Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Der dritte und letzte Tag des Festes war gekommen. Man wußte es vermöge einiger kleiner Kunstgriffe einzurichten, daß gegen Abend der entscheidende Schuß fiel, durch den der neue König in seine Würden eintrat und die Feier ihren Abschluß erhielt.

Zur frühen Mittagsstunde fand auch das gemeinsame Festessen der Gildenbrüder im Königszelt statt, und böse Zungen behaupteten, daß manches Schneiderlein den Magen durch allerlei Fastübungen für diesen Schmaus vorbereitet habe. Glitsch, sonst unter den Lohndienern voran, hielt sich diesmal zurück. Er war selbst Schützenbruder, und Gast und Diener zugleich zu sein, das hatte noch kein Sterblicher zuwege gebracht. So beriet er denn die Sachlage mit seiner Frau und entschied sich, diesmal in ersterer Eigenschaft am Feste teilnehmen zu wollen. Nieteschwanz führte Mile, der Barbier dessen Frau, der stille Sänger-Stuhlmacher von der Hochzeit die Schwester Emma. Letzteres gab den Leuten allerdings mancherlei zu reden.

Es war wirklich ein außerordentlicher Tag. Mit doppeltem, aus dem Nachbarstädtchen beorderten Musikkorps marschierten die Schützenbrüder, die Frauen am Arm, hinaus, und Böllerschüsse verkündeten den Beginn des Festmahls. Es war ein buntes Durcheinander, ehe alle ihre Plätze gefunden hatten, aber schließlich gelang es einem jeden.

Geschäftig liefen die Lohndiener mit den dampfenden Suppentellern umher, holten und brachten den bestellten Wein und seufzten unter den Anforderungen der nie schnell genug zu bedienenden Gäste.

Anfangs vollzog sich alles in gemessener Ruhe. Lobende oder tadelnde Bemerkungen über die Fleischbrühe erfolgten wie sonst; die Konversation schleppte zunächst wie immer, und der Margaux ward vorläufig noch mit einer gewissen Beschränkung genossen. Als aber das Suppenfleisch verzehrt worden war, wurde auch den Flaschen bereits stärker zugesprochen, und eine größere Ungezwungenheit in der Unterhaltung trat ein.

Die Stimmung begann lebhaft zu werden. Mile beobachtete die Gesellschaft mit Argusaugen. Jedes Kleid der Kappelner Damen unterlag ihrer genauen Musterung, und lauter oder leiser knüpfte sie an die einzelne Beobachtung ihre Bemerkungen: »Von der ist auch kein Geld zu kriegen! Alles obenauf, – nichts dahinter!« oder: »Teurer Stoff, sitzt aber schlecht. Natürlich aus Hamburg; die denkt ja immer, daß hier nichts Ordentliches zu haben ist.«

Und so ging es fort. Ebenso absprechend begegnete Mile auch dem Gemahl, wenn er irgendeine ihr nicht zusagende Bemerkung machte. Es war bereits ein recht häßlicher Ton zwischen dem Ehepaar eingerissen.

Überall bekannte Gesichter! Da waren Schübelers, Paulsens, Pastor Engels, Kuchens, Ellisens und Advokat Tach. Auch Herr von Tapp war im blauen Frack und in Lackstiefeln erschienen, aß mit vorsichtiger Auswahl und hielt sich an den Champagner, weil er den Festessen-Rotwein mit seiner verheerenden Wirkung kannte.

Etwas Lieblicheres als Christine und Dora konnte man nicht sehen. Das Gesicht der letzteren hatte sich durch stille Blässe und einen schwermütigen Blick verfeinert; auf Christinens Wangen ruhte die sanfte Röte des Glücks; den Mund umspielten reizende Geister der Schalkhaftigkeit, und in ihren Augen glänzten silberfunkelnde Sterne der Fröhlichkeit.

Mit immer neuen Flaschen eilten die Lohndiener herbei, immer höher stieg der Taumel der Freude.

Beim Gemüsegang ward bereits jener gleichsam übermütige Knallaut geöffneter Champagnerflaschen hörbar, der als leichtsinniger Herold der steigenden Lust voranzuschreiten pflegt. Er drang von der Mitte der Tafel her, wo die Honoratioren, der Adel, die Militärs a. D., die Beamten, die Väter der Stadt und was sich sonst besser dünkte als der Durchschnitt der Menschheit, Platz genommen hatten.

Und nun folgten auch die übrigen Gänge. Bald sah man ringsum die Champagner-Spitzgläser gefüllt, in ihrer doppelten Färbung von Hellgold und Schnee und die Flecke auf den Tischtüchern als Zeichen der überschäumenden Ungeduld der Geister des Weins. Abermals wurden herrlich bereitete Speisen: Fische und Braten, in staunenswerter Menge verzehrt, und nach Bewältigung dieser hielt dann auch der Festordner den Augenblick für gekommen, an einen zeitweiligen Aufbruch zu mahnen. Man folgte seinem Ruf, erhob sich und wanderte hinaus, um, wie es im Volksmunde hieß: »Nu ers mal en beten sakken to laten«. Und in der Tat hatte sich bei der Rückkehr zur Tafel wieder ein so wundervoller Appetit eingestellt, daß das nun folgende, seine leckeren, gebratenen Leiber präsentierende Geflügel in kürzester Zeit den Angriffen der Schmausenden erlag.

Nach dem Toast auf den Landesherrn, den Bürgermeister Friedrichsen mit zurückgebogenem Kopf und Autoritätsfalten auf der Stirn in würdigster Weise ausbrachte, erfolgte ein solcher auf den bisherigen Schützenkönig. Seine Tage waren gezählt, und es war begreiflich, daß er mit einer starken Beimischung von Wehmut die dargebrachten Huldigungen entgegennahm.

Und nun waren auch die letzten Schranken gefallen. Die Gesellschaft gab sich der ausgelassensten Lust hin. Nicht nur die sanft versöhnlichen Gefühle, welche der leichtfertige Wein fördern hilft, stiegen in der Brust der Festgenossen auf, sondern jene Freude am Übermut und jene Glückseligkeit der Stimmung brach sich Bahn, für welche der fröhliche Trinker allemal eine schwere Buße zahlen muß. Adler und Heinrich stießen miteinander an, als ob sie Zwillingsbrüder seien, und der Bürgermeister sandte dem neuen Senator einen Blick hinüber, in dem eine Welt voll herzlicher Gesinnung sich ausdrückte; selbst Nieteschwanz wurde gesprächig, und der Stuhlmacher begann schon wieder leise vor sich hin zu singen.

Um zwölf Uhr hatte man sich zu Tische gesetzt; um vier Uhr wurde die Tafel aufgehoben. Draußen harrten die Musikanten, und unter den Klängen ihrer lustigen Melodien setzte sich die Festgesellschaft in Bewegung. Zwar, es war draußen heiß, die Sonne brannte vom Himmel, und ein Gefühl dumpfen Kopfwehs und ein drückendes Unbehagen bemächtigte sich bereits vieler, die dem lachenden Gott zu oft und zu zärtlich zugesprochen hatten.

Zur Abwechslung machte der Festordner-Schwefelholzfabrikant den Vorschlag, einen Gang nach der nahegelegenen neuerbauten Brauerei zu unternehmen, der allgemeinen Beifall fand. Ja, das war eine herrliche Idee; in den Kellern drüben war's kühl und erquicklich. Ein Gläschen Bier würde jetzt trefflich munden! Alle wandten den Blick hinüber. Vom Turm des Hauptgebäudes wehte zu Ehren des Tages eine bunte Flagge in den Landesfarben. Die Brauerei sah überaus einladend aus. Da zudem die meisten die schönen Kellereien, Nebengebäude, Stallungen und Gärten noch nicht in Augenschein genommen hatten, lag ein doppelter Anlaß zu einem Abstecher dahin vor. Auch Tibertius bot seinen beiden Damen den Arm und setzte sich mit Schübelers und Tachs sowie mit der übrigen Gesellschaft in Bewegung. Als die Fußgänger den Saum der Wiese, nahe der Brauerei, erreicht hatten, erscholl von drüben her lautes Hurra; unwillkürlich wandten sie sich noch einmal um, bewunderten das reizvolle Panorama, das der Festplatz mit seinen Umgebungen ihnen eröffnete, und begaben sich dann ebenfalls zum erfrischenden Trunk.

Es war draußen auch wahrlich ein farbenschönes Bild. Auf der grünen, sonnendurchleuchteten Fläche tauchten die weißen Zelte mit ihren bunten Fähnchen reizvoll auf. Tausende bevölkerten den Platz, und immer neue Scharen wälzten sich von der Stadtseite her dem Festrondell zu. Und drüben schimmerten hinter dem Blau der heimlich rauschenden See die jenseitigen Ufer mit ihren Dörfern, Häusern, roten Dächern und Schornsteinen, und weißer Rauch entstieg den letzteren, als schwebten junggeborene Wolken aus lichten Tiefen zum azurnen Himmel empor. Ein Sonnenhimmel mit sattem Blau und schneeweißen Inseln, die mit ihren unschuldig reinen Farben den Eindruck hervorriefen, als ob sie sich verschämt aus der Unendlichkeit hervorgestohlen hätten, um das Schönheitsbild zu vervollständigen.

Und da auf einmal, mitten in den ausgelassenen Festjubel hinein, drang von der Brauerei her ein furchtbarer Schrei durch die Luft, ein so entsetzlicher Schrei aus einer angsterfüllten Brust, daß sich der Knall des eben wieder aufgenommenen Musketenfeuers dagegen kaum wie das Platzen eines Zündhütchens abhob, – ein Ton, vor dem die Lust des Tages vergehen mußte, der das Getier in der Luft erschreckte und die Menschen ringsum für Augenblicke entsetzt aufhorchen ließ.

»Was ist? Was ist?« riefen die Herankommenden den eben aus der Brauerei Herausstürmenden zu.

Einer antwortete, aber er war so verstört, so ergriffen von dem Geschehenen, daß er mitten im heißen Sonnenschein zu frieren und zu zittern schien. Es war Tibertius, der, den Physikus suchend, über das Feld eilte.

»Was sagte er? Wer?« erhoben sich die Stimmen und trugen die Kunde weiter.

»Wer? Wer?« drängte sich nun auch Mile fragend an ihren Mann.

»Frau Heinrich ist etwas Schreckliches passiert! – Die Kälte in dem Brauereikeller ist ihr auf die Augen gefallen. Sie ist plötzlich stockblind geworden; sie kann nichts sehen. Es ist – sehr bedenklich – sagt Doktor Schübeler!«

»Blind? Blind?« rief entsetzt die Umgebung und schrie die Schneiderin. Bei diesen Worten zuckte selbst in dieser kalten Brust ein Gefühl tiefen Mitleids auf.

Während Augenblicke war die Teilnahme für die im Städtchen hochgeachtete und verehrte junge Frau eine so allgemeine und aufrichtige, daß auf dem ganzen Festplatz von nichts anderem gesprochen wurde. Plötzliche Unglücksfälle ereignen sich jeden Tag. Was aber soeben in der Brauerei vor sich gegangen, war etwas Entsetzliches, überragte das Leid, das über Menschen zu kommen pflegt, so sehr, daß sich in das Bedauern sogar ein allgemeines, angstvolles Unbehagen mischte. Und hätte es sich nicht um ein gemeinsames Fest gehandelt, würde das Geschehene wohl Veranlassung gegeben haben, die Feier aufzuheben. Nun aber verschlang das alle fortreißende Vergnügen den anfänglich so erschütternd wirkenden Eindruck fast ebenso schnell, wie er entstanden war. Morgen war auch noch ein Tag, um tröstende Worte zu sprechen, und zudem vermochte ja keiner an der traurigen Tatsache etwas zu ändern. Jubel erklang durch die Luft wie ehedem. Gesang ertönte aus den Zelten wie tags zuvor. Der Büchsen Knall verklang in gleichmäßigen Absätzen, und im Rundtanz drehten sich die vergnügten Paare. Auch die Natur hatte ihr Gesicht nicht verändert. Der Himmel wölbte sich in seiner Bläue wie immer; die See schob ihre sanft rauschenden Wellen gleichgültig an den Strand wie stets, und die Bäume prangten in ihrem grünen Laub wie bisher.

Wir, die wir uns in die Natur flüchten, wenn Sorge und Qual unsere Seele martern, die wir in ihrem Anblick Trost, Ruhe und Selbstvertrauen zurückgewinnen, vermissen oft ihr mitfühlendes Auge. Ihr Niobeantlitz bleibt stumm, unverändert.

