Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Am nächsten Vormittag erschien der Apotheker, der beim ersten Frühstück nur kalt genickt und keine Silbe gesprochen, im Wohnzimmer und machte sich dort zu schaffen. Nachdem er sich wieder entfernt hatte, fand Dora einen Brief auf dem Sofatisch, der seine Handschrift trug und an sie gerichtet war. In hastiger Erregung löste sie das Kuvert und überflog den Inhalt. Das Schreiben lautete, ohne Anrede, wie folgt:

»In den Schriften eines Weisen las ich einst das Nachstehende und schrieb es mir auf:

Besser, man wird im Preise betrogen als in der Ware. Bei Menschen mehr als bei allem andern ist es nötig, ins Innere zu schauen. Sachen verstehen und Menschen kennen, sind zwei verschiedene Dinge. Es ist eine tiefe Philosophie, die Gemüter zu ergründen und die Charaktere zu unterscheiden. So sehr wie die Bücher, ist es nötig, die Menschen studiert zu haben. – Der Dinge, welche am meisten fürs Vergessen geeignet sind, erinnern wir uns am häufigsten. Das Gedächtnis ist nicht allein widerspenstig, indem es uns verläßt, wenn wir es am ehesten brauchen, sondern auch töricht, indem es herangelaufen kommt, wenn es sich gar nicht paßt. In allem, was uns Pein verursacht, ist es ausführlich, aber in dem, was uns ergötzen kann, nachlässig. Oft besteht das einzige Heilmittel im Vergessen, aber wir vergessen das Heilmittel. Man muß jedoch seinem Gedächtnis bequeme Gewohnheiten beibringen, denn es reicht hin, Seligkeit oder Hölle zu schaffen.

Alle Dinge haben eine rechte und eine Kehrseite, und selbst das Beste und Günstigste verursacht Schmerz, wenn man es bei der Schneide angreift; hingegen wird das Feindseligste zur schützenden Waffe, wenn beim Griffe angefaßt. In allem ruht Günstiges und Ungünstiges. Die Geschicklichkeit liegt im Herausfinden des Vorteilhaften. Dieselbe Sache nimmt sich, in verschiedenem Lichte besehen, gar verschieden aus; man betrachte sie also im günstigsten Lichte und verwechsle nicht das Gute mit dem Schlimmen. –

Jeder faßt seine Meinungen nach seinem Interesse und glaubt einen Überfluß von Gründen für dieselben zu haben, denn in den meisten muß das Urteil der Neigung den Platz einräumen. Nun trifft es sich leicht, daß zwei miteinander geradezu widersprechende Meinungen sich begegnen, und jeder glaubt, die Vernunft auf seiner Seite zu haben, wiewohl diese, stets unverfälscht, nie ein doppeltes Antlitz trug. Bei einem so schwierigen Punkte gehe der Kluge mit Überlegung zu Werke, alsdann wird das Mißtrauen gegen sich selbst sein Urteil über das Benehmen des Gegners berichtigen. Er stelle sich auch einmal auf die andere Seite und untersuche dort die Gründe des anderen. Dann wird er nicht mit so starker Verblendung jenen verurteilen und sich rechtfertigen.«

Immer von neuem las Dora, was sie in der Hand hielt. Es drang daraus eine milde, überzeugende, zum Nachdenken anregende Wahrheit. Die Worte machten einen solchen Eindruck auf sie, daß ihr bescheidenes Herz sich regte, daß sie zugleich Heinrichs Gesicht mit sanft versöhnender Miene vor sich zu sehen glaubte. Aber es war doch nur ein Blitz. Sie schüttelte den Kopf. Was vor ihr lag, war nichts anderes als das gleißnerische Werk eines Heuchlers, der nie seine Fehler einräumte, stets aber, um damit die törichte Masse zu täuschen, seiner Schlechtigkeit ein Mäntelchen umzuhängen wußte. Auch jetzt wollte er sie wieder mit den alten Mitteln blenden, durch die er sie schon als Kind seinen geheimen Absichten gefügig gemacht hatte. Aber er vergaß, irregeführt durch den Spiegel, in dem er nur sein eigenes Bild sah, daß aus dem ahnungslosen und willig vertrauenden jungen Wesen eine Frau, daß aus dem unklar nach dem Rechten suchenden und fast einzig von seinem Gefühle beherrschten jungen Weibe sich durch Zeit und Erfahrung ein Charakter entwickelt hatte.

»Elender Heuchler«, murmelte sie.

Es gab weder glatte Reden noch Einschüchterungen mehr, die auf sie wirkten. Wahnbilder verfingen fürder nicht; sie nahm sie nicht länger für Wirklichkeit.

Als Dora im Laufe des Tages des Schreibens nicht mit einer Silbe erwähnte, keine versöhnenden Worte gab und viel weniger ihrem Manne reuevoll zu Füßen fiel, gärten Ingrimm und Rachsucht in dem Apotheker auf. Er hatte als Folge seiner Milde, die den Eindruck hervorrufen sollte, als ob er alle Kränkung zu vergessen bereit sei und nur stumm auf das Vernünftige hinweise, Doras Buße erwartet. Als er aber nun seine Absicht vereitelt sah, verließ er die abwartende Haltung und gab sich den Anschein, seine Entschlüsse seien unabänderlich und unmittelbar nach jenem Vorfalle gefaßt. Er sprach abgewandten Blickes in kurzen Sätzen stets nur die notwendigsten Dinge mit seiner Frau, und jedesmal ließ er den Zwang durchblicken, den er sich schon damit auferlegen müsse. Nie veränderte er seine kalte Miene, nie lächelte er, selbst sein Tadel schwieg jetzt. Er kam und ging, als sei sein Haus ein Klubhaus, das man nach Laune besucht oder von dem man sich fernhält. Nur die Mahlzeiten hielt er inne. Tat Dora etwas, was seinen Ärger reizte, so schüttelte er nur mit dem Ausdruck einer schwer zu bekämpfenden Aufwallung den Kopf, und verweigerte er ihr etwas, so schlug er es mit einem kurzen, schroffen Nein ohne jegliche Erklärung ab.

Sein Wohn- und Schlafzimmer trennte er von dem ihrigen, indem er das Kabinett neben dem Saal für sich einrichtete.

Als Dora ihre Eltern befragte, ob sich Heinrich ihnen gegenüber über die Geschehnisse jenes Abends ausgesprochen, erfuhr sie, daß er sich nur ein einziges Mal darüber geäußert habe. Er hatte dem Physikus gesagt, er wünsche, daß die Vorkommnisse niemals wieder zwischen ihnen berührt würden. Äußerungen über seine Frau oder über sich, ein Urteil über Recht oder Unrecht in diesem Streit hatte Heinrich nicht gemacht und nur mit starker Betonung gesagt: »Möglichste Freiheit innerhalb gewisser Grenzen habe ich geschaffen. Dora fehlen die Eigenschaften, die ich bei ihr voraussetzte; ich muß für einen Irrtum büßen und will es, solange eine solche Buße möglich ist.«


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