei mir zu sehen, und nun zerschneidest du auch noch den letzten Glauben, den ich an dich hatte! Soll ich gehen? Ich bin bereit! Ich flüchte mich zu den alten Leuten drüben, obgleich sie selbst in Jammer und Tränen ersticken. Sprich, und ich verlasse dein Haus! Es ist zu viel der Grausamkeit, mir solche Worte ins Gesicht zu schleudern!«

»Ja, bei Gott, fast wäre es schon am besten,« murmelte der Apotheker zähneknirschend und unterdrückte nur mühsam eine an Wut streifende Erregung, die ihn nach seiner Krankheit noch immer bei der geringsten Veranlassung erfaßte. Und dann sich an seine Frau wendend, sagte er mit bekannter, wegwerfender Ungeduld:

»Redensarten! Ewig übertriebene, törichte und sentimentale Redensarten, um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen! Benimm dich verständig und füge dich, dann werden dich keine Vorwürfe treffen.«

Damit schritt er aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.

Die Frau aber, die zurückblieb, saß erst da wie ein Steinbild. Dann flüsterte sie mit ersterbender Stimme, den toten Blick emporgewandt: »Lieber Gott, stärke mich um meiner armen, alten Eltern willen, die vielleicht eine Stütze verlieren, wenn ich von ihnen gehe. Hilf die gräßlichen Gedanken auslöschen, die mein Inneres zerwühlen und mich drängen, zu vollbringen, wodurch ich mich unsühnbar versündige gegen deine heiligen Gebote.«

Dora hatte die Absicht gehabt, Frau Paulsen ihr Herz auszuschütten. Als sie aber den Bericht über ihren Vater vernahm, schwieg sie und drängte alles zurück, um ihrer Mutter neuen Kummer zu ersparen. Aber diese fachte eine verzehrende Flamme des Schmerzes in ihr an und erhöhte die Qual, die in ihrem Innern brannte, als sie plötzlich ausrief:

»Aber beinah vergaß ich ja! Ich habe dir noch nicht erzählt, daß sich Bernhard in diesen Tagen verheiratet hat. Empfingt ihr auch die Anzeige? Hast du gelesen? Ach so –« erinnerte sie sich erschrocken.

Dora schüttelte das Haupt. Sie bezwang sich mit ihrer ganzen Willenskraft, ruhig zu bleiben. Sie wollte unbefangen erscheinen, obgleich sich ein stechender Schmerz in ihr Herz bohrte. Der letzte Funke einer begreiflichen, wenn auch vielleicht törichten Hoffnung versank in diesem Augenblick in ewige Nacht. Sie blieb äußerlich gelassen und scheinbar sogar angenehm berührt über die Nachricht, bis sich Frau Paulsen von ihr verabschiedet hatte.

Wenige Tage später saß Dora in der Dämmerstunde allein im Wohnzimmer und beschäftigte sich mit Stricken. Es war fast die einzige Arbeit, mit der sie sich noch befassen konnte, und sie griff danach, da sie dadurch den Trost fand, sich doch in irgendeiner Weise nützlich machen zu können. Auch setzte sie sich bisweilen ans Klavier, das sie in der letzten Zeit fast ganz vernachlässigt hatte, und suchte durch Musik ihre Gedanken zu zerstreuen. Einen tief ergreifenden, wehmütigen Eindruck machte es, wenn die Blinde die Tasten suchte und sich dabei nur zu häufig vergriff. Noch trauriger aber wirkte es, wenn sie einmal einen Gesang anstimmte, er klang wie eine herzzerreißende Klage.

Am Morgen hatte die junge Frau mehrfach Besuch empfangen. Sie war abgespannt; die Augen schmerzten, und ihre Gedanken wanderten unruhig hin und her. Wie gering man die Güter des Lebens achte, solange man in deren Vollbesitz sei, überlegte sie. Welche brennende Sehnsucht erfaßte sie gerade heute, einmal wieder die Augen aufschlagen, – sehen – sehen zu können! Und wunderbarerweise mischten sich in die allgemeinen Vorstellungen immer wieder nebensächliche. Ob ihr Kragen auch sauber sei, die Handmanschetten, die Gegenstände in den Zimmern, die täglich gebraucht wurden? Wahrscheinlich war alles nicht wie früher! – Das überkam sie jetzt auf einmal. Sie beschloß, dem Mädchen aufzutragen, sorgfältig achtzugeben. Sie nahm sich vor, ihr immer wieder einzuschärfen, auf strengste Reinlichkeit zu halten.

Inmitten solcher Gedanken hörte sie draußen Geräusch auf dem Flur. Es war vielleicht ihre Mutter – Heinrich –? Nein, – ein fremder und doch kein unbekannter Schritt! – Es lag weit zurück, daß sie ihn gehört. Wann? – Wann? – Wer pflegte so rasch, so fest im Schritt die Stufen emporzuschreiten? Nun war's still. Dora sah gleichsam durch die Mauer, daß der Besucher zögerte, – – sich umschaute, nach der Dienerschaft forschte, – anklopfen wollte und sich doch wieder besann. – Sie horchte gespannt. – – Und dann jagte es plötzlich durch ihr Inneres. Es war, als ob sich Eistropfen aus ihrem Herzblut gelöst hätten und erstarrend durch ihre Glieder rieselten. – Sie wußte jetzt, wer draußen stand und im nächsten Augenblick sich ihr nähern werde: – Bernhard! – Ja, er, er! Und nun fort – fort! – Sie wollte fliehen, sie erhob sich, – ihre Hände griffen an den Tisch; – sie sah trotz der erblindeten Augen alle Dinge um sich her, – die Möbel, die Bilder, – auch die Gegenstände im Nebenzimmer, in das sie sich flüchten wollte. – Sie tastete sich vorwärts – atemlos – –

Da klopfte es – und sie stand wie gelähmt –, ganz deutlich, und nun nochmals. – Diesmal klang's, als ob ein Zaghafter an einem fremden Hause an die Tür pocht. – Nein! sie antwortete nicht, – aber sie wagte auch nicht, sich zu rühren; ein Geräusch konnte sie verraten.

Das alles ging blitzschnell, in Sekunden vor sich. Endlich ward die Tür vorsichtig geöffnet. – Schritte wurden vernehmbar, Schritte, bei denen sie erbebte, – erzitterte wie im Fieberfrost. – Und jetzt sogar Laute – aus der Brust des Mannes, dessen Nähe sie ersehnt in Gebeten, in schlaflosen Nächten, – – in Kummer, Sehnsucht und – Verzweiflung.

»Dora, liebe Dora,« drang's fragend durch den dunklen Raum. »Bist du da? –« Und dann ein wimmerndes Stöhnen, ein Schmerzenston, der in seiner furchtbaren Bedeutung selbst die toten Gegenstände des Gemaches zu berühren schien, und der auch den Mann so erschütterte, daß er vorwärts stürzte und im Aufruhr seiner Gefühle niedersank neben diesem armen, grenzenlos unglücklichen Weibe.

»Dor, liebe Dor,« rief er, faßte ihre Hände, küßte sie, schaute zu ihr empor und geizte nach einem Laut, nach einem Blick. – – – Nach einem Blick? Sündhafte Unnatur, die diese unschuldigen Augensterne vernichtet, die den Spiegel einer solchen Seele zerstört hatte! – »O du, du –« stöhnte es dann so seelenzerrissen aus ihrem Munde, daß selbst ein Teufel in allen seinen Fibern darüber hätte erzittern müssen, wie hier ein Menschenherz in Jammer zerfloß, sich auflöste, hinstarb im letzten Aufzucken.


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