Und dennoch ist sie die einzige wahrhafte, wenn auch unsichtbare Trösterin unserer gebrochenen Herzen, ist sie allein die Besiegerin unseres Schmerzes und legt den Balsam auf unsere Seele, dessen wir bedürfen, um uns mit der Grausamkeit des Lebens abzufinden. Wir sehen auch den lebendigen Gott nicht und fühlen doch sein unsichtbares Walten. Wir wissen, daß es des Allmächtigen Atem ist, der uns anweht aus der uns umgebenden Welt; wir erblicken sein geheiligtes, ewiges und erhabenes Angesicht und sein mitleidsvolles Auge in dem Trostbilde der Natur. Wer sich zu ihr flüchtet, legt sein bedrängtes Herz an des Schöpfers Brust, und noch nie verweigerte der Barmherzige hier seinen Geschöpfen Linderung. Sie, die Natur, fördert das Vergessen! Vergessen: den Schlaf des Geistes!

Wie aber überwindet der Blinde die Pein, die ihn martert, er, der dies wundervolle Bild nur mehr ahnen, nicht sehen, das Prangen der Natur mit ihren bezaubernden Schönheiten nicht ferner anschauen, nicht auf Geist und Gemüt erquickend einwirken lassen kann; er, der aus diesem allen keine neue Lebenskraft zu schöpfen vermag und dem auch die Pforte zum Eingang in die Seelen anderer, das Auge, das aufsaugende, erkennende Organ für die Erscheinungen des ihn umgebenden Alls, fehlt?

Von den Gildenbrüdern schossen nur sehr wenige selbst. Einige geübtere traten für die meisten ein. Nun war der letzte Schuß gefallen; der Rumpf des Vogels lag am Boden! Ein allgemeines Hurra scholl über den Festplatz, das sich weiter und weiter fortpflanzte. Wie vor einigen Stunden sich alles zusammengedrängt hatte, um der Trauerbotschaft zu lauschen, so gingen jetzt von Mund zu Mund die Fragen nach dem Namen des Glücklichen, für den der Königsschuß gefallen war. Und »Barbier Glitsch!« war die Antwort, und »Glitsch!« brauste es über den Platz, durch die Zelte, und »Glitsch! Glitsch!« schrie Mile, geborene Kuhlmann, und sank, erschüttert von der aufregenden Nachricht, Frau Nieteschwanz beinah an die Brust.

Noch anziehender war es, den neuen Schützenkönig selbst zu sehen. Er strich sich mit der angefeuchteten Hand über das Haar und ordnete es gegen die Stirn; er warf den Kopf in den Nacken und zog die zurückgekrochenen Manschetten aus den Ärmeln hervor. So stand er da, und so wartete er der kommenden Dinge. Ja, auch er war überrascht und berauscht, aber keine Miene verriet es. Als gleich nach dem Bekanntwerden des Ereignisses einer der Schützenbrüder an ihn herantrat und zweifelnd fragte, ob er die »königliche Würde« annehme, neigte er mit einem »Direkt! Selbstverständlich!« das Haupt, und als die Honoratioren sich ihm näherten, ihm die Hand schüttelten und gratulierten, nahm er die Huldigungen wie jemand entgegen, der die Welt und die Pflichten seiner hohen Stellung kennt, und diese so wenig wie seinen eigenen Wert unterschätzt.

Glitsch war Herrscher durch den Königsschuß, Glitsch war Herrscher durch die Gesetze und den Willen des Volkes, Glitsch verdiente König zu sein infolge seiner großen Eigenschaften.

Im Königszelt fand die Zeremonie statt. Der Mann mit dem glatten Jungferngesicht löste die Kette von seiner Brust (zufällig hatte Glitsch sie selbst für die Feierlichkeit gereinigt und geputzt) und dem Mann der praktischen Wissenschaft, dem Mann mit der Diplomatenstirn ward sie umgehängt. –

Nie sah die Welt eine schönere Königin! Emilie setzte ihren Kopf ganz eigenartig auf die Schultern. In ganz besonderer Weise ahmte sie hinten den Pfau nach und warf sich gleichzeitig vorn in die Brust; nie zeigten die beiden Bäckerkringel an ihrer Stirne eine so vornehme Rundung wie heute.

