Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Vierunddreißigstes Kapitel.

Der zweite Tag des Vogelschießens verlief fast noch lustiger als der erste.

Einige besser gestellte Schützenbrüder hatten den übrigen Festgenossen am Morgen vor dem Auszug ein Frühstück in ihrem Hause angeboten und auf diese Einladung von keiner Seite Absage erhalten. Dadurch verzögerte sich der Abmarsch; aber die Stimmung war, als er nun endlich erfolgte, bereits eine so lebhafte, daß die neugierigen Zuschauer an den Fenstern mit einem Hurra begrüßt wurden, einige ehrenwerte Gildenbrüder schon beim Marschschritt recht bedenklich schwankten und der Schneider Schwanzleutnant mit dem Sparkassengesicht sogar gesenkten Hauptes, still vor sich hinschmunzelnd, einhertorkelte. Gleichsam mechanisch bewegte er sich und versuchte Schritt zu halten, ohne daß es ihm indessen recht gelingen wollte.

»De Swansleutnant Chrischan Neihnadel schall leben! Hurra!« schrien einige vorlaute Jungens an der Marktecke und erwarteten einen wütenden Blick dafür. Aber der Schneider lachte und blinzelte, ohne emporzuschauen mit den Augen, tat, als ob er eine dritte, unbeteiligte Person sei. Er lachte über sich selbst, er hatte Humor. –

Welch ein tiefblauer Himmel spannte sich über der grünen, festlich geschmückten Schützenwiese aus, und wie reizvoll erschien drüben die See mit ihren in Silberschnee verwandelten Wellen; welch wunderbarer Hauch kühlte die heiße Luft, in der die Vögel lustig zwitscherten, nun, da sie sich an das unheilige Geräusch der Musketenschüsse gewöhnt hatten.

Und während draußen das Tam-Tam erscholl und Jubel die Luft erfüllte, Drehorgel und Konzertmusik sich mit den Gesängen der angeheiterten Schützenbrüder vermischte, während alles fröhlich war und sogar Heinrich mit seinen großen Zähnen lächelte, als der stark angeheiterte Bürgermeister ihn in die Ecke des Königszeltes zog und unter Händeschütteln und sanften Vorwürfen um seine Freundschaft buhlte, saß Dora ratlos neben ihrer Freundin Sophie in der abgelegenen Gasse im kleinen, dumpfen Stübchen und bat um Trost und Rat.

Der Physikus hatte erklärt, er wolle mit seinem Schwiegersohn reden, energisch reden. Doras Bericht hatte ihn so erschüttert, daß er anfänglich keines Wortes mächtig gewesen war. Nie in seinem Leben hatten ihn die Seinigen in einer so furchtbaren Aufregung gesehen.

Beide Eltern sprachen zum ersten Male das Wort Trennung aus. So konnte, so durfte es nicht weitergehen! Wollte Heinrich sein Betragen nicht ändern, so sollte Dora in das Haus ihrer Eltern zurückkehren. Es mochte dann kommen, was mußte.

Die junge Frau berührte es tief, daß man ihr nicht gleich nach diesen Vorgängen eine Zuflucht anbot, aber sie bat nicht darum, weil sie noch immer die Rücksicht gegen die Ihrigen über das gewaltsame Drängen ihres Herzens stellte. Freilich schnitt es schmerzvoll ihr ins Innere, daß Frau Paulsen selbst in diesem Augenblicke von der Zukunft sprach und der materiellen Folgen erwähnte! Sogar in einem derartigen Moment mischte sich die Anbetung des Geldes in die Gedanken der Ihrigen.

Unter solchen Empfindungen eilte die junge Frau zu Sophie. Sie mußte ihr Herz jemand ausschütten, der teilnehmend, ohne Bedenken ihr zuhörte. Die alte Dame rüstete sich gerade, um mit Frau Senator Ellisen auf die Schützenwiese zu gehen. Als sie Dora ins Auge blickte, sah sie gleich, daß sich etwas ganz Ungewöhnliches ereignet haben mußte. Rasch nahm sie Mantel und Hut wieder ab und zog die junge Frau mit warmherziger Miene in die Sofaecke.

»Bitte, liebe Sophie, es ist ganz milde, ganz sommerlich draußen, – einen Augenblick das Fenster – ich ersticke fast –«, hub Dora an, bevor die alte Dame zu einer Frage gelangte.

»Gewiß, gewiß, meine süße Dora, ich wollte gerade lüften.«

Im nächsten Augenblick schlang Dora die Arme um die Schultern ihrer treuen Freundin, und jetzt erst gelangte ihr Schmerz ganz zum Ausbruch. Sie weinte herzzerreißend. Vordem hatten sich wohl sinkende Tröpflein abgelöst, jetzt flutete es aus den durch vieles Weinen entzündeten, kranken Augen, als ob eine heiße Quelle sich Bahn gebrochen habe.

»Bin ich denn eine so weichmütige und sentimentale, eine so anspruchsvolle Natur, daß ich immer wieder klagen muß, Sophie? Gibt es Menschen, die ein gleiches oder gar ein viel größeres Herzeleid haben und es geduldiger, mit größerer Sanftmut ertragen? Sind sie klüger, stärker und deshalb unempfindlicher und glücklicher?«

»Vielleicht, vielleicht, meine süße Herzensfrau. Andere fühlen und empfinden weniger tief; aber ich möchte glauben, ein solches Schicksal verhängt der liebe Gott doch nicht allzuoft über seine Geschöpfe,« erwiderte die Alte und wischte sich bei Doras demütiger Selbstanklage gerührt über die Augen. »Dein Mann ist ja kein Mensch, er ist ein herzloser Bösewicht, für den in meinen Augen keine Strafe zu groß wäre.

Höre, Dora,« fuhr sie fort, nachdem die junge Frau ihr noch einmal alles wiederholt hatte, »gehe aus dem Hause, heute noch! Komm zu mir, wenn deine Eltern noch schwanken, und wenn nicht anders, flüchte dich zu deinem Onkel nach Mecklenburg.«

Namenlos glücklich machte sie die junge Frau durch diese Worte. Fort! Ihn nicht mehr sehen, bei dessen Anblick ihr Herz bebte; seine Stimme nicht mehr hören, die ihr wie das Bellen eines Schakals klang; von ihm nicht mehr abhängig sein, den sie so glühend haßte, daß sie ihn hätte zerreißen, töten können.

Und dennoch – wie marterte gleichzeitig Sophie mit ihrem Vorschlage, zum Onkel zu fliehen, unbewußt Doras Inneres. Rief sie ihr doch dadurch Bernhard ins Gedächtnis zurück! Gerade vor einigen Tagen hatten Paulsens erfahren, daß er sich neben seinem Papa als Arzt niedergelassen habe. Es war ihm an einem anderen Orte nicht nach Wunsch gegangen.

»Ja, ja, das möchte ich!« stürmte es durch Doras Brust. Und: »Nein, nein, das ist unmöglich. Es wäre unzart, berechnend,« flüsterte ihr eine andere Stimme zu. »Ja, wenn Bernhard nicht am Orte wäre, dann zum Onkel zu flüchten –«

Auf die junge Frau endlich nach wiederholten aufrichtigen Worten Sophiens von ihr Abschied nahm, hatte sie sich wesentlich beruhigt. Durch das Gespräch mit der alten Freundin war ein Entschluß in ihr gereift, dessen Ausführung sie so ausschließlich beschäftigte, daß das jüngst Erlebte gegen ihn in seiner Bedeutung fast zurücktrat. –


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