Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Zwölftes Kapitel.

Aus Dora, dem bisher fröhlichen und unbefangenen Kinde, war in einer Nacht ein ernstes Mädchen geworden. Sie kämpfte in ihrem kleinen Zimmer, das ihr mit allen darin befindlichen niedlichen Dingen so sehr ans Herz gewachsen war, daß es schon bei dem bloßen Gedanken einer Trennung von diesem Raum angstvoll in ihr aufquoll, einen furchtbaren Kampf. Und wenn sie sich nach allem Für und Wider endlich doch sagte, es sei ihr unmöglich, Heinrich ein Jawort zu geben, dann erinnerte sie sich wieder der Opfer, die er ihren Eltern gebracht, und der Worte, welche ihr Vater an seine Mitteilung geknüpft hatte. In Sanftmut und Geduld bezwang sie ihr zitterndes Herz, und wie eine fromme Märtyrerin beschloß sie, alles über sich ergehen zu lassen, bis abermals neue Zweifel in ihr aufstiegen und Sophiens Mahnungen ihr ins Gedächtnis traten: »Wenn sie noch so sehr auf dich einreden, tue es nicht! Dein Herz allein muß entscheiden!« Dora warf sich auf die Knie und betete zu Gott. Sie bat ihn, er möge ihr einen Fingerzeig geben, und während sie inbrünstig zum Himmel flehte, hörte sie in ihrem Innern leise, aber eindringlich die Worte: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden!

War das ein Fingerzeig? War, was geschrieben stand, so zu deuten? So viel Widerstreitendes durchkreuzte ihre Sinne und Gedanken.

Und Bernhard stand plötzlich vor ihr! Sollte sie ihm schreiben: Komm, errette mich!? Sie trat vor sein Bild und schaute es lange an. Wie er sie anblickte, so klug und auch so wehmütig!

»Kleine Dor!« klang es in ihre Ohren. »Kleine Dor – –«

Die Tränen flossen ihr aus den Augen, und sie fühlte einen Druck am Finger. Das war sein Ring! Aber auch ohne diesen hatte sie ihn nicht vergessen, nicht einen Tag, nicht eine Stunde! – Und er?

Eine namenlose Sehnsucht nach ihm erfaßte sie, aber wiederum auch eine entsetzliche Angst vor dem Schritt, den sie tun sollte. Das kalte, berechnende Gesicht Heinrichs, seine lange Gestalt tauchten vor ihr auf. Sie hörte ihn sprechen mit seiner hochmütigen Überlegenheit; er gab auf ihre Fragen keine Antwort, und wenn er zuletzt den Mund öffnete, so erfolgte eine seiner kurzen, kalten, herabdrückenden Bemerkungen.

Einmal malte sich Dora ihr Leben in den prächtig eingerichteten Wohnräumen aus. Sie war glücklich und stolz bei dem Gedanken, die Eltern und Freunde in ihrem Hause zu empfangen. Sie stellte sich vor, wie reizend es sei, in der Küche nach den Töpfen zu sehen, als Herrin aufzutreten und die Mädchen anzuweisen. Und daneben die Ehrerbietung der Gehilfen und Lehrlinge und der Neid der Welt, wenn sie den angesehensten und reichsten Mann der Stadt ihren Gatten nennen würde. – Was hatte er ihr denn eigentlich Böses zugefügt? War er ihr in der letzten Zeit irgendwie zu nahe getreten? Begegnete er ihr nicht durchaus mit Rücksicht und Güte? Und weshalb sollte er sich in seinem Benehmen ändern, wenn sie ihre Pflicht als Frau erfüllte? – – Pflicht? Was gehörte alles zu den Pflichten einer Frau –?

Da kamen wieder andere Vorstellungen! Angst ergriff sie, daß dieser Mann sie berühren, ihre Stirne küssen, ihre Gestalt umfassen könne –

Das war es! Eine heftige Abneigung erfüllte sie bei dem Gedanken an Zärtlichkeiten, die er ihr erweisen würde. –

Sie beschloß, darüber mit ihrer Mutter zu sprechen, und dann besann sie sich doch wieder. Eine unbestimmte Scheu, deren Ursache nachzuspüren ihr in der Reinheit ihres Herzens nicht einmal einfiel, hielt sie davon ab.

 
Doras Tagebuch.

Nun bin ich Heinrichs Braut! Am gestrigen Tage gab ich ihm, – nein, raubte er mir das Jawort, und während ich nun in meinem Stübchen sitze und niederschreibe, wie alles gekommen, ist mir zumute, als wäre ich einem Gefängnis entronnen und genösse die Freiheit, die alte Freiheit meiner Mädchenjahre noch einmal – zum letzten, letzten Mal.