»Was meinst du?« flüsterte sie dem Gatten zu, nachdem der Sturm der Glückwünschenden abgeschlagen, auch die Zeremonien beendigt waren, und drängte sich mit einer gewissen eifersüchtigen Beflissenheit an den königlichen Arm. »Was meinst du, Julius?« (Wenn Emilie schmeichelte, nannte sie Glitsch stets beim Vornamen.) »Sollen wir die Gildenbrüder traktieren? Wollen wir sie nach Frahms Gasthof einladen?«

Glitsch überlegte. Seine Eitelkeit drängte ihn, diesem Vorschlag zuzustimmen, sein Geiz aber und seine Klugheit rieten ab. In demselben Augenblick kam ihm jedoch der Gedanke, hier sei vielleicht die Gelegenheit gegeben, zu einer wirklichen Würde emporzusteigen. Gelang ihm eine gute Rede als Schützenkönig, so hob sich seine Popularität, und ein langgehegter, geheimer Wunsch, Stadtverordneter zu werden, bahnte sich dadurch an. Nun ja, mochte es denn wirklich ein fünfzig Tälerchen kosten, oder auch mehr. Am Ende, sie hatten's ja!

In diesem Sinne verständigte er seine Gattin, und da sie eifrig beipflichtete, gab er alsbald die Parole: »Frahms Gasthof« aus.

Die Paare arrangierten sich; die Festordner verteilten die Musik. Der König mit seinem Anhang stellte sich an die Spitze des Zuges; die Trompeten schmetterten, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Welch eine Stimmung! Nach dem heißen Tage hatte sich die Luft angenehm abgekühlt, und von der Schwüle befreit und vom Weinrausch nicht mehr belästigt, zogen die Gildenbrüder in der gehobensten Stimmung in die Stadt. Was heute nicht hinausgewandert war, stand bei dem anbrechenden lauen Abend vor den offenen Türen und bewillkommnete mit lauten Zurufen die vorüberziehenden Scharen. Viele schlossen sich dem Zuge noch an, um auf dem Marktplatz, vorm Frahmschen Gasthof dem Festjubel beizuwohnen.

Frahm war verständigt. Im Auftrag Sr. Majestät war der Adjutant sogleich in die Stadt gesprengt und auf dem schaumbedeckten Schwarzen des Bierbrauers noch beizeiten für den Abmarsch der Festgenossen zurückgekehrt. Als die Schützenbrüder den Marktplatz erreichten, war ringsum illuminiert; vor dem Gasthof brannten Fackeln. Auch waren auf die Straße eine Anzahl Fässer geschafft, die zum Ausschank für diejenigen bestimmt waren, welche in den Räumen des Wirtshauses kein Unterkommen mehr finden konnten. Die ganze Nachbarschaft lieferte an Tischen, Stühlen, Lampen und Gläsern, was nur irgend aufgeboten werden konnte. Der Marktplatz war in einen Festsaal verwandelt; Hunderte und Hunderte nahmen hier im Freien Platz, und ebenso viele füllten die unteren Zimmer des weitgeöffneten Gasthofes.

Der Älteste der Ältermänner betrat den Balkon und hielt eine Rede. Donnernder Applaus, Hurra, Musik und Gläserklirren! Und dann trat König Glitsch auf und sprach und dankte. Alles horchte gespannt, und nachdem er geendet, spielte die Musik Tusch, und die Luft ertönte von Jubel und Geschrei.

So ging's fort die halbe Nacht in immer belebterer Stimmung, zusetzt endend mit begeistertem Gesang, in den alle Anwesenden einstimmten. Und während es jubelnd durch die lichtstrahlende Sommernacht erklang, die Fröhlichkeit und die Ausgelassenheit ihren Höhepunkt erreichten, lag die Apotheke still und einsam vom Mondlicht umflossen da. In ihren dumpfen, liebeleeren Räumen hockte schlaflos, – weinend ein blindes Weib, marterte seine Seele und – zweifelte an der Barmherzigkeit Gottes. –

»Fasse Hoffnung, mein Kind, mein armes Kind! Oft macht die Natur die scheinbar festesten Glaubenssätze der Wissenschaft zunichte, und so verzweifle nicht, daß Gott auch dir gnädig sein wird.«

Das waren des Physikus' Worte, als er seine Tochter an dem Abend verließ, und Frau Paulsen, seit Stunden aufgelöst in Tränen, den dringenden Bitten Doras nachgebend, nun auch endlich die Ruhe suchte.

