Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Sechstes Kapitel.

Als die Familie Paulsen einige Wochen nach dem Erzählten morgens beim Frühstück saß, brachte der Postbote einen Brief, dessen Inhalt wenigstens Dora in große Spannung versetzte.

Der Physikus hatte in Mecklenburg einen einzigen Bruder wohnen, der dort ebenfalls Arzt war, von dem er aber selten und in den letzten Jahren so viel wie nichts gehört hatte. Dieser meldete nun den Besuch seines Sohnes mit folgenden Worten an:

»Lieber alter Herr, und liebe junge, schöne Frau! Der Unterzeichnete ist am hiesigen Orte Arzt. Er hat sogar einen Titel, erfreut sich eines guten Leumunds, besaß einst eine liebe Frau, die dahingegangen ist und tröstet sich nun durch einen einzigen Sohn, auf den er alle seine Hoffnungen setzt. Befinden und Laune sind gut; das Verwandtschaftsgefühl ist sehr stark in ihm ausgeprägt, obgleich er keine Briefe schreibt. Er nennt sich Paulsen und ist Ihr Bruder und Schwager.

Wollen Sie, allerwertester Herr Physikus, beregten jungen Studenten, der demnächst auf einer Vergnügungsreise bei Ihnen erscheinen wird, in Ihren freundlichen Schutz nehmen?

Sollte Sie, lieber alter Herr, Ihre Frau inzwischen noch mit Kindern beschenkt haben – (Na, na, brummen Sie nur nicht so unwillig auf! Ich finde, daß das Geschlecht Derer von Paulsen lange nicht genügend auf diesem Erdball vertreten ist), – dann wollen Sie meine besten Wünsche für dieselben entgegennehmen; sonst bitte ich, der kleinen, einzigen Dora, deren reizendes Kinderbild über meinem Schreibtisch hängt, meine väterlich liebevolle Gesinnung zu übermitteln.

Und nun Gott befohlen! Ich bin eilig; draußen im Vorzimmer wartet einer, der sich beim Lachen in die Zunge gebissen hat, und dem ich ein Tränklein verordnen muß. Ich werde ihm etwas Himbeerwasser verschreiben. Sie lachen, Herr Physikus? Nun, der Glaube tut's doch in unserem Beruf! Ist's nicht so?«

Als Dora bald darauf an einem Spätabend aus einer kleinen Gesellschaft zurückkehrte, fand sie einen jungen Herrn mit lebhaften Augen und einem lustig übermütigen Ausdruck in den Zügen bei ihren Eltern im Wohnzimmer sitzen. Sie war bei der Familie von Tapp gewesen, wo in alle Stühle und Sofakissen ein Wappen eingestickt war. Gewiß, sie hatten nicht viel, die Tapps, aber etwas Besonderes war's doch!

Als sie Hut und Mantel nach ihrer mitunter etwas flüchtigen Art auf einen Stuhl gelegt hatte und gerade ihr kleines Plaudermäulchen in Bewegung setzen wollte, sprang der Besuch vom Stuhle auf.

»Dein Vetter Bernhard!« erklärte der Physikus schmunzelnd, und Mama Paulsen sah mit Befriedigung halb auf ihre hübsche Dora, halb auf den offenbar von deren Erscheinung höchst angenehm berührten Verwandten.

Bernhard aber schüttelte Dora die Hand und gab ihr sogar mit einem: »Freue mich außerordentlich, liebe Kusine«, einen herzhaften Kuß auf die Wange.

Dora wurde puterrot, aber gerade diese Form der Begegnung benahm ihr eine gewisse Unsicherheit, die sich ihrer bei dem Gedanken an den Besuch bemächtigt hatte.

Bernhard erwies sich als ein ebenso aufgeweckter wie liebenswürdiger Mensch. Er sprudelte von Lust und Laune, und nie hatte sich Dora von der Vortragsweise eines Menschen so angezogen gefühlt, und nie erinnerte sie sich, so gelacht zu haben, wie an diesem Abend. Zwar dem Humor ihres Vetters war ein gewisser Sarkasmus beigemischt, aber der erinnerte sie an Herrn Heinrich. Er schien allen gescheiten Leuten eigen zu sein.

»Ein Teufelskerl, der Bernhard!« sagte der Physikus beim Schlafengehen zu seiner Frau. »Gefällt mir außerordentlich, ganz außerordentlich!«

Frau Paulsen nickte und seufzte. Was geht nicht alles in einem Mutterherzen vor! –

»Es ist die schönste Zeit meines Lebens!« schrieb Dora acht Tage später in ihr Tagebuch. »Wir kommen nicht aus dem Vergnügen heraus. Am Morgen nach Bernhards Ankunft fuhren wir auf dem Wasser. Er kann alles! Er kreuzte an der Schiffsbrücke so geschickt mit unserem Zweisegler hin und her, daß die Leute am Ufer stehen blieben. Und alles führt er mit solcher Sicherheit aus, daß man nicht die geringste Furcht empfindet. – Abends waren wir im Freien (Kiels Biergarten). Ich war etwas verstimmt; ich weiß selbst nicht, weshalb. Bernhard sprach mit Papa über medizinische Dinge und brauchte so viel lateinische Wörter, daß ich wenig verstand. Er soll für sein Alter sehr weit sein!

Am nächsten Tage waren wir in Dornkrug. Es war reizend. Ich hatte mein helles Schottisches an; Bernhard machte mir viele Komplimente wegen meines hübschen Aussehens. Vorgestern mit dem Dampfschiff nach F. Die Musik spielte; es war prachtvolles Wetter. Ich verlor meine kleine Brosche, die von Mama. Ich hab's ihr noch nicht gesagt. Bernhard wollte mir eine neue schenken, hat's aber nicht getan.

Er trug eine flott gebundene, blaue Krawatte, die ihm famos stand! H. war dabei und unausstehlich! (Dieses Wort war zweimal unterstrichen.) Er behandelte Bernhard sehr von oben herab.

»Dieser Mixturknabe scheint ein sehr eitler Patron zu sein«, sagte Bernhard. Na, wenn H. das gehört hätte!

Mama äußerte sich auch abfällig über H., Papa ist ja immer so phlegmatisch bei dergleichen.

Spielt der Bernhard aber Klavier! Wundervoll; geradezu entzückend! Als er in F. im Wirtshause zum Tanz begleitete, flogen wir nur so dahin. Und er tanzt! Ach, er ist ein himm – Mensch!

Nachschrift: Mama sagte mir heute, ich möchte mich nicht so gehen lassen, mich etwas gesetzter benehmen. Wieder Szene mit Mama! Wenn ich mir doch meine schreckliche Empfindlichkeit abgewöhnen könnte; sie verbittert mir das Leben!

Eben kam mein neuer Sommerpaletot! Sehr hübsch! In der Taille noch etwas weit. Bernhard fand ihn entzückend!

Vier Wochen wollte der Vetter bleiben, und nun waren schon vierzehn Tage dahin. Dora flogen die Stunden im Verkehr mit ihm, der immer etwas Besonderes vorhatte und jedem Dinge besondere Seiten abzugewinnen wußte.

Im Nu brachte er die verwandten Elemente zusammen, veranstaltete Ausflüge, nahm alles in die Hand, war geschickt, diensteifrig und liebenswürdig, und eroberte sich im Sturm die Herzen der Familien, mit denen Paulsens verkehrten. Nie war er um etwas verlegen; er kannte die neuesten Gesellschaftsspiele und Kotillontouren, riß die Trägsten und Gleichgültigsten mit fort, und wenn einmal der Regen einen Ausflug stören wollte, so wußte er einen Ausweg. Man unterhielt sich dann im bedeckten Raum fast noch besser.

Eines Tages forderte Bernhard Dora auf, mit ihm die Domkirche zu besehen; alles mußte er in Augenschein nehmen!

»Bitte warte, ich hole den Küster!« rief er ihr vor dem Kirchenportal zu und lief in das Haus, als ob er in Kappeln jeden Schritt und Tritt kennte. Als er mit dem dienstfertigen Alten herankam, hörte Dora ihn von den Sehenswürdigkeiten der Kirche sprechen. Er schien den Küster zu belehren, denn dieser horchte hoch auf.

Nachdem sie das Innere des Gotteshauses in Augenschein genommen hatten, wollte Bernhard noch den Turm besteigen, und Dora fand diesen Einfall trotz der vielen Stufen, die zu erklimmen waren, himmlisch!

»Schließen Sie nur nachher selbst die Tür ab und bringen mir den Schlüssel hinüber«, antwortete der Küster, nachdem er sie unterwiesen hatte, und nahm langsam den Weg durch die kühle, hellschallende Kirche wieder zurück.

Es war Dora eigentümlich zumute, als sie sich mit ihrem Vetter allein in dem großen, weiten Raum befand; fast war es ihr unheimlich trotz des hellen Tageslichts.

»Mit deiner Erlaubnis gehe ich voraus!« sagte er, die steinerne Wendeltreppe emporsteigend, zwischen deren Wänden es modrig roch, und auf die durch länglich schmale Öffnungen nur ein spärliches Licht herabfiel.

»Kommst du nach? Verpuste dich. – Wir haben ja keine Eile«, mahnte Bernhard liebenswürdig.

Dieser Zuruf war Dora sehr recht. Sie war schon völlig außer Atem.

Zuletzt wurde es beim Hinaufsteigen ganz dunkel. »Wir müssen gleich oben sein«, betonte der Vetter in seiner bestimmten Weise. »Halt!« Nun standen sie im Finstern. Dora hörte, wie Bernhard mit den Händen über sich tastete. Dann rief er: »Hier ist die Luke, die muß ich erst aufstoßen. Bitte, setze dich solange, Dora.«

Er dachte in seiner Umsicht an alles. Sie setzte sich in der Tat, und als gar kein Licht erschien, wollte sie ihn schon auffordern, lieber wieder hinabzusteigen. Da sagte er:

»Halt! jetzt hab' ich's. Hier ist ein Haken; nun wird's gleich werden! –«

Wirklich stieß er die Luke zurück. Eigentümlich duftender, hustenerregender Staub flog auf, und helles Licht strömte durch die Öffnung.

Aber doch gab's noch einiges zu überwinden! Der Raum war nur sehr schmal, so daß kaum eine Person zurzeit an dem runden Umfassungsgitter entlang gehen konnte. Es galt sodann eine ziemlich steile, freischwebende eiserne Treppe emporzusteigen, um auf die eigentliche Plattform des Turmes zu gelangen, die breit und geräumig war.

»Nein, nein, Bernhard! Da traue ich mich nicht hinauf!« rief Dora, die sich wunderte, daß sie der Küster auf so gefahrvolle Dinge nicht aufmerksam gemacht hatte. Es rieselte ihr angstvoll durch den Körper, als sie in die Tiefe schaute. Sie wollte zurück.

»Ich bitte dich, steige mit hinauf. Ängstige dich nicht! Sieh doch, es ist ja ein festes Geländer angebracht. Reiche mir die Hand. Du kannst nicht fallen.«

Noch immer zögerte sie.

Aber wenn Bernhard sich etwas vorgenommen hatte, mußte es durchgesetzt werden, und tausend Mittelchen standen ihm für die Ausführung seiner Ideen zur Verfügung.

»Tu's mir zuliebe, Dora!« bat er weich und mit starker Betonung.

Dieser Anruf hatte in der Tat die beabsichtigte Wirkung. Dora glitt erst mit ihrem Tüchelchen über die heiße Hand und reichte sie dann Bernhard, der sich nun mit der Linken an dem Geländer festhielt und mit der Rechten seiner Base behilflich war.

Ihre Knie zitterten; ein vorübergehender Wind kam auf und erfaßte ihre Kleider. Der Sommerhut flog ihr in den Nacken. Sie bedurfte ihres ganzen Mutes, um auszuharren und nicht jetzt noch um Rückkehr zu bitten. Aber dann noch ein starker Ruck – und sie waren oben. – Hier verließ zwar Dora die Beklemmung, aber sie stand doch noch tiefaufatmend da, und Bernhard guckte ihr mit einem belobenden »Bravo!« liebewarm in die Augen.

»Ist dir sehr sauer geworden, Dor! Wie?« sagte er, ihren Namen abkürzend. »Du hast dich brav gehalten und sollst auch belohnt werden. Komm! Bitte!«

Sie blickte hinab. Drunten auf dem Kirchplatze spielten die Kinder im Sande. Sie sahen aus wie Zwerglein. Das eine hatte ein rotes Tuch umgebunden. Die leuchtende Farbe wirkte überaus reizvoll und belebte das anmutige Bild.

Die Straßen, die Gassen sahen geradlinig und abgezirkelt aus; die hoch emporragenden Dächer der nähergelegenen Häuserreihen reckten sich wie in erstarrter Bezauberung empor, und alle ihre Unebenheiten hoben sich bis auf den unter den Dachpfannen hervorgequollenen, zu weißem Stein gewordenen Mörtel scharf in der durchsichtig heißen Glut ab. Hier und dort war ein Giebelfenster geöffnet, flatterte, vom Zugwind heftig bewegt, ein weißer Vorhang, und es ward einem bange um das gefährdete Topfgewächs, das auf der Fensterbank stand. Auf einem hohen, verwitterten Schornstein klapperte ein Storch. Der harte Ton klang laut und hell zu ihnen empor. Stetig drang auch ein dumpfes Klopfen und Hämmern von der Schiffsbrücke herüber, und ein andermal erschreckte sie das sausende Geräusch einiger die Luft in raschem Fluge durchschneidenden Schwalben.

Die Landstraßen vor der Stadt erschienen weiß angestrichen, die langen Alleen glichen den kleinen Bäumchen einer Nürnberger Spielwarenschachtel, und ebenso winzig stellten sich die Fuhrwerke und Reiter dem Auge dar, obgleich man bei näherem, aufmerksamem Beobachten das eifrige Forteilen der Tiere zu erkennen vermeinte. Und überall zwischen roten Dächern, helleren Mauern und dunkleren Ecken lebendiges, reizendes Baumlaub, und drüben in der Ebene Äcker, Wiesen und Wälder in malerischer Abwechselung; alles in weiter Ferne sichtbar, deutlich begrenzt, oft wie abgezirkelt. Dazwischen Gehölze, die wie grüne Moosbeete erschienen und ihnen zu seiten, herrlich in der blauen Luft sich abzeichnend, gerade emporsteigende, weißschimmernde Rauchsäulen aus Hütten und Gehöften. So weit das Auge reichte, eine entzückende Welt, jene wunderbar liebliche Einfachheit norddeutscher Fluren mit ihren bunten Feldern, grünen Wiesen, schimmernden Bächen und Flüßchen, deren berückendem Zauber man sich nicht zu entziehen vermag.

»O wie himmlisch, wie wunderbar!« rief Dora. »Das erst heute gesehen zu haben! Wie viele würden heraufsteigen, wenn sie wüßten, wie unbeschreiblich schön es ist!«

Während sie sprach, legte sich ein leiser Wind um ihre Stirn. Die blonden Härchen auf ihrem Scheitel und an ihren Schläfen sprühten auf, und jedes schien golddurchwebt. Noch nie fand Bernhard seine Verwandte so schön, wie heute. Die den Blondinen eigene Farbe, jene holde Mischung von sanftem Weiß und Rosenrot, verschönte ihr Antlitz, und ihre blauen, treuen Mädchenaugen senkten sich verwirrt, als Bernhard, von ihrem Anblick hingerissen, sie lange zärtlich anblickte.

»Wie grausam, daß gerade diejenigen Menschen so selten beieinander bleiben dürfen, die zueinander gehören!« stieß er, wie mit sich selbst redend, und doch seine Worte in leisem Hoffen an sie richtend, heraus.

Sie wollte etwas erwidern, aber ihr versagte die Stimme.

»War's nicht nett, Dor? Waren die Tage und Stunden, die wir zusammen verlebten, nicht schön?«

Sie hielt die Augen zu Boden gesenkt und neigte das Haupt.

»Und nun ist's bald vorüber, und wer weiß, kleine Dor, ob wir uns jemals wiedersehen.«

Sie nestelte an ihrem Strohhut, den sie in die Hand genommen, und zupfte an den kleinen, kurzen Randfäden, die sich herausgedrängt hatten.

Und wie sie so vor ihm stand in ihrer reizenden Befangenheit und jungfräulichen Schönheit, ergriff's den Vetter, und indem er sich rasch umschaute, ob die singend um den Turm schwebenden Vögel auch unerbetene Zuschauer seien, sagte er zärtlich und weich:

»Wirst du bisweilen an mich denken, wenn ich fort bin, Dor, liebe Dor?«

Sie vermochte noch immer nicht zu antworten, aber ihr Kopf war in heftiger Bewegung, und noch mehr ihre blauen Augen, aus denen es unaufhaltsam tropfte. Und ehe er es recht begriffen hatte, war sie weit ab von ihm und schaute über die Dächer in die Ferne. Ein Sommerklingen ging durch die Luft. Der blaue Äther stand regungslos, und die Schönheit spendende Sonne legte einen breiten Goldgürtel auf den Spiegel der nahegelegenen Meeresfläche.

Bernhard bemerkte von all den Herrlichkeiten nichts, wohl aber sah er, daß ein weißes Tüchlein sich hob und senkte; sie drückte es gegen die stillen, sanften Augen, an denen sein Blick noch eben sehnsüchtig gehangen hatte. Und da hielt's ihn nicht länger, es wogte durch seine Brust:

»Dor! Meine einzige Dor!« rief er und lief auf sie zu.

Und sie ließ es geschehen, daß er sie stürmisch umfaßte, und während ihre jugendlichen Wangen sich aneinander schmiegten, wiederholte er dieselben zärtlichen Worte, die ihr mit unaussprechlich süßem Schauer durch die Seele drangen. –

Vetter Bernhard war abgereist. Was sich an den letzten beiden Tagen noch ereignet hatte, zeichnete Dora in ihr Tagebuch auf:

Gestern fand nun das so lang vorbereitete Picknick nach Rotensande statt. Der Himmel sah am Morgen nicht gnädig aus, und wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, aber Bernhard rief: »Sorgt euch nicht! Ich habe geheimen Kontrakt mit dem Himmel! Es muß gut werden!« Und es wurde auch prachtvoll!

Um dreieinhalb Uhr gingen wir an die Schiffsbrücke und bestiegen die Boote und Kähne. Wir hatten guten Segelwind, so daß wir nach dreimaligem Kreuzen in Rotensande landen konnten. In unserm Boote saßen Herr Heinrich, Franzius und Blanca, Leo Kuchen, Referendar Fuchs, der junge Tach, Senator Ellisen, Papa und ich. Ich wäre schrecklich gern in den großen Zweisegler eingestiegen, in dem Bernhard steuerte; aber als ich noch zauderte, wohin ich mich wenden sollte, sagte H.: »Na, liebe Dora, darf ich heute das Vergnügen haben, neben Ihnen zu sitzen? Ich muß ja jetzt der Gelegenheit förmlich nachjagen, um einmal in Ihre Nähe zu gelangen.« Da in diesem Augenblick Franziussens ewiger Bello ins Boot gehoben wurde, unterbrach er den Satz, und wir wurden auch später beim Sitzen getrennt. Seine Reden gingen natürlich auf Bernhard; den kann er in den Tod nicht leiden.

Die beiden kamen beim Abendbrot noch ziemlich heftig aneinander, aber ich merkte, wie sich die übrigen freuten, daß H. abgetrumpft wurde. Nachdem Bernhard bereits den Lagerplatz aufgesucht hatte und wir schon beim Auspacken waren (die sechs silbernen Teelöffel haben sich richtig nicht gefunden; Mama ist in sehr schlechter Laune darüber), und Feuer angemacht war, schlug H. plötzlich einen anderen Ruhepunkt vor, holte sich die beiden Referendare und schleppte einen Teil der Sachen nach dem kleinen Sandhügel gleich vorn im Walde.

Ich sah, wie Bernhard das Blut in den Kopf schoß, hörte aber, wie er zu den übrigen sagte: »Ich bin hier Gast; ich habe mich zu fügen.«

Später wurde irgendein wissenschaftliches Thema behandelt, und H. und der Vetter verfochten beide gleich hartnäckig ihre Ansicht. Und dann, ich weiß nicht, wie es so kam, sagte Bernhard als Erwiderung auf eine sehr wenig artige Bemerkung H's. in maliziösem Ton: »Ja, es ist allerdings bedauernswert, Herr Heinrich, daß der liebe Herrgott nicht lauter Menschen geschaffen hat, die Ihnen gleichen! Die Welt würde dann vollendet sein. –«

H. biß sich auf die Lippen, aber er erwiderte nichts und hat den ganzen Abend auch kein Wort mehr mit Bernhard geredet.

Sonst war es riesig nett und heiter, und die Rückfahrt im Mondschein war himmlisch.

»Den letzten Abend, den ich hier bin, will ich doch bei dir sitzen, Dor«, sagte Bernhard, kurz bevor wir abfuhren. »Laß uns nur aufpassen, daß der Kinderpulverfabrikant nicht in unser Boot steigt.«

Wir sangen unterwegs und machten allerhand Unsinn. Bernhard war furchtbar ausgelassen und unterhielt die ganze Gesellschaft mit seinen Einfällen.

Als wir die Hafenbucht erreichten, kam ein scharfer Wind auf. Bernhard deckte mich mit seinem Mantel zu. Ach, wie reizend war er! Nächstes Jahr will er wiederkommen. Ob er wohl Wort hält? Ich weiß nicht, woher es kommt, aber mir ahnt, daß wir uns nie wiedersehen werden. – – –

Am nächsten Tage um sechs Uhr mußte Bernhard abreisen; um vier Uhr saßen wir noch in der Veranda beim Kaffee zusammen.

»Willst du mich begleiten, Dor? Ich muß vom Garten Abschied nehmen«, sagte er.

Wir gingen hinaus. Papa und Mama folgten langsam. Als wir unten am Staket standen und nach dem Wasser hinüberblickten, überreichte mir Bernhard einen reizenden, mit einem kleinen Vergißmeinnicht geschmückten Ring und bat mich, ihm auch ein Andenken zu schenken.

Ich habe nichts, stotterte ich verlegen.

»Überall wachsen Blumen! Schenke mir eine, Dor!«

Ich stand noch unschlüssig da. Schon hörten wir die Schritte der Eltern nahen. Bernhard zeigte auf ein Resedabeet und drängte, daß ich ihm einige Blüten abpflücken möchte.

Ich bückte mich hinab und tat, wie er wollte. Ein angstvolles Abschiedsgefühl quälte mich und trieb mir die Tränen in die Augen.

Da sagte er: – und ach! noch immer klingt's mir wie herrliche Musik in den Ohren! – »Nur eine Blume vereinigt alle Wohlgerüche in sich, und das ist Reseda! Und ebenso gibt's nur ein einziges, kleines Mädchen auf der Welt, in der sich alles zusammen findet, was schön und liebreizend ist, und das ist meine liebe, liebe Dor!«

Ein Zittern flog über meinen Körper, es klang so süß, so süß! – – Und als ich ihm die Blumen gab, drückte er sie an den Mund, trat ganz nahe an mich heran und wollte – Schändlich! da kamen gerade die Eltern! – –

Ich habe gestern furchtbar viel geweint, und die Eltern waren sehr ungehalten! Nun fort mit den Torheiten, sagte Mama, es ist ganz gut, daß der junge Mensch abgereist ist. Man kam ja gar nicht mehr zur Besinnung. und für dich sind solche Dinge Gift!

Die schöne, unvergleichliche Zeit! Nun ist alles vorbei! – Wie ist es doch schade, daß dasjenige, was uns am meisten gefällt, eigentlich stets ein Unrecht ist! Wie oft habe ich schon darüber nachgedacht! –


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