Nachdem die Eltern mir Heinrichs hochherziges Benehmen mitgeteilt hatten, schien es mir unmöglich, ihm meine Hand zu verweigern, und doch, gerade wegen des Zwanges, der mir dadurch auferlegt ward, wurde es mir doppelt schwer. – Ich schreibe das hier alles so gleichgültig nieder, und wie unsagbar traurig ist mir doch zumute, wie viele Stunden habe ich geweint und gerungen! –

Einmal hatte ich schon einen Brief entworfen, in dem ich Heinrich bat, mich freizugeben! Ich sagte ihm, ich sei sicher, daß ein Mann, den Gesinnungen beseelten, wie er sie gegen die Eltern an den Tag gelegt habe, diese auch in einer mein Glück entscheidenden Angelegenheit betätigen werde. Ich erklärte ihm, daß ich ihn achte, hoch achte, wie keinen andern, aber fühle, daß mir gerade dasjenige abgehe, was erforderlich sei, um mich ihm zu eigen zu geben. –

Mir ist so seltsam zumute, während ich dies schreibe! Es klingt mir fremd. Mir ist, als ob eine zweite Stimme aus mir spräche, als ob neben meinem eigenen Ich noch ein anderes geistiges Wesen Herrschaft über mich habe, als ob – ja, so ist es – Herz und Vernunft zweierlei in mir geworden seien und sich nicht mehr berührten.

Doch – wo blieb ich stehen? Bei dem Brief an Heinrich! Ich zerriß ihn wieder, denn nachdem ich ihn beende hatte, sah ich die vorwurfsvollen Augen meiner Eltern vor mir, ich sah Heinrichs enttäuschten Blick. Zudem hat mir Papa Schweigen über die Geldangelegenheit auferlegt; ich darf also H. nicht einmal verraten, daß ich von der Sache weiß. Weshalb er wohl verlangt hat, daß die Eltern mir nichts mitteilen sollen? Welchen Zweck verbindet er damit? Einen eigennützigen, schlechten? Mir will das Gegenteil erscheinen, denn gerade meine Mitwissenschaft mußte mich seinen Plänen ja geneigter machen. Oder wollte er, während er durch diesen Freundschaftsdienst meine Eltern beeinflußte, verhindern, daß ich eine berechnende Handlung darin erkenne? Ach! was ich alles denke und grüble! Und wie wenig Ursache habe ich doch, so Ungünstiges von dem Manne zu glauben, der sich bewährt hat in den Zeiten der Not. – Wenn nur eins nicht wäre! Wenn ich eben erwogen, und wenn meine Überlegungen den Entschluß in mir befestigt haben, den Wunsch meiner Eltern zu erfüllen, tritt immer wieder vor meine Seele, er – ach er! den ich so grenzenlos liebe –

Ich wagte es nicht auszusprechen. Selbst diesen Blättern, auf die niemals ein fremdes Auge fallen wird, mein Geheimnis anzuvertrauen, scheue ich mich! Aber es erfüllt mein ganzes Inneres, und alles tritt dagegen zurück. Und eben darum will ich es dem Papier eingraben, was ich in mir verborgen gehalten, und was mich verzehrt hat seit dem Augenblicke, wo er Abschied nahm. Hier will ich meinem gepreßten Herzen Luft machen, hier will ich endlich einmal ablösen, was als eine unerträgliche Last auf meinem Herzen ruht, was mich als süßes, quälendes Geheimnis drückt, was nach Ausdruck, nach Befreiung ringt, was wie eine Krankheit in mir sitzt und mich schon halb verzehrt hat:

Bernhard, Bernhard! Ich liebe dich! Bernhard, Bernhard, ich liebe dich mit allem, was eine Menschenbrust erfüllen kann, mit allem Guten und Bösen, weil kein Opfer, das ich bringen könnte, mir zu groß erscheint, um dich zu besitzen, dir anzugehören für Leben und Tod! – – –

Mit diesem Tage aber lösche ich alles aus, was an Sehnsucht, Zärtlichkeit und Hoffnung für dich mein Inneres erfüllt hat.«

*           *
*

»Ich hörte, wie H. im Nebenzimmer mit den Eltern sprach, leise, mit gedämpfter Stimme, anders, als es sonst seine Gewohnheit ist. Endlich sagte er: »Ist sie drinnen im Nebenzimmer? – Gut, so will ich also selbst mit ihr reden.«

Seit einer halben Stunde saß ich unbeweglich, mit klopfendem Herzen und wartete. Die Eltern hatten mir gesagt, daß H. am Nachmittag selbst kommen würde, mich um mein Jawort zu bitten.

Als er eintrat, erhob ich mich und wollte ihm nach alter Gewohnheit entgegengehen, er aber eilte auf mich zu und rief: »Nicht so, teure Dora! Ich habe zu Ihnen zu kommen, und ich bitte Sie, zu glauben, daß es stets mein Bestreben sein wird, Ihnen ein aufmerksamer Freund, ein treuer und liebevoller« – hier stockte er, ergriff meine Hand und fuhr sanft fragend fort: »darf ich sagen – Gatte zu sein?«

Als ich nicht gleich zu antworten vermochte, denn halb rührte mich seine Zartheit, halb durchschauerte mich ein angstbangendes Gefühl, weil nun der entscheidende Augenblick vor mir stand, – nahm er abermals das Wort. Und während alles um mich her verschwamm, es mir plötzlich vor den Ohren sauste, meine Gedanken in fliegendem Hin und Her abirrten, sprach er nach meiner Erinnerung: »Ich weiß, teure Dora, daß Sie mir keine Gefühle entgegentragen können, wie Sie solche im gleichen Falle für einen anderen Mann beseelen würden. Das liegt zum Teil in dem Umstande, daß wir uns so lange kennen und miteinander ohne Nebengedanken verkehrt haben, zum Teil in dem Unterschiede der Jahre. Ich begreife und würdige dies durchaus. Sie mögen aus dieser Einsicht erkennen, wie sehr ich die Gunst schätze und das Glück empfinde, daß Sie die meinige werden wollen, und schon aus Dankbarkeit werde ich mich bemühen, Ihnen das Leben so befriedigend zu gestalten, wie meine schwachen Kräfte es gestatten. Von meiner innigen Liebe zu Ihnen spreche ich nicht. Sie wissen es, und sollten Sie es nicht wissen, bekenne ich Ihnen hierdurch, daß mich schon seit Jahren der Gedanke beherrschte, Sie und keine andere, liebe Dora, müßten die meinige werden. Darf ich also hoffen?«

Was er sagte, klang so einfach, so natürlich, so warm und ehrlich, daß mein Herz schmolz. Ich dachte gar nicht an den wichtigen Schritt, um den es sich handelte, – dazu war's in meinem Innern nicht klar genug – ich ward nur wohltuend berührt durch die bescheidene Art, in der er sich ausdrückte.

Und unter solchen Empfindungen wollte ich mich H. schon nähern und mich ihm zu eigen geben, als sich mir – ein furchtbarer Anblick bot. Nie, nie werde ich's vergessen! Es war mir, als ob sich alles plötzlich in mir umkehre. – Ich sah meine Eltern – ja, ich muß es so niederschreiben, denn es verhielt sich so – forschend, lauernd, mit gespanntem Gesichtsausdruck hinter der Tür stehen. Papa nickte den Worten Heinrichs beifällig zu, und ich las deutlich in seinen Mienen: So, so war es gut! Der Ton war der richtige, durch den wird sie –

Nein, ich schreibe es nicht nieder, was meine Augen in jenem Augenblick mich lehrten, was mich grausam drängt, noch weiter zu verfolgen –

Heinrich mußte meinen veränderten, schnell wechselnden Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er legte seinen Arm um mich und sagte weich und ängstlich: »Was ist Ihnen, teure Dora? Ist Ihnen nicht wohl?«

Und da stand mit einmal Sophie vor meinem Angesicht, und ich hörte abermals die Worte, die sie mir an jenem Tage zugerufen: »Wenn sie dir noch so viel zureden, tue es nicht!« Ein krampfartiger Schmerz umkrallte mein Herz. Schon wollte ich mich emporraffen und ihm zurufen, nein, zuschreien: »Nein! Nein! Ich kann nicht, ich kann nicht! – Ich will nicht – ich darf nicht! Um der Barmherzigkeit Gottes willen laßt mich!« – als schon Heinrich mich an seine Brust gedrückt, mich heftig geküßt und den hinzutretenden Eltern zugerufen hatte: »Hier ist meine kleine, süße Braut! Aber nun wollen wir ihr Ruhe geben. Es hat sie stark bewegt. Nicht so, liebe Schwiegermama? Sie nehmen sich ihrer an? Kommen Sie, verehrter Freund, wir ziehen uns zurück.«

Eine Sekunde später waren Mama und ich allein; ich sank ohnmächtig in ihre Arme und hörte noch, wie sie sagte: »Was ist dir, was ist dir, meine gute, teure Dora. – Werde nur nicht krank, mein liebes Kind. Es ist ja ein großer, wichtiger Tag, ein Freudentag für uns alle.«

Und während das Wort Freudentag mir immer vor den Ohren summte, – ich mußte es gegen meinen Willen fortwährend vor mich hin flüstern, – schwanden mir die Sinne, und ich erwachte erst wieder aus Ohnmacht und Schlaf unter Mamas liebevoller Sorge.

Und so bin ich denn Heinrichs Braut geworden.«


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