Und Heinrich? – Er hatte es nicht einmal über sich gewinnen können, dem geknickten Menschenkinde auch nur ein Trosteswort zu sagen.

Ob eins der Mädchen bei ihr bleiben solle in der Nacht? hatte er sie gefragt, bevor er sich auf sein Schlafzimmer begab, und als sie mit dem Kopfe nickte, öffnete er die Tür, verabschiedete sich mit den kargen Worten: »Ich werde es ihr sagen,« und entfernte sich.

Da saß sie nun allein mit ihrer Qual, einer Qual, für die eine Menschenbrust kaum Raum hatte. Furchtbare Gedanken zogen durch ihre Seele. – Sterben, sterben! Nicht mehr leben! Darauf ging alles hinaus. Und doch, wie wohl tat ihr die mitleidig sanfte Hand ihrer Magd, wie erquickend berührte sie deren teilnehmendes Wort, wie zuckte es durch ihr Inneres, als ihr eine dem mitleidigen Geschöpf aus den Augen rinnende Träne auf die Hand tropfte.

Bereits am nächsten Tage reiste Dora in Begleitung ihres Vaters nach Kiel. Dr. Schübeler und der Physikus waren zwar übereinstimmend in ihrem Urteil, daß in diesem Falle menschliche Hilfe vergeblich sein werde, aber den letzteren drängte es doch, auch die Meinung anderer Ärzte einzuholen.

Nachdem die Untersuchung stattgefunden, bei der festgestellt wurde, daß den in letzterer Zeit aufgetretenen Störungen sich noch andere, gerade den Sehnerv beeinflussende, beigesellt hatten (auf so vieles, jahrelanges Weinen geriet niemand), bemühte man sich, Dora durch die Erklärung zu besänftigen, daß nichts verloren, aber der Zeitpunkt für eine Operation noch nicht gekommen sei. Durch diese und ähnliche Vertröstungen suchte man die mit angstvoller Spannung aufhorchende arme Dulderin zu beruhigen.

»Sag's mir, Vater«, drängte sie auf der Rückreise flehend und tastete nach des alten Mannes Hand: »Sage mir, ist Hoffnung? Wie lange kann es bis zur Operation währen? Werden Jahre darüber hingehen, oder kann plötzlich ein Eingriff notwendig sein? Was muß vor sich gehen, damit die Sehkraft sich von neuem stärkt?«

Während sie sprach, blutete sein Herz und zerging fast in Mitleid und Trauer. Mit frommer Lüge suchte er sie zu trösten und eine Erklärung zu geben, die sie verstand. Er bedeutete ihr, daß durch den plötzlichen Übergang aus der Hitze in den feuchtkalten Keller eine Lähmung der Sehkraft eingetreten sei. Das komme sehr selten vor, aber man habe ähnliche Beispiele bei den gesundesten Augen gehabt, und die Wiedergewinnung des Augenlichts sei in solchen Fällen fast immer gegeben. Die Kieler Ärzte hätten geraten, die schmerzhafte Operation schon deshalb zu verschieben, damit man abwarten könne, ob die Natur sich nicht selbst helfen werde.

Und Dora glaubte ihm, weil sie hoffte, und wurde wieder etwas ruhiger und heiterer. Sie knüpfte mit ihren Gedanken von neuem ans Leben an und selbst in ihrem ehelichen Verhältnis, dessen Trostlosigkeit bei dieser neuen Prüfung in den Hintergrund getreten war, erwartete sie eine günstigere Wendung. Trotz der furchtbaren Erfahrungen besaß sie einen so starken Glauben an die Menschen, daß sie jetzt, nach diesem Unglück, eine rücksichtsvollere Begegnung von ihrem Manne erhoffte.

Kein Tag verging nach der Rückkehr, an dem Sophie ihre junge Freundin nicht besuchte. Aber sie kam nicht mehr versteckt wie bisher. Das Unglück fragt nicht nach menschlichen Launen. Zahllos waren die Beileidsbesuche von seiten der Kappelner. Auch Mile Glitsch erschien, um ihre und ihres Mannes Teilnahme auszusprechen.

Selbst die alte Frau Kapitän Lassen machte Dora einen Besuch, hielt lange die Hand der armen Blinden fest und tröstete sie auf ihre Art, indem sie ähnliche, recht traurig verlaufende Vorgänge aus ihren Erinnerungen in ausführlicher Rede hervorholte, ja, mit dem Mangel an Feingefühl, den man bei Leuten ihres Schlages häufig findet, das Leiden als wohl unheilbar hinstellte. Sie brannte, ohne es zu ahnen, mit glühendem Eisen in die Seele des armen Weibes.

Christine vermochte bei der ersten Begegnung mit Dora kaum zu sprechen; Tränen schossen aus ihren Augen hervor, und das Mitleid überwältigte sie.

Nicht minder bewegt war der brave Tibertius. Er und die übrigen Freunde versicherten die Blinde ebenfalls, daß es nur eine vorübergehende Schwäche sei, die ihr für kurze Zeit die Sehkraft geraubt habe. So holt sich das Mitleid die Lüge herbei, und so ist sie oft ein erbarmender Engel.

August hatte seine Herrin nach dem Unglück noch nicht wiedergesehen. Bei erster Gelegenheit aber ließ er sich ihr jetzt melden.

Als Lene den Auftrag ausrichtete, tastete sich Dora gerade an den Möbeln entlang, um das anstoßende Zimmer zu betreten. Nun stand sie mit den erblindeten Augen mitten im Gemach und suchte unsicher nach einem Stützpunkt, als Semmler eintrat.

»Geleite mich, Lene,« betonte sie, sich gleichzeitig gegen den Sprechenden verneigend und wandte das Haupt zur Tür.

»Gestatten Sie mir, Sie zu führen. Das Mädchen ging schon fort!« hub August tief bewegt an, und sich Dora nähernd, führte er sie behutsam stützend an das Sofa.

Jäh wechselnde Farben legten sich auf das Angesicht der jungen Frau, und eine brennende Träne stahl sich aus den erloschenen Augen. Es trat eine kurze, bedrückende Pause ein; keiner fand gleich das Wort. Endlich faßte sich Dora.

»Wir haben uns nicht gesehen und nicht gesprochen – seit – jenem Mittag, – Herr Semmler. – Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt, nachdem ich Ihnen so große Unannehmlichkeiten bereiten mußte. Ich höre, Sie werden unser Haus wieder verlassen. Es quälte mich bereits, und es verlangte mich, mit Ihnen zu reden. Es wäre auch schon geschehen, wenn nicht – –« Sie stockte; ihre Stimme zitterte. Sie hielt ihm die Hand hin – »der Unglücksfall –«

Das war zu viel! Sie sprach nicht von dem grausamen Schicksal, das sie betroffen, dessen Eindrücke allein ihr Inneres beherrschen und alles übrige verschlingen mußten; sie beschäftigte sich mit seiner Angelegenheit. Sie bat ihm ab, daß er um ihretwillen Kummer gehabt und sich Ungelegenheiten bereitet habe.

»O, meine hochverehrte Frau!« preßte Semmler heraus. »Sie sprechen von mir, während allein von Ihnen die Rede sein darf! Ich fand noch keine Worte. – Vergeben Sie mir. – Meine Teilnahme raubte mir die Sprache. Darf ich es sagen, wie ich um Sie leide, mich um Sie gräme?«

Noch immer hielt er ihre Hand, und sie fühlte den Druck seiner Rechten. Es übertrug sich auf diese nur zu deutlich, was sein Inneres bewegte.

Dora vermochte nichts zu erwidern. Ihre Augen, die schon so viel geweint, quollen über, und die Blässe furchtbarsten Seelenschmerzes legte sich auf ihre Wangen.

»Ich danke, ich danke Ihnen, mein Freund –« schluchzte sie. »Ich nenne Sie so! Bleiben Sie es mir – Indessen jetzt – ich bitte, verlassen Sie mich jetzt –«

August erhob sich und verschlang noch einmal ihr Bild mit den Augen; dann aber verließ er gehorsam den Ort, an dem in wenigen Minuten so viele Wonnen und zugleich so grausame Schmerzen durch seine Brust gezogen waren.


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