Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Heinrich hatte sich zum Stadtrat mit dem Titel eines Senators wählen lassen. Das war das Ereignis des Tages. Bisher war er allen derartigen Anerbietungen ausgewichen, jetzt warf er sich mit Eifer auf diese Geschäfte. Er wollte Einfluß gewinnen und in der Stadt noch nach anderer Richtung als bisher eine Rolle spielen! Vielleicht auch suchte er draußen Ersatz für das im Hause eingebüßte Ansehen.

Sein geselliger Verkehr war durch seine Krankheit fast ganz ins Stocken geraten, und ihn wieder zu beleben, zögerte der Apotheker schon deshalb, weil er Dora dabei zu viel Worte hätte gönnen müssen. Das litt sein Hochmut nicht; dazu konnte er sich nicht entschließen. Einladungen lehnte er unter dem Vorwande ab, daß ihm infolge seiner Krankheit große Beschränkungen auferlegt seien. Auch seine Frau, die neuerdings wegen ihrer Augen Vorsicht üben müsse, – im übrigen eine Tatsache, die den Physikus schon wiederholt beschäftigt hatte, – wurde von ihm vorgeschoben. Überhaupt wollte Heinrich, obschon das Verhältnis nicht recht verborgen bleiben konnte, die Welt nicht in seine Karten gucken lassen.

Nach seiner Anschauung war an der Entfremdung freilich nur Dora allein schuld. Er war das Opfer; sie war ein starrköpfiges, launenhaftes, sentimentales Geschöpf, das nur die äußerste Strenge zur Vernunft bringen und seinem Willen gefügig machen konnte.

Der Bürgermeister von Kappeln war über die Wahl Heinrichs keineswegs erfreut. Bisher waren die Dinge ihren gemächlichen Gang gegangen; er regierte, und ein absoluteres System trotz des konstitutionellen Staatswesens konnte man sich nicht denken. Aber schon wenige Wochen nach des Apothekers Wahl zum Senator begannen sich zwei Parteien zu bilden, und selbstverständlich war Heinrich bei der Opposition.

Die Stadt hatte Schulden, und die Steuern wuchsen. Man hatte bisher gezahlt und still gemurrt; jetzt murrte man laut. Im »Dreimaligen« erschienen anonyme, mit großer Sachkenntnis geschriebene Artikel aufreizenden Inhalts. Einer dieser sehr freimütigen Aufsätze sprach es unumwunden aus, daß der Bürgermeister mit dem bevorstehenden Ablauf der Amtsperiode keine Aussicht habe, wieder gewählt zu werden. –

Nach kurzer Zeit herrschte Heinrich schon allmächtig. Er hatte keine Zeit und Mühe gescheut, die Majorität der Stadtverordneten-Versammlung auf seine Seite zu bringen, und in den öffentlichen und geheimen Magistratssitzungen trat er dem Bürgermeister mit kritisierenden oder spöttelnden Einwürfen entgegen. Nur Senator Adler vermochte er nicht zu sich hinüberzuziehen. Der hielt schon aus Eifersucht auf Heinrich zu seinem bisherigen Freunde, dem Bürgermeister. Auch diesem war Heinrichs Eintritt in den Magistrat äußerst unbequem.

Mancherlei Dinge, die bisher sehr oberflächlich behandelt worden waren, unterlagen jetzt auf Heinrichs Antrag einer äußerst genauen Prüfung; alles Bemänteln fand an ihm einen starken Gegner. Er war, ganz seiner Natur entsprechend, auch hier kühl und rücksichtslos und wurde scheinbar nie von Nebenabsichten geleitet.

Aber er war auch eigensinnig bis zur Torheit, und einmal hätte die Gegenpartei beinah einen großen Triumph über ihn gefeiert. Sie wiesen dem Herrn Senator nach, daß er bei ähnlicher Gelegenheit, als es sich auch um die Verpachtung städtischer Ländereien gehandelt hatte, gerade die seiner jetzigen Ansicht entgegengesetzte verfochten hatte. Aber Heinrichs fuchsige Klugheit verhalf ihm auch diesmal zum Sieg.

Er erklärte unumwunden, daß er sich damals geirrt habe, und Irren sei menschlich. Er sei der letzte, der sich für unfehlbar halte. Er wolle lieber den Vorwurf einer Inkonsequenz über sich ergehen lassen, als seine bessere Überzeugung unterdrücken.

In Wirklichkeit aber verließ er nur deshalb den früher verteidigten Standpunkt, weil der Bürgermeister beim Beginn der Debatte eine von der seinigen abweichende Meinung in ungewöhnlich entschiedener Weise vertreten hatte.

Und so gelang es dem Apotheker alsbald, Streit und Unfrieden in die Körperschaft hineinzutragen und lediglich durch seine eigensinnige Herrschsucht alles in Aufregung zu bringen und in Atem zu halten.

Im übrigen vollzogen sich in Kappeln die Dinge wie in den meisten kleinen Städten. Mit einigen Ausnahmen lebte die Bürgerschaft von der Hand in den Mund. Die Handwerker arbeiteten nicht mehr, als sie eben mußten. Recht viele Geschäftsleute waren über ihre Kräfte belastet und fanden einen künstlichen Kredit, indem sie sich in den Spar- und Hilfskassen gegenseitig Bürgschaft leisteten. Die Gelder der Darlehnsinstitute waren stets bis auf den letzten Taler in Anspruch genommen, und wenn einmal eine gründliche Revision und infolgedessen eine von persönlichen Rücksichten Abstand nehmende Kapitalsaufkündigung erfolgte, war's sicher um sehr viele geschehen.

Heinrich wußte das alles so genau, als ob er selbst Geldnehmer und Revisor in einer Person gewesen sei; aber gerade diese Dinge aufzudecken hütete er sich. Weshalb sollte er in ein Wespennest stechen? Mochten das die Leute mit sich abmachen. Er nahm keinen Schaden direkt noch indirekt. Der Handel mit Medikamenten war zumeist ein Bargeschäft, und was durch Kreditgeben im Jahr verlorenging, buchte er gegenüber den hundert Prozent Nutzen, die auf der Ware lagen, mit gleichgültiger Miene weg.

Obgleich nun also Kappeln kein sehr wohlhabendes Städtchen war, so fand sich doch für das Vergnügen immer Geld.

Es ging mit dieser Angelegenheit wie mit den unversorgten Witwen und den vielen Kindern, wenn plötzlich der Ernährer stirbt. Alle Welt meint, die Familie müsse verhungern, aber es geht doch.

Auch in diesem Jahre rüsteten sich die Einwohner Kappelns, ein großes Fest zu begehen. Nach dreijähriger Pause sollte der Gilde Vogelschießen stattfinden, an dem sich mit wenigen Ausnahmen die ganze Bürgerschaft zu beteiligen pflegte. Seit Jahrhunderten war dieses Fest im Städtchen gefeiert worden und hatte sich mit allen seinen Eigentümlichkeiten, trotz des Ereiferns der Nüchternen, die über die abgetane Spielerei spöttelten, erhalten. Die Tadler sahen nur das Äußerliche: die Aufzüge, das kleinbürgerliche Treiben, die ernsthaft sich gebärdende Torheit und die Zeit- und Geldverschwendung. Aber es entging ihnen, wie einmal der Bürgermeister geäußert hatte, daß in allen diesen Überlieferungen früherer Zeiten doch auch etwas Förderndes liege. Den Wert einer Ablösung von der täglichen Arbeit, den ungezwungenen Verkehr der sonst gesellschaftlich getrennten Stände, die Annäherung derer, die doch ein gemeinsames Interesse verbinde, kurz, die Vorteile einer engeren, durch keine konventionellen Formen gestörte Berührung aller Bewohner des Städtchens, die so mancherlei Gutes im Gefolge habe, dürfe man nicht außer acht lassen.

Überdies war auch die Gilde wohlhabend, und nicht alle Unkosten, die das Fest verursachte, fielen den einzelnen zur Last. Die Zinsen eines sicher angelegten Kapitals wurden gesammelt und konnten, ja, mußten nach den Statuten bis auf den letzten Heller verausgabt werden. Zelte und sonstiges Inventarium an Silbergeschirr, Laden, Humpen, Gerät und Ehrenzeichen, einschließlich der goldenen Königskette, besaß die Vereinigung, und selbst die Vogelstange und der Platz, auf dem die Feste stattfanden, waren Eigentum des Schützenbundes.

Am vierundzwanzigsten Juli, mitten in der Sommerhitze, fand der erste Ausmarsch statt.

Seit Wochen waren alle Hände in Bewegung, um Vorbereitungen zu treffen. Kleider, Röcke, Hauben und Mantillen wurden genäht oder geändert. Mile Glitsch und Emma hatten sich einige fleißige, junge Mädchen zu Hilfe genommen, und sie saßen von früh bis spät, um den Anforderungen, die an sie gestellt wurden, gerecht zu werden.

Die Flinten wurden von den Männern hervorgesucht und geputzt, Hüte und Fräcke ausgebessert und das Fußzeug einer Besichtigung unterworfen.

Tibertius' Aufnahme in die Gilde wurde einstimmig beschlossen, und so steckte Christine auch ihm Blumenbuketts in Flintenrohr und Knopfloch. Früher hatte Heinrich, obgleich Mitglied des Schützenbundes, niemals an den Festen teilgenommen. In diesem Jahre aber stellte er sich mit in die Reihen.

Von morgens sieben Uhr beginnend, erschienen die Trommler vor dem Hause eines jeden Gildenmitgliedes und gaben unter einem wahrhaft betäubenden Lärm das Zeichen zum Ausmarsch.

Die Kinder strömten herbei und ermunterten sich gegenseitig durch lustiges Hallo; die Hunde bellten, und die vorüberfahrenden Wagen verstärkten das ungewohnte Geräusch. Kurz, das sonst so stille Kappeln war nicht wiederzuerkennen.

Das hielt zwei Stunden an, bis endlich den ringsum Harrenden der Klang der Hörner und Trompeten verkündete, daß die Festgenossen vom Rathausplatz abmarschiert seien. Fahnen waren schon in der Frühe aus den Dächern herausgesteckt, frische Blumen bereits in die Fenster gestellt. Die jüngst angestrichenen Häuserfronten glänzten; die Straße war sauber gefegt, und die in hübschen Sonntagskleidern mitfolgende Jugend machte das Bild noch lebendiger.

Und die Sonne schien; die Welt war lustig, und die Musik der Blasinstrumente übte die gewohnte, begeisternde Wirkung. Den Bläsern voran ritt, eine breite Schärpe in den Landesfarben über die Brust geschlungen, der Adjutant. Er saß auf dem dickbäuchigen, bei der Musik sich sehr unruhig gebärdenden Schwarzen eines Brauers. Das ungestüme Roß ging sonst weniger aufgeregt vor dem Bierwagen, senkte dann vielmehr mißvergnügt den Kopf; aber Musik und Sporen taten jetzt das ihrige. Dem Vorreiter folgten die »Älterleute«, alle festlich geschmückt; in ihrer Mitte stolzierte der Schützenkönig mit goldner Kette.

Diesmal war's ein fetter Weinhändler, Herr Schulterblatt mit Namen, der Pächter des Ratskellers. Schulterblatt war bartlos und hatte das fröhliche, rote Gesicht einer Magd vom Lande. Wenn man ihn in Frauenkleider steckte, glich er einem nach Männern ausspähenden jungen Weibe. Hinter ihm folgten die Gildebrüder, geführt von ihrem Kapitän und begleitet von den Leutnants.

Auch ein Schwanzleutnant war dabei. Es war ein Schneider, der Rehkeldachs hieß und ein Sparkassengesicht hatte. Rehkeldachs nahm die Sache sehr ernsthaft; er marschierte stramm einher, streckte den Oberkörper in die Luft und warf die Nase empor.

Der Zug bot überhaupt einen Anblick, der selbst den Griesgrämigsten zur Bewunderung hinreißen und zu Tränen hätte rühren müssen. Welche genaue Beachtung militärischer Vorschriften! Diese übereinstimmende Uniformierung, diese Haltung, dieser Schritt, dies Brust heraus, Bauch herein – oder vielfach auch umgekehrt! – Es war unvergleichlich!

Ein Viertelstündchen Weges hinter dem Stadttor befand sich die Schützenwiese, welche unmittelbar an die See grenzte. Es war ein schöner Platz, mit seinen weißen, buntbewimpelten Leinwandhäuschen lustig anzusehen. Auf einem abgelegenen Fleck war die Schützenstange mit dem Vogel aufgerichtet. Ohne Unterbrechung spielte die Stadtkapelle ihre Märsche. Immer erklang in gleichen Zwischenräumen der kurze Knall des Musketenfeuers. Ununterbrochen drang Jubel und Gesang aus den Tingel-Tangel-Zelten durch die Luft. So anheimelnd vergnüglich wirkte alles zusammen, daß sogar die befrackten, ältesten Herren mit der weißen Weste und der Blume im Knopfloch fortgerissen wurden. Da sah man lachende oder singende Gruppen von Dreien oder Vieren, die sich unter den Arm gefaßt hatten und in die Erfrischungszelte stürmten oder im Königszelt an den Schenktisch traten. In dem letzteren ward in großen Humpen kühles Braunbier kredenzt, das aus silbernen Gefäßen, in deren Naß Zitronenschalen schwammen, geschöpft wurde. So entsprach es der alten Sitte. Essen und Trinken! Darin bestand das Vergnügen hauptsächlich.

Um Mittag ging's in die Stadt zurück, stets mit Musik voran; und ebenso ward wieder am Nachmittag der Rückmarsch zur Vogelwiese angetreten. Jetzt erschienen auch die Frauen, um an den Festlichkeiten, namentlich an den Rundgängen, teilzunehmen. Oft zogen Hunderte hinter der Musik einher, bis der Platzkapitän, ein jovialer Bürger und Schwefelholzfabrikant, Halt! kommandierte, einen Kreis bilden und einen Walzer aufspielen ließ.

Nun drehte sich alt und jung. Die Haubenbänder flogen, die Röcke schleiften den feinen Sand, die Beinkleider bedeckten sich mit Staub; Lachen und Frohsinn erfüllten die Luft, und dazwischen erscholl der Knall der Flinten, kurz, dumpf, als ob der Schuß hoch oben in der Luft geboren und sein Leben nach der Geburt blitzrasch wieder erstickt werde.

Nach dem Tanz ging's in die Bierzelte. Man drängte sich um die Plätze; im Nu war alles besetzt, und jeder hatte einen lauten Wunsch.

Der Wirt schwitzte und schalt rückwärts in die Küche; die Kellner eilten dienstfertig ab und zu, Schwatzen und Rufen überall. Der Schlag des Holzhammers ertönte; Frisch Faß! erklang's, und ein Hurra war die Antwort. Und in all dieses Summen und Schwirren mischten sich der aufdringlich anheimelnde Gesang der Sängertruppe vom Podium, das Gejohle einer ebenso eifrig beflissenen Tiroler-Gesellschaft im Zelte nebenan, sowie Orgelklang von den Karussels, die sich auf der Wiese drehten. Es war ein betäubendes, unharmonisches Durcheinander, das sich auch draußen fortsetzte.

Endlich erfolgte die Mahnung zum Aufbruch, zu einem Umzug und abermaligen Tanz. Es gab an diesem Tage zwar auch Standesunterschiede, aber nur stillschweigend anerkannte; äußerlich existierten keine Vorrechte. Der Beamte bot dem Handwerker den Arm, und der Pastor führte, wenn's kam, die Frau seines Tapezierers. Der Schwanzleutnant Rehkeldachs tanzte mit Frau Doktor Schübeler, und des Weinhändlers Schulterblatt, des Schützenkönigs, Verbeugung und Aufforderung zu einer Polka sah die Frau Bürgermeister Friederichsen als eine hohe Ehre an.

Überall war der Kapitän und Schwefelholzfabrikant zur Stelle, um das Fest durch neue Abwechslungen zu beleben. Einmal ließ er zum Gaudium der Anwesenden eine Rotte militärische Übungen machen, und bei diesen kamen so eigenartige Abweichungen zum Vorschein, daß kein Auge tränenleer blieb. Da erscholl das Kommando: »Rechts schwenkt, marsch!« und die Hälfte wandte sich links; feindliche Angriffe fanden statt, bei denen die Offiziere solchen Mut entwickelten und so todesverachtend den Fronten voraneilten, daß selbst die mittelalterlichen Schlachten derartige Beispiele von Kampfbegier nicht aufzuweisen haben mochten. Einmal stieß ein langer Leutnant, ein ehrsamer Buchbindermeister, der neben seinem Geschäft noch eine Konditorei und eine Leihbibliothek besaß, so heftig auf einen Bierbrauer von der feindlichen Kolonne, daß er beim Ansturm zusammenknickte, daß ihm die Rückennaht im Frack platzte, und die Schöße wie zwei lange schwarze Fahnen auseinanderwehten. Die Jugend klatschte in die Hände, und die Damen wendeten sich, vor Lachen schier erstickend, ab.

Dora war mit Tibertius und Frau Christine hinausgewandert; ihnen hatten sich Kuchens und Frau Doktor Schübeler abgeschlossen. Senator Adler war so hochherzig, mit Frau Heinrich zu tanzen, und Tibertius schlenkerte, als er mit seiner lieben Frau einen Walzer versuchte, so sonderbar mit den Beinen, daß Nieteschwanz seinem Nachbar, Kürschner Kegel, mit dem einen Auge und den Sommersprossen im Gesicht, die Bemerkung hinwarf, der tanze doch eigentümlich, worauf dann Kegel die Antwort gab, das sei eigentlich das feine Tanzen!

Nachdem auf diese Weise Tibertius' Meisterkunst in das richtige Licht gestellt war, löste sich auch bald darauf der Tanz auf, und die Anwesenden wanderten sämtlich in das Königszelt, wo Freibier verteilt wurde.

Endlich kam der Abend. Der Kapitän beorderte die Musik auf den Festplatz und bat anzutreten. Rasch setzte sich der Zug zur Rückkehr in die Stadt in Bewegung. Da die Ehemänner jetzt meistens ihre Frauen führten, so fand sich auch Heinrich ein, aber er wußte es so einzurichten, daß er Frau Doktor Schübeler und Frau Kuchen führte. Leo wurde vom Inspektor Blume geholt, und Tibertius bot Christine und Dora seine Begleitung an. Die Gefühle zu beschreiben, in denen sich der frühere Provisor befand, als nunmehr diejenigen beiden Frauen an seinem Arm einherschritten, welche er über alles in der Welt liebte, würde unmöglich sein.

Noch lange tönte die Karusselmusik, noch lange erscholl der Gesang Verspäteter; das sanfte Geräusch der See drang über das mit funkelnden Lichtern bedeckte Feld, bis zuletzt auch diese verklangen, die glimmenden Kohlen in den Feldküchen der Zelte erloschen und nur noch die glitzernden Augen ferner Welten am dunklen Himmelszelt zurückblieben. –

Heinrich marschierte am nächsten Morgen nicht mit hinaus. Er war, wer weiß aus welchem Grunde, sehr schlecht aufgelegt, schalt schon in der Frühe mit den beiden Mädchen und kündigte Jakob, weil dieser einen ihm gewordenen Auftrag vergessen hatte. Jakob begab sich zu Dora und bat, daß sie ein gutes Wort für ihn einlegen möge. Die Pfeife hatte er auf die Treppe gelegt und die Holzpantoffeln, die er im Laboratorium trug, ausgezogen.

Dora versprach, seinen Wunsch zu erfüllen. Seit zwölf Jahren war er bei seinem Herrn; nun wollte ihm der wegen einer solchen Kleinigkeit den Laufpaß geben. Freilich begriff Dora nicht, wie sie Heinrich umstimmen sollte. Ihre Bitte, ihre Befürwortung waren ja schon ein hinreichender Grund für den Apotheker, auf dem einmal gefaßten Entschlusse zu beharren.

Bei Tisch wurde Kordes abgerufen und erhob sich so ungeschickt, daß er den Stuhl umwarf. »Na, na, wo haben Sie denn –« setzte Heinrich zornig polternd an und ließ die eben zum Munde geführte Gabel wieder auf den Teller gleiten. Einige Augenblicke später suchte er nach dem Pfeffer und fand ihn nicht. Mit einer nicht mißverstehenden Miene des Tadels erhob er sich und eilte ans Büfett.

»Etwas fehlt doch immer!« murmelte er. »Ich werde fortan Lene für das richtige Tischdecken verantwortlich machen.«

»Sie deckt ja jeden Tag!« erwiderte Dora.

»So? Ich glaubte, du besorgtest das, weil nie etwas in Ordnung ist –«

August stieg bei diesen Worten das Blut in die Schläfen; er schaute ängstlich zu seiner Herrin hinüber, die in auflodernder Empörung die Lippen aufeinanderpreßte und nur mühsam an sich hielt. Unglücklicherweise befand sich nun kein Pfeffer in der herbeigeholten Büchse; ein entschuldbarer Mangel, da Heinrich das Gewürz nie zu der Speise des heutigen Tages begehrt hatte.

»Zum Donnerwetter mit deiner Wirtschaft!« rief der Apotheker, ganz von seiner schlechten Laune beherrscht, und stieß die Dose auf den Tisch.

»Ich denke, wir sind hier in unserer Wohnung und nicht in einem Wirtshaus,« hauchte Dora mit bebender Stimme.

»Schweig!« raste der Mann und schlug mit der geballten Faust so heftig auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

»Aber Herr Heinrich!« stieß nun auch August heraus.

»Nun?« rief der Apotheker und warf einen herausfordernden Blick auf ihn. »Sie wünschen?«

Semmler wurde totenbleich, sah aber Heinrich fest ins Auge und öffnete den Mund zum Sprechen.

»Bitte, lassen Sie –« bat Dora flehend, und August fügte sich.

Heinrich aber rollte die Augen, streckte seinen langen, hageren Oberkörper in die Höhe und sagte, sich zu seiner Frau wendend: »Ich verbitte mir alle, alle deine –« und wieder sich unterbrechend, zu August: »Wenn Ihnen etwas an meinem Tisch und in meinem Hauswesen nicht recht ist, steht es Ihnen jederzeit frei –« In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und Kordes kehrte zurück.

»Ich ersuche Sie, einen Augenblick draußen zu warten,« rief der Apotheker ihm zu, und Kordes, infolge seiner Krankheit noch blassen Angesichts, verschwand mit ängstlichem Ausdruck.

Nun siegte wieder Doras gutes Herz über ihren Zorn. »Ich bitte dich inständig, Heinrich,« hub sie sanft an, »vergiß die Sache und laß namentlich einen Unbeteiligten nicht für mein Versehen büßen!«

Aber bei dem Apotheker bewirkte diese Sanftmut gerade das Gegenteil von dem, was seine Frau zu erreichen wünschte. Dora erlangte ja dadurch einen Vorteil und demütigte ihn vor seinen Untergebenen. Das fachte seinen Jähzorn nur noch mehr an.

»Ich wünsche keinerlei Ermahnungen von dir. Schweig, oder verlaß das Zimmer!« herrschte er seine Frau mit grenzenloser Roheit an. »Sie jedoch, mein Herr –«

Aber jetzt war es auch mit Augusts Mäßigung zu Ende. Sein ritterlicher Sinn, sein Mitgefühl und seine Liebe warfen alle Rücksicht beiseite. – Ihn beherrschte nur der eine Gedankt, für seine Herrin einzutreten. Das Auge fest auf den Sprechenden gerichtet, sagte er:

»Ich habe vollkommen verstanden, was Sie mir sagten; einer weiteren Erklärung in meiner Sache bedarf es nicht! Was aber noch keine Erledigung fand, ist das Benehmen gegen Ihre Frau Gemahlin. Ich protestiere dagegen, daß in meiner Gegenwart einer Dame in so maßl–«

Aber der Apotheker ließ ihn nicht ausreden. Wie ein Wolfshund richtete er sich empor, und wies mit vor Wut bebender Hand nach der Tür. Noch zögerte August; er wollte weitersprechen, aber Doras eindringliche Stimme traf sein Ohr, und ihr flehender Blick ergänzte alles übrige.

Er gehorchte, neigte sich herab, berührte ihre Hand und verließ, ohne Heinrich eines Blickes zu würdigen, das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, als der Apotheker auf seine Frau zueilte. Er fletschte die Zähne; seine Augen glühten. Sie floh und wandte sich zur Tür. Aber er vertrat ihr den Weg und packte sie an dem Arm.

»Elende, undankbare Kreatur!« schrie er. »Ich will dich lehren! Vom heutigen Tage an sollst du mich kennenlernen! Alle die schmachtenden Liebhaber und Klatschschwestern werde ich beseitigen und sehen, wer endlich die Oberhand behält! So, nun dort in die Ecke und nicht gerührt – –« Mit diesen Worten schleuderte er sie von sich, verließ das Zimmer und rüstete sich zum Gange nach der Vogelwiese.

Als Lene bald darauf den Tisch abräumen wollte, fand sie ihre junge Herrin ohnmächtig auf dem Boden ausgestreckt.

»Oh, die Frau! die Frau! Was ist mit unserer Frau?« jammerte das Mädchen wehklagend und suchte Dora emporzurichten.

Nach geraumer Zeit gewann diese ihr Bewußtsein zurück. »Es ist nichts, es ist nichts. Laß nur, Lene!« beruhigte sie sanft. »Ein leichter Schwindel. Es hat nichts auf sich –«

Nach diesen Worten raffte sie sich empor und legte, um ihre Erinnerungen zu sammeln, die Hand an Schläfe und Stirn.

»Na, das ist man gut,« stieß die teilnehmende Person, vor Aufregung noch fast atemlos, heraus. »Aber schrecklich blaß sieht die Frau aus, wie eine Leiche! –«

Wenige Minuten später eilte Dora bloßen Hauptes über die Gasse und öffnete die Tür des elterlichen Hauses. In diesem Augenblick kam's die Straße herauf. Es waren Schützenbrüder, die ihre Frauen zum Festplatz eingeholt hatten. Die Musik spielte einen lustigen Marsch. Die sonnenbeschienene Straße, noch eben still, wurde plötzlich belebt, die Jugend marschierte im Militärschritt nebenher, und im Nu guckten ringsum neugierig vergnügte Gesichter aus den Fenstern.

»Was ist, was ist? Dora, mein teures Kind!« rief die Doktorin, als die junge Frau wimmernd im Wohnzimmer niedersank und das tränende Antlitz in ihren Schoß vergrub.

Von Schluchzen unterbrochen, berichtete Dora ihrer Mutter von den eben stattgehabten Vorfällen.

Frau Paulsen traten bei der Erzählung ihrer Tochter die Augen fast aus den Höhlen. Die scharfen Züge des Gesichts bedeckten sich mit einem unheimlichen Rot, und ihre Hände zuckten. Zu sprechen vermochte sie nicht; sie konnte sich nur niederbeugen, ihr Kind umschlingen und mit ihm weinen.

Und just in diesem Augenblick drangen durch die geöffneten Verandatüren die letzten, fröhlich belebenden Klänge der sich allmählich verlierenden Marschmusik herein; nur einigemal war's, als ob sich der Zug nicht entferne, sondern erst herankomme. Hell, kräftig, wie in unmittelbarer Nähe ertönten die Hörner. Doch war's nur eine Täuschung! Lediglich die sonnenreine Luft trug die schwingenden Schallwellen in solcher Deutlichkeit herüber. Nach und nach erstarb das Geräusch; leise, immer leiser verklang's in der Ferne, und zuletzt drang's nur noch einmal wie ein vergnügtes Lachen an der Lauschenden Ohr. Nun war's still, ganz still, und wieder lagen Straßen und Gassen im heißbrütenden Sonnenschein und in gewohnter Einsamkeit.


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