Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Im Laboratorium war viel zu tun. Jakob wirtschaftete hin und her, und Tibertius sah nach dem Siederohr des Dampfkessels. Es duftete nach allerlei scharfen Kräutern, und die heiße Luft, die den Raum erfüllte, war fast betäubend.

Der Provisor war im Arbeitsrock. Er sah etwas seltsam aus, denn unter der kurzen Weste guckte ein lederner Riemen hervor; vielleicht stellte er durch ihn seine schlanke Figur her. Während er beschäftigt war, öffnete sich die Tür, und Bello sprang, ohne Umschau zu halten, in den Feuerungsraum und kroch unter den breit ausgebauten Kesselofen. Ihm folgte etwas verlegen – Dora. Sie sah reizend aus. Auf dem Hofe lag der Schnee; die kalte Luft hatte ihr die schönsten Farben auf die Wangen gehaucht.

Tibertius knöpfte hastig den Rock zu und verbeugte sich wiederholt verlegen. Jakob, dem stets die Pfeife im Munde hing (nur im Laboratorium rauchte er kalt), legte sie beiseite und machte sich in der Stoßkammer zu schaffen.

»Mein Mann nicht hier?« fragte die junge Frau, sich umschauend.

»Nein, Frau Heinrich!«

Dora zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie: »Frau Lassen sitzt oben bei mir und möchte Herrn Heinrich sprechen.« Sie lächelte, und Tibertius erblaßte.

»Frau Lassen?« stieß er betroffen heraus. »Christinens Mutter?«

Dora guckte zur Seite, ob Jakob auch zuhörte. Dann flüsterte sie schelmisch: »Sie will Erkundigungen über Sie einziehen, Herr Tibertius! Meine Auskünfte scheinen ihr nicht zu genügen –«

»Ah!« machte Tibertius. Auf seinem Gesicht malten sich starke Spannung und Unruhe.

»Wie weit ist's denn?« fragte die junge Frau teilnehmend.

»Mit Christine, – Fräulein Christine« – verbesserte er sich, »bin ich in Ordnung. Aber die Alte macht Schwierigkeiten. Ganz wider Erwarten. Sie kann die Apotheker nicht leiden«

Tibertius lächelte mitleidig, jedoch diese Miene war nur künstlich.

»Ich will die Alte lieber fortschicken,« meinte Dora. »Wer weiß, wann mein Mann nach Hause kommt, und – es wäre schon gut, wenn – wenn Sie vorher –«

Sie stockte. Tibertius wußte, was die junge Frau hinzufügen wollte; er wußte es ganz genau.

»Sie raten mir, mit ihrem Herrn Gemahl vorher noch einmal zu sprechen?«

»Ich weiß nicht recht,« erwiderte Dora, sich nun doch besinnend. »Es ist mir schon durch den Kopf gegangen, ob ich nicht mit meinem Vater reden soll. Ich riet Frau Lassen bereits, dort Erkundigungen einzuziehen, aber sie bestand auf einer Rücksprache mit meinem Mann.«

In diesem Augenblick ward Tibertius an seine Pflicht erinnert. Mit höflicher Entschuldigung unterbrach er das Gespräch, trat mit raschen Schritten an den Herd und lüftete wie eine erfahrene Köchin den Deckel eines langstieligen Kochgefäßes.

Dora überwältigte fast das Lachen. Tibertius nahm sich bei dieser Beschäftigung allzu komisch aus. Aber sie hielt an sich.

Ein frischer Kräutergeruch schlug durch den Raum, der die junge Frau anheimelte. Die Kinderjahre traten ihr ins Gedächtnis. Welchen geheimen Zauber hatte stets das Laboratorium im Nachbarhause auf sie ausgeübt! – Für Minuten vergaß sie alles! Dann aber fiel es ihr auf die Seele, daß die alte Frau wartete, und sie warf entschlossen hin:

»Ich werde noch einmal mit der Alten reden. Lassen Sie mich nur machen –«

Tibertius hätte sie umarmen mögen; er beschränkte sich aber darauf, ihr Deinen dankbaren Blick zuzuwerfen. Ah! War das eine Frau! Dora nickte ihm freundlich zu, und wenige Augenblicke später eilte sie, leicht aufgeschürzt, über den Hof ins Haus zurück und war seinen Blicken entschwunden.

Daß doch die nächstliegenden Gedanken stets zu spät kamen! Tibertius hatte bitten wollen, daß Dora ihm das Ergebnis der Unterredung mitteilen möge. Nun konnte er den ganzen Tag im Ungewissen bleiben! Mittags und abends fand sich keine Gelegenheit.

»Jakob!« rief er in die Stoßkammer hinein. »Sie, Jakob, können Sie wohl rasch mal einen Gang machen?«

»Jawohl, Herr Provisor. – Zu Befehl.«

»Warten Sie!« Tibertius zog eine Bleifeder hervor und schrieb auf ein Blättchen Papier seines Taschenbuches die folgenden Worte: »Teure Christine! Deine Mutter ist hier im Hause. Sie will sich bei Herrn Heinrich nach mir erkundigen. Schreibe mir gleich das Resultat. Ich bin in größter Aufregung. Liebst du mich noch? Auch darüber erwartet Nachricht Dein sehnsüchtig nach Dir verlangender Feodor.«

Daß Tibertius doch Feodor heißen mußte! Ein recht lächerlicher Name. Freilich, ihm kam das nicht in den Sinn. Er war überhaupt etwas blind in vielen Dingen. Christine aber konnte sich daran nicht gewöhnen. Gleich am Abend nach der Verlobung hatte sie ihn in einem geeigneten Augenblick gebeten, den Namen in Fritz umwandeln zu dürfen. Ihr Vater hatte auch Fritz geheißen. Der Anruf war ihr lieb und klang ihr vertraut.

Jakob kam bald zurück und überreichte ein kleines Kuvert. Von Ungeduld öffnete Tibertius das Billett und stellte sich in seinem Eifer sogar recht ungeschickt an den Kesselofen, so ungeschickt, daß er irgendwo eine empfindliche Hitze verspürte. Auch ein kurzes, heftiges Quieksen ertönte. Das letztere rührte von Bello her, den er in seiner Unachtsamkeit auf den Schwanz getreten hatte.

»Ach, Bello – Bello! Immer bist du im Wege!« rief der Provisor mißmutig und schob das demütig sich an ihn drängende Tier unsanft beiseite. Wann büßen diese treuen Geschöpfe nicht für die Ungeschicklichkeiten ihrer Umgebung? Das war nie anders! –

Christine antwortete recht beunruhigend. Der Schluß lautete: »Ach, bester Fritz, ich hatte das alles nicht erwartet. Aber verzagen wollen wir nicht. Du weißt, ich bin unabhängig, und im äußersten Notfall« – »O liebes, braves Mädchen,« rief Tibertius so laut, daß Jakob mit dem Putzen eines Glases innehielt und verwundert den Kopf schüttelte, Bello aber leise zu knurren begann. Tibertius sah und hörte von alledem nichts. Er las nun auch die letzten Zeilen: »Sobald ich etwas weiß, sende ich dir Nachricht. Ich bin ja auch in fieberhafter Spannung, und die Mutter ist vorläufig noch so erregt, daß ich dir raten möchte, heute abend lieber nicht zu kommen. Hoffentlich sehen wir uns morgen!

In treuer Liebe                                    
Deine Christine.«          

Die letzten Sätze gefielen Tibertius gar nicht! Wie sollte er es einen Tag aushalten, ohne seine Braut zu sehen? Er öffnete in tiefem Sinnen abermals den Kochgeschirrdeckel und war so sehr in seinen Gedanken verloren, daß der Dampf ihm beinahe die Nase verbrannt hätte. »Das fehlte noch!« flüsterte er mürrisch vor sich hin und rief nach Jakob.

»Nehmen Sie das Geschirr herunter, Jakob! Es ist gut so! Gießen Sie vorsichtig ab und lassen Sie dann klären.«

Nun stützte er sich nochmals, diesmal gegen den neben dem Fenster stehenden Tisch, und las den Brief zum zweitenmal. Wiederum murmelte und sprach er laut vor sich hin.

Jakob dachte sein Teil; vielleicht auch Bello. Er erhob wenigstens mehrmals den Kopf, schnüffelte mit der Schnauze und nieste.

An demselben Abend saß Dora bei der Arbeit im Wohnzimmer. Im Ofen brannte ein lustiges Feuer, aber eine dumpfe, schwüle Luft erfüllte den Raum und legte sich auf die Seele der jungen Frau.

»Nicht einen Schritt tue ich für den Menschen!« erklärte Heinrich, der eben ins Zimmer getreten war und seine Absicht kundgegeben hatte, zu Hause bleiben zu wollen. »Nicht einen Schritt!«

»Aber bedenke,« wandte Dora schüchtern ein, »es handelt sich doch um Tibertius' Glück! Wie kannst du ihm die Kündigung so nachtragen?«

»Davon ist nicht die Rede. Aber die Art, die Art! Und seine jetzige fortwährende Opposition – sein unwirsches Wesen im Geschäft! Schon die Szene an dem Mittag, als Kordes Auskunft über die Medizin zu haben wünschte! Blieb er nicht sitzen, als ob ihn die ganze Sache nichts anginge?«

Dora überlegte, was sie ihrem Mann erwidern sollte. Ein einziges Wort konnte alles verderben. Daß er so viel sprach, war im ganzen ein gutes Zeichen. War er halsstarrig, so sprach er nur einen einzigen Satz, und nichts brachte ihn dann zu einer Änderung des einmal gefaßten Entschlusses. Sie sann über eine List nach, ja, eine kleine Lüge mußte helfen. Sie sagte deshalb: »Als er heute vormittag erfuhr, daß die alte Lassen hier gewesen sei, deinen Rat zu erbitten, äußerte er gleich: Bei Herrn Heinrich Auskunft über mich? O, dann ist mir nicht bange. Er hat mir zwar gekündigt, aber gerecht ist Herr Heinrich, gerecht bis aufs Tezett; er wird gewiß nichts Unvorteilhaftes über mich aussagen.«

Dora schwieg. Es hieß nun abwarten; und diesmal schien sie sich nicht getäuscht zu haben. Der Apotheker brummte zwar etwas vor sich hin, machte aber keine Einwendungen, sondern stellte sich schweigend ans Fenster und schaute hinaus.

Die junge Frau hoffte schon das Beste. Aber plötzlich wandte sich Heinrich ins Zimmer zurück und sagte:

»So? Das hat er gesagt? Nun, er täuscht sich doch ganz gewaltig, der Herr Provisor, wenn er glaubt, meine Gerechtigkeit bestehe im Verschweigen! Gewiß bin ich gerecht, aber deshalb eben muß ich der alten Frau reinen Wein einschenken. Mag sie dann tun, was sie will. Ich wasche meine Hände in Unschuld.«

»Aber Heinrich« – bat Dora begütigend. »Was kannst du denn Unvorteilhaftes von Tibertius sagen? Rühmtest du ihn nicht bei jeder Gelegenheit?«

»Niemals tat ich das,« entgegnete der Mann, der stets seine eigenen Worte verleugnete, wenn es ihm gerade paßte. »Niemals! Im Gegenteil, ich tadelte immer sein unpraktisches, unruhiges Wesen, seine Zerstreutheit.«

Dora schwebten Worte auf der Zunge, aber sie hütete sich, sie auszusprechen: Wahrheit! Einsicht! Gerechtigkeit! Wo war die zu finden in der Welt, und nun gar bei diesem Manne! – Nach einer Weile – Heinrich hatte einen Aschbecher in die Hand genommen und drehte an dem Fuß, der sich gelöst hatte, – sagte Dora, um ihres Mannes Gedanken zu erforschen: »Lassens sind wohl recht wohlhabende Leute?«

»Reich!« erwiderte der Apotheker kurz.

Die junge Frau wollte herausbringen, welche geheimen Gedanken, welche Absichten ihren Mann leiteten. Daß es keine wohlwollenden waren, wußte sie freilich nur zu gut. Sie vermutete, daß Gefühle des Neides ihn beherrschten. Er wollte nicht, daß Tibertius das hübsche, nette, wohlhabende Mädchen heiraten sollte. Es paßte ihm persönlich nicht! Am Ende würde er, der frühere Provisor, noch eine Rolle in Kappeln spielen! Bah! Dieser alte, abgetane Junggeselle!

Um sich Gewißheit zu verschaffen, sagte Dora:

»Ich gönnte es Tibertius von Herzen, doch noch mal selbständig zu werden. Er sprach davon, vielleicht nach Hamburg zu ziehen –«

»Chemische Fabrik!« warf Heinrich spöttisch dazwischen.

»Ich weiß nicht, was er vorhat –«

»Ja, ja, eine chemische Fabrik will er errichten! Aber das wird im Leben nichts! Ihr Geld wird er schnell genug in unpraktischen Dingen vertun! Er ist kein Mann, der mit Kapital umzugehen versteht. Das ist meine Überzeugung. Ja, wenn er ein anderer wäre, dann ließe sich eher über die Sache reden.«

Was war das? Sollte Heinrich den Vormund spielen wollen, oder gar jetzt Neigung haben, etwas mit in Szene zu setzen, was er bisher so wegwerfend beurteilt hatte? Wünