Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Die nächsten Tage waren für Tibertius und alle Beteiligten sehr ereignisvoll. Frau Lassen hatte Herrn Heinrich endlich gesprochen, und was sie aus dessen Munde über ihren künftigen Schwiegersohn gehört hatte, war nichts weniger als ermutigend für sie gewesen. Der Apotheker hatte erklärt, daß er eine Verbindung mit dem Provisor für eine Torheit halte, da er nichts besäße und mit Geld nicht umzugehen wisse. Er sei ein unpraktischer Phantast, und ihm ein Kapital anzuvertrauen, halte er für mehr als bedenklich. Wenige Jahre, und alles werde dahin sein! Unter der Leitung einer erprobten Persönlichkeit, als Mitarbeiter, sei er verwendbar, aber nimmermehr als selbständiger Geschäftsmann. Im übrigen könne er ja selbst nur nach seinen Eindrücken urteilen; er ersuche daher, die Äußerungen lediglich als seine persönlichen Ansichten aufzufassen und nicht danach zu entscheiden.

Die alte Frau, die schon weicher und nachgiebiger geworden war und so niedergeschlagene Berichte denn doch nicht erwartet hatte, kam dabei gänzlich aus der Fassung. Sie dankte, knickste und ging. Auf der Gasse bemächtigten sich ihrer die widerstreitendsten Empfindungen. Einmal triumphierte sie! Sie hatte also mit ihrer Ahnung recht gehabt. Es war gut, daß sie Heinrich gesprochen hatte! Und dann trat ihr doch wieder das traurige Gesicht ihrer Tochter vor Augen, und sie grollte dem Auskunftgeber. Ja, einen Moment haßte sie ihn, denn der armen Christine hatte er mit keiner Silbe gedacht.

Zuletzt fühlte sie in dem Schwanken zwischen Zweifeln und Liebe einen brennenden Schmerz im Innern. Sie kannte Christinens Charakter. Bestand sie auf ihrem Willen, so half alles nichts. Der Frau ahnte ein Unglück, wenn sie Widerstand leistete. Schon sah sie sich ihrer Tochter entfremdet und als alte Frau einsam und ungeliebt in ihrem kleinen Häuschen sitzen.

»Tach muß mir raten. Ihn muß ich sprechen,« entschied sie, ihre schweren Gedanken niederkämpfend, zuletzt, und wandte sich zu dem Kontor des Advokaten.

»Ah, Madame Lassen! Seltener Besuch! Nun, was führt denn Sie zu mir?« fragte der kleine Mann in seiner breiten, aus dem Plattdeutschen herübergenommenen Mundart. Dabei schob er ihr einen Stuhl an seinen Arbeitstisch, winkte einem anwesenden Schreiber, sich zu entfernen, und schraubte die nur spärliches Licht verbreitende Lampe höher. Das kleine Gemach war angenehm erwärmt. Es duftete qualmig säuerlich vom vielen Tabakrauchen, hatte aber trotzdem etwas Gemütliches. Alle Wände waren bedeckt mit Bildern oder verstellt mit Repositorien und Schränken.

Der Advokat ließ Frau Lassen sprechen und hörte ihrer langen, umständlichen Erzählung ohne Unterbrechung zu. Während sie redete, schob er nach seiner Gewohnheit den Kopf hin und her und drückte das Unterkinn auf die hochsitzende Krawatte. Der Bart wuchs bei ihm tief unten am Halse und kratzte stets, er scheuerte ihn deshalb gern.

Als sie geendigt hatte, sagte er:

»Ja, was soll ich da viel sagen? So weit man hört, soll der Provisor ein ordentlicher Mann sein, natürlich etwas sonderbar wie häufig die Apotheker, aber – aber« – Und nach kurzem Besinnen fuhr er fort: »Haben Sie denn Herrn Heinrich schon gesprochen? Fragen Sie den doch! Der kann ja die beste Auskunft geben!«

»Bin ich ja gewesen« – preßte die Alte heraus, und, ein vierkantig zusammengefaltetes, weißes Schnupftuch hervorziehend, wischte sie sich mit dem Rand über die von der Kälte tränenden Augen. »Er rät ab! Er meint, Tibertius könnte kein Geld bei sich behalten. Er wäre gar nicht imstande, eine eigene Wirtschaft zu führen.«

»So! So! Das klingt ja gerade nicht einladend. Na, aber Heinrich ist immer superklug. Das will nicht viel sagen. Wenn der Mann sonst tüchtig im Dienste anderer ist, weshalb sollte er es nicht in seinem eigenen Interesse sein? Glauben Sie nur, wenn er nicht zu gebrauchen wäre, hätte Heinrich ihn schon lange weggeschickt.«

»Er hat ihm ja gekündigt, lange bevor der Provisor bei uns ins Haus kam,« erwiderte die Alte stark betonend. »Da muß doch was vorgefallen sein.«

»Und Ihre Tochter?«

»Sie kann nicht von ihm lassen. Sie will durchaus!«

Der Advokat sann einen Augenblick nach. Der Hals war abermals in heftiger Bewegung; auch schob er den widerspenstig sich aufbauschenden und aus der Weste hervortretenden Kragen wiederholt zurück und sagte endlich:

»Na, wenn Christine bloß ihre Zinsen mit in die Ehe bringt, können die Leute ja schon bequem leben. Können Sie das nicht ausmachen, wenn er wirklich so unpraktisch ist?«

Ein Schreiber trat herein und bat um Unterschriften, die eilten. Während Tach mit krummen Fingern seinen Namen malte, saß die Alte ratlos da und grübelte.

»Nun?« hub der Advokat, nach getaner Arbeit den Stuhl wieder nach ihr umwendend, an. »Was meinen Sie?«

»Da läßt sich Christine nicht auf ein.«

»So? Ja, hindern können Sie die Heirat ja doch überhaupt nicht, Frau Kapitän!«

Tach gab Frau Lassen jetzt absichtlich einen Titel. Solche unscheinbare Kniffe hatte er stets bei der Hand. Durch derartige Kleinigkeiten brachte er seine Klienten leichter auf seine Seite und kürzte die sonst langen, nutzlosen Gespräche. Er täuschte sich auch diesmal nicht, denn Frau Lassen sagte:

»Ich weiß, ich weiß; und Sie haben ja auch ein Wort mitzureden. Aber soviel ist gewiß, ich geb' ihm kein Kapital ins Geschäft. Was mein guter seliger Mann mühsam zusammengespart hat, darf nicht verschleudert werden. Wovon soll ich hernach denn auch leben?«

Eine kleine Gesprächspause trat ein. Tach nickte kurz, machte sich an seinem Pulte zu schaffen und schlug sinnend mit der Papierscherenspitze auf seine Akten. Endlich sagte er:

»Ich will Ihnen etwas vorschlagen, Frau Kapitän. Schicken Sie mir den Provisor einmal her. Vielleicht braucht der Mann das Kapital gar nicht. Was will er denn anfangen? Kennen Sie seine Absichten?«

Die Alte bewegte lebhaft den Kopf, besann sich aber plötzlich und suchte, statt zu antworten, in einer Tasche, die in einem unter dem Kleid sitzenden schwarzen Orleans-Rock eingenäht war.

»Gott, Gott! habe ich meinen Geldbeutel verloren?« Sie hob das eben fallen gelassene Kleid in die Höhe, griff in die Falten und zuletzt in ihre Manteltasche. »Ne, ne, ich hab' ihn. Gott sei Dank! – Sie meinten? – Ich kriegte schon Angst. – Ja, so! Das ist es ja gerade, er will partout eine Fabrik anlegen. Ich weiß nicht, was für eine, ich verstehe die fremden Wörter nicht.«

»Also er rechnet auf das Geld Ihrer Tochter?«

Frau Lassen zuckte die Achseln. Tatsächlich war die Angelegenheit zwischen ihr und Tibertius noch gar nicht berührt worden. Sie vermutete nur aus seinen früheren Reden, daß ihre Voraussetzungen zutreffen würden.

»Hm – hm! Na, lassen Sie ihn nur mal herkommen,« entschied der Advokat. »Ich werde mit ihm sprechen und ihnen dann Bescheid geben.«

Die Alte fragte noch allerlei. Endlich aber stand sie auf und hob das Ende ihres bis an die Füße reichenden, beim Eintritt von ihr aufgeknöpften Mantels empor und machte sich dabei zu schaffen. Und dann ließ sie ihn wieder fallen und ging an die obersten Knöpfe, bis sie an den letzten, mittelsten kam. Nachdem diese schwierige Arbeit vollendet war, reichte sie ihrem langjährigen Berater die Hand zum Abschiede.

»Ach, bester Herr Tach, verlassen Sie mir bloß nicht,« sagte sie. »Es gilt doch Christinens Lebensglück. Die Reue kommt zu spät. Ich kenne das. Nachher wird sie es uns vielleicht danken.«

Der Advokat beruhigte die alte Frau, sprach, um sie auf andere Gedanken zu bringen, noch eine Weile über ihre Gesundheit, und dann, die Tür nach dem Kontor öffnend: »Leuchten Sie doch mal Frau Kapitän draußen, Karl! – Nehmen Sie sich in acht, Frau Lassen. Sie wissen ja, es sind zwei Stufen.« – Dann winkte er ihr noch einmal zu, eilte geschäftig in sein Zimmer zurück und begab sich wieder an die Arbeit.

Als die Alte nach Hause kam – es war gegen sieben Uhr –, streifte sie den Physikus. Er stand mit Christine plaudernd im Flur.

»Ah, da ist ja Ihre Frau Mutter!« stieß Paulsen lebhaft heraus und trat ohne Aufforderung ins Wohngemach. Nachdem das Krankheitskapitel erledigt war, ging Doras Vater alsbald aufs Ziel und brachte nach einem geschickten Übergange das Gespräch auf Tibertius.

Dora war in ihn gedrungen, sich der Sache anzunehmen, und nach mancherlei Hin- und Herreden und anfänglichem Widerstand hatte er sich dazu bewegen lassen. Christine verließ, wie von ungefähr, das Wohnzimmer, und die beiden Alten waren allein.

»Also, meine Gratulation zu dem freudigen Ereignis, beste Frau Kapitän!« hub er an. »Wir haben uns sehr gefreut, meine Frau und ich. Möchte denn alles zum Guten ausschlagen.«

»Ja, möchte es das!« erwiderte die alte Frau seufzend. »Übrigens sind wir so weit noch lange nicht, Physikus. – Ich – ich – habe meine Zustimmung bis jetzt nicht gegeben –«

»Wie, was?« schaltete Paulsen befremdet ein. »Sie haben noch nicht eingewilligt? Weshalb denn nicht? Ich denke, alles ist in schönster Ordnung? Was ist denn im Wege?«

»Ik mag de Minsch nicht,« erwiderte sie, die Stimme senkend und ihre kleine, knöcherne Hand auf des Physikus' Arm legend. »Ich hatte es ja ganz gern, wenn er hier abends so ab und zu mal herkam. Na ja, er ist ja soweit auch ein ganz ordentlicher Mann« (sie sah den mißbilligenden Ausdruck in Paulsens Gesicht und gab nach) »aber von jeher mochte ich keine Apotheker nicht leiden, und dieser, dieser –«

»Nun?« heuchelte der Physikus fragend.

»Es ist man so ein halber Mann. Er ist wie ein Stör. Das sind Fische mit Hühnerfleisch – – Na, Sie wissen ja, auch trau' ich ihm geschäftlich nichts zu.«

»Wer kann das sagen?« unterbrach Paulsen sie. »Warum sollte er nicht ebensogut seine Sache verstehen wie jeder andere? Und was ihre Abneigung anbelangt, Sie sollen ihn doch nicht heiraten.«

»Na, halb und halb doch –«

»Wieso?«

»Wenn er Christinens Mann wird, gehört er zur Familie; da hab' ich fast ebensoviel von ihm wie sie.«

»Er ist aber doch ein sehr ordentlicher, bescheidener Mann; Christine liebt ihn. Auf ihre Wünsche müssen Sie doch Rücksicht nehmen, und am Ende, wenn sie will, was wollen Sie da machen?«

»Hat sie mit Ihnen gesprochen?« forschte die Alte eifrig.

Der Physikus nickte zustimmend.

»Na?« Hier senkte sie die Stimme und warf einen raschen Blick auf die Tür. »Was sagt sie?«

»Sie sagt, sie nimmt ihn auf alle Fälle.«

»So? Das sagt sie?«

Die Alte ballte die Hand, legte sie auf den Tisch und sah stumm vor sich hin. Dann brach sie wieder das Schweigen.

»Und Sie meinen, daß er ein tüchtiger Mann ist? Ich kann es mir nicht recht denken. Wenn man so alt ist und noch nichts vor sich gebracht hat! Na, sagen Sie selbst, Physikus –« (sie ließ stets den Herrn weg. wenn sie mit ihm sprach), »ist es nicht auffallend?«

»Nein, beste Frau Kapitän; es ist im Gegenteil ein Beweis, daß der Mann vorsichtig überlegt, bevor er handelt. Und wenn er Junggeselle blieb, – nun, er fand bisher nicht die Rechte! Jetzt hat er sie!«

Die Alte sann nach.

»Und das seh' ich sicher kommen,« sagte sie dann. »Ich werde hier ganz vereinsamen, bloß ein lästiges Möbel sein. – Ach, wir hätten es so gut haben können!« – Sie wiegte den Kopf; ein Tröpflein stahl sich in die alten Augen. –

»Sie dürfen aber doch nicht nur an sich denken, wenn es das Wohl Ihrer Tochter gilt, Frau Kapitän. Und weshalb sich solche Gedanken machen? Im Gegenteil! Bisher hatten Sie nur eine liebe Tochter, nun werden Sie auch einen guten Sohn haben!«

Die Frau zog die Unterlippe herunter, als ob sie sagen wollte: »Ich danke bestens, lieber nicht!«

»Ihr Schwiegersohn sagte auch, daß die Verbindung ein Unsinn wäre. Er hat mir dringend abgeraten. Tibertius kann nicht mit Geld umgehen, meinte er.«

»Das ist sehr unrecht,« erwiderte Paulsen. »Er hat ihn stets gelobt. Vermutungen darf man nicht zur Gewißheit erheben. Was weiß Heinrich, ob Tibertius wirtschaften kann! Auf dessen Urteil dürfen sie kein Gewicht legen. Es gehört viel dazu, daß mein Schwiegersohn etwas gut findet oder jemand empfiehlt. Und so ist es auch hier.«

»Das meinte Tach auch. Ich komme eben von ihm,« schaltete die Alte nachdenklich ein, und Christine, die hinter der Tür stand, atmete erleichtert auf. »Ich kann nur gar nicht einsehen, daß hier in Kappeln eine Fabrik sich lohnen sollte.«

»Hier in Kappeln?« erwiderte der Physikus. »Ich denke, er will sich in Hamburg etablieren?«

»In Hamburg?« schrie die alte Frau auf und fuhr hastig in die Höhe. »Er will aus Kappeln weg? Christine mitnehmen? Ich soll hier mutterseelenallein bleiben? Oder gar mitziehen, übersiedeln? – Ne, Physikus! Nu geb' ich meine Zustimmung ganz gewiß nicht. Es mag denn kommen, wie es will. – Oh, wenn ik de Minsch blots nümmers seh'n har!« – schloß sie mit heftigen Worten und erregten Blicken.

Wehe! Das war ein böses Wort gewesen! Der Physikus bereute bitter, was er gesprochen hatte, und Christine stand zitternd hinter der Tür. Plötzlich war alles still. Der alte Kapitän – es hing ein viereckiges Lichtbild von ihm über dem Sofa – schien mit seinem knorrig ernsten Gesicht fast drohend ins Gemach zu blicken. Es war, als ob er jegliches gehört habe. Die Uhr schlug gerade rasselnd an, und die Lampe flammte unruhig auf.

»Das kann nicht ihr Ernst sein,« redete der Physikus der starr vor sich hinbrütenden Alten zu.

»Denken Sie bei allem, was Sie tun, an ihren Mann, an den braven Kapitän. Er würde gewiß nicht seine Bequemlichkeit über das Glück seines Kindes gesetzt haben. Das weiß ich. Und in seinem Sinne müssen Sie stets handeln! Vielleicht bleiben die jungen Leute auch hier, solange Sie leben; das läßt sich ja noch bereden. Was ich sagte, habe ich eigentlich nur so vermutet. Sie dürfen das nicht so bestimmt nehmen.«

Die alte Frau sah hilflos aus; ihr Herz war übervoll; sie konnte nicht weinen; und doch drängten die Tränen nach einem Ausweg.

»Ik willt mi överleggen, Physikus,« sagte sie endlich. »Ik willt mi överslapen!« und sie trennten sich. –

Als sich die Tür der kleinen Landkajüte hinter dem Physikus geschlossen hatte, fiel ihm ein, daß Dora und Heinrich das Versprechen gegeben, am heutigen Abend zum Tee zu kommen. Da es spät geworden war, beeilte er sich. Sein Schwiegersohn haßte das Warten, und auf diesen in allem Rücksicht zu nehmen, fand er so selbstverständlich, daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, er könne dieselben Rechte wie jener beanspruchen.

Schon als er in dem Flur seinen Mantel ablegte, hörte er im Wohnzimmer lautes Sprechen, und namentlich Heinrichs Stimme drang sehr vernehmlich an sein Ohr. Er blieb einen Augenblick stehen und horchte. Es war offenbar, daß sich ein Streit erhoben hatte, und er zögerte, ob er nähertreten solle. Allem Unfrieden ging er lieber aus dem Wege. – Es handelte sich um Tibertius, dessen Sache Dora in ihrer Herzensgüte verteidigte. Sie warf dem Apotheker seine Engherzigkeit vor und scheute sich nicht, ihm unverhohlen seine Gründe vor Augen zu halten.

Das war zuviel! Heinrich antwortete. Es klang niederschmetternd, was er sprach.

»In meinem Hause wünsche ich Herr zu sein und werde Eingriffe in meine Autorität nicht nur nicht dulden, sondern sie rücksichtslos zu beseitigen wissen!« –

Der Physikus schob in unbehaglicher Stimmung die Schultern auf und ab und überlegte, ob er nicht zunächst auf sein Zimmer gehen solle. Bis er zurückkehrte, hatte sich Heinrichs Zorn voraussichtlich gelegt; er grollte dann nur noch im stillen nach.

In demselben Augenblick aber vernahm er – und zwar zu seiner größten Bestürzung – Dora ebenso laut und rückhaltslos und in Worten sprechen, die er aus ihrem Munde für ganz unmöglich gehalten hatte. Die junge Frau äußerte mit einer nicht mißzuverstehenden Entschiedenheit, daß eine Tyrannei, wie Heinrich sie ausübe, jede Grenze überschreite, daß sie in der Folge eine solche Knechtschaft von sich abzuschütteln entschlossen, und daß er durchaus auf falschem Wege sei, wenn er aus ihrer bisherigen Unterordnung den Schluß gezogen habe, sie finde sein Auftreten und sein Benehmen eines gerecht und human denkenden und handelnden Mannes würdig. Von einer Rücksicht, die aus Liebe und Achtung hervorgehe, wolle sie gar nicht sprechen. Auf dergleichen heilige, einst erhoffte, von ihm beschworene Dinge rechne sie schon lange nicht mehr.

Ein Gefühl von Scham, Ingrimm und befriedigter Sättigung zugleich stieg in des Horchenden Brust auf, als er seine Tochter in solcher Weise ihre eigene Sache verteidigen hörte.

Lange in ihm schlummernde, aber durch Zeit und Gewohnheit zurückgedrängte Bitterkeiten gegen Heinrich wurden plötzlich in ihm lebendig. Ja, sie hatte recht, und wenn er die Wahrheit aus dem Munde seines armen, geknechteten, bis in die tiefinnerste Seele verwundeten Kindes hörte, so mußte er sich gestehen, daß nur ihre engelgleiche Sanftmut und Geduld ihn bisher eingeschläfert habe.

Schon drängte es ihn, einer guten Regung folgend, ins Zimmer zu treten und sich auf die Seite Doras zu stellen, bis er nun auch die Stimme seiner Frau vernahm, die mit scharfem Tadel gegen ihre Tochter anhub.

Da überfiel den schwachen Mann wieder das Unbehagen, sich in einen Streit zu mischen; da kam ihm der nüchterne Drang, alles Unangenehme von sich abzuwälzen und sich lieber dem stärkeren Teile anzuschließen. Er hatte sich einen gemütlichen Abend gedacht, nach dem Essen die Pfeife und dabei eine sorglose Plauderei. Nun loderte das Haus in Unfrieden auf!

Er überlegte. Jedenfalls wollte er nicht als Horcher erscheinen. Rasch entschlossen öffnete er, wie wenn er eben erst eingetreten sei, geräuschvoll die Haustür, stampfte auch mit den Füßen den Fußboden, als ob er den Schnee von den Stiefeln entferne, machte sich, obgleich er unbeobachtet war, an dem Kleiderhalter zu tun und trat endlich mit seinem gewohnten Schritt und einem unbefangenen »Guten Abend« ins Zimmer.

Der Teetisch war gedeckt. Das Wasser kochte unter der Maschine; eine angenehme Wärme durchströmte das Gemach. Durch des Physikus' Eintritt waren die heftigen Reden unterbrochen. Heinrich ging mit schlecht verhehlter Erregung auf und ab. Frau Paulsen sah ängstlich zu ihm hinüber. Dora hatte sich auf das Sofa niedergelassen und zerrte an der Quaste eines grünen, mit einem fliehenden braunen Hirsch bestickten Rückenkissens.

»Das war ein herrlicher Theaterkoup!« hub der Apotheker, seinem Schwiegervater obenhin zunickend, jetzt noch einmal an und wandte sich mit hämischer Miene zu Dora: »Ernsthaft gesprochen, verbitte ich mir aber ein für allemal und auf das entschiedenste solche theatralischen Kindereien, und sei froh, daß ich sie lediglich als solche auffasse!«

Die junge Frau hörte, was der Mann sprach, und saß einen Augenblick wie gelähmt. Dann aber wirbelte es wild und tobend in ihr auf; es pochte in ihren Schläfen; es zerrte an ihrem Herzen. Wie eine heißflammende Säule stieg es in ihr empor, und ihr Inneres schrie nach Worten. Es hielt sie nichts mehr. Ihr jugendliches Gesicht glühte, ihre Brust hob und senkte sich, ihre Finger drückten sich in der namenlosen Erregung in die Handtiefen, und ihr Atem, der Atem der Empörung, ging laut und vernehmlich durchs Gemach.

»Mensch!« stieß sie heraus und trat mit einer solchen Leidenschaft des Ausdrucks vor den Apotheker, daß dieser mit erbleichendem Antlitz unwillkürlich zurückwich. »Reize mich nicht bis zum Äußersten. Was heute, bisher unterdrückt, obgleich es seit Jahren in meinem Innern wühlt und nach einem Ausweg ringt, über meine Lippen kam, waren Schreie der gequälten Kreatur. Wenn du meine Worte einen Theaterkoup nennst, statt aus ihnen zu erkennen, welche Sünde du in deiner grenzenlosen Anmaßung auf dein Gewissen ludest, wenn du nicht endlich in dich gehst und begreifst, daß ein menschliches Wesen mit Vernunft und Empfindung mehr ist als ein Hund, dem man die Bissen hinwirft oder nach Laune Fußtritte erteilt; wenn du so wenig eingedenk bist der schmeichelnden Reden und Beteuerungen, mit denen du, ein gereifter, fast ergrauender Mann, mein unerfahrenes Herz betörtest; wenn du für den Bettel Silber, mit dem du mich erschachertest, ein Recht gewonnen zu haben glaubst, meine Seele wie eine Marionette tanzen zu lassen, so wisse, daß du ein blöder, bedauernswerter Tor bist! – – Und weiter! – Nein! Jetzt rede ich, und ich will reden! – Ich schneide mir eher einen Strick oder breche nachts in deine Apotheke ein und hole mir das schnell wirkende Gift, als daß ich ein Dasein weiterlebe, das mir kein vernünftiges Geschöpf neiden würde, wenn es in meiner Haut steckte. Wann war in dir je ein Strahl von Wärme, von Liebe, von Achtung und Schätzung meiner Natur und Eigenart? Wo war deine menschliche Gerechtigkeit? Ich habe nur finstere Mienen, Tadel, Tyrannei und eine Bevormundung bis auf die Nadel herab, die ich in meiner Hand hielt! Herunter mit deiner souveränen Erhabenheit und empörenden Insolenz! Nahmst du dir das Recht, mich jahrelang zu knechten, und schwieg ich in Geduld, so habe ich jetzt das Recht, dir einen Spiegel deiner Widerwärtigkeit vorzuhalten, dir eine Antwort zu erteilen! Hier hast du sie, und entnimm aus ihr zugleich unsere künftige Stellung zueinander!« –

Dora hielt inne. Glühende Feuer schlugen ihr über Stirn und Wangen, solche Reflexe ihrer Leidenschaft, daß ihre Eltern bebend in heißer, beipflichtender Rührung sie anschauten. Der Mann aber, zu dem sie gesprochen, stand abgewendet, starr das Gesicht auf einen gleichgültigen Gegenstand des Zimmers gerichtet, – und erwiderte kein Wort. Ein leises, herzzerreißendes Schluchzen, die Nachwirkung der fast übermenschlichen Qual, zitterte aus Doras Brust.

Und draußen tobte es ungestüm; die Schneeflocken flogen gegen die Fensterscheiben; die Natur war in eine ungeheure Aufregung geraten! Fühlte sie mit einer armen, gemarterten, geknechteten Menschenseele?

»Wollen wir zu Tisch gehen?« fragte Doras Mutter nach einer unheimlich langen Pause. Die junge Frau drückte ein Tüchlein an die Augen, stand auf und setzte sich neben ihren Vater. Frau Paulsen trat an ihren Schwiegersohn heran und faßte seine Hand. »Kommen Sie, Heinrich!«

Der Apotheker wandte sich um. Kein Zug in seinen Mienen verriet, was in ihm vorging, auch sprach er während des Abendessens mit dem Physikus und seiner Schwiegermutter, als sei nichts vorgefallen. Aber Dora war Luft für ihn; nicht ein einziges Mal erhob er den Blick zu ihr, viel weniger richtete er das Wort an sie. Als sich die Frauen nach Aufhebung der Tafel eine Zeitlang zurückgezogen hatten und miteinander flüsterten, gab er sich den Anschein, als ob er ihren Fortgang nicht einmal bemerkt habe.

Nachdem sich Doras Aufregung gelegt hatte, ging es unruhig und verzehrend durch ihr Gemüt. Umfang und Bedeutung des Gesprochenen stiegen vor ihr auf. Noch eine kurze Weile, dann war sie wieder allein mit ihm, allein mit dem Manne, den sie so tödlich beleidigt hatte! Wenn sie auch nichts zurücknahm von dem, was sie ihm schrankenlos vorgehalten hatte, so klopfte ihr doch ängstlich das Herz bei dem Gedanken an die Zukunft. Sie sah sich in ihrer Wohnung und hörte die eisige Stimme Heinrichs, der sie mit Blicken und Worten vernichtete. Und wo fand sie, die Verlassene, dann Beistand und Hilfe?

Nicht einmal die Nächstangehörige stand ihr zur Seite in diesem gerechten Kampfe, in dem endlich die festesten Fäden sanftmütiger Geduld hatten zerreißen müssen! Anfänglich hatte Frau Paulsen beruhigende Worte gesprochen, aber dann erging sie sich in scharfem Tadel. Sie stellte Vergleiche an zwischen Heinrich und anderen Männern und schilderte des ersteren viele gute Eigenschaften.

»Wohlan, ja!« erwiderte Dora. »Es mag sein! Aber wo einmal die Liebe und die Achtung fehlen, da verblassen alle Vorzüge. Was wäre denn dieser Mann, wenn er nicht einmal die von dir erwähnten Eigenschaften besäße? Verdiente er dann auch nur den Namen Mensch zu tragen?«

Als im weiteren Verlauf des Gesprächs Frau Paulsen trotzdem Heinrich in Schutz nahm, stieg in der jungen Frau ein Gefühl heißer Erbitterung auf. Plötzlich erloschen die zärtlichen Gefühle für ihre Mutter wie eine jählings erstickte Glut, und zum erstenmal sank in ihr die Achtung und Ehrerbietung vor derjenigen, die ihr bisher in allem ein Vorbild gewesen war. Dora kämpfte, aber vergeblich suchte sie die grollenden Gedanken zu bannen, ja, aus dem Gefühl der Kälte gegen ihre Mutter stählte sich die Abwehr gegen Heinrich.

Endlich kam der Augenblick des Aufbruches. Die Alten begleiteten ihre Kinder auf den Flur und boten ihnen gute Nacht. Der Apotheker schritt voran. Als er schon in der Haustür stand, trat der Physikus seiner Tochter näher, streichelte ihre Wangen und schaute sie liebevoll und begütigend an. Frau Paulsen sah ihres Mannes Bewegung. und auch ihre Augen standen in Tränen.

»Dora, Dora! Ich bitte, ich flehe dich an, bleibe ruhig und besonnen. Sprich versöhnende Worte zu deinem Manne. Vielleicht kann dann noch alles gut werden!« Das Herz der jungen Frau zerschmolz bei dem Anblick ihres alten Vaters, der mit ihr fühlte und dies an den Tag legte durch stumme Gebärden. Bei den schnell geflüsterten Worten ihrer Mutter aber stieg von neuem ein Gefühl trotziger Erbitterung in ihr auf. Es mochte unberechtigt sein, vielleicht sprach und handelte Frau Paulsen nur aus falsch verstandener Liebe, meinte es ehrlich und wollte das Beste! Aber diese Erwägungen behielten nicht die Oberhand in Dora; eine andere Stimme flüsterte ihr zu, daß ihrer Mutter Parteinahme nur eine Beschwichtigung des eigenen Gewissens sei. Dora grüßte deshalb Frau Paulsen, ohne etwas zu erwidern, nur mit gezwungener Miene und folgte ihrem Manne.

Heinrich zog den Pelz fester um die Schultern, schritt rasch über die Straße und ließ, die Haustür öffnend, seine Frau vorantreten. Er vermied jede zuvorkommende Bewegung; in künstlicher Zerstreutheit machte er sich mit dem Schlüssel zu schaffen, als ob dieser allein seine Gedanken beschäftigte. Auch wechselte er ferner keine Silbe mit ihr, entzündete ein Licht und begab sich in sein Schlafgemach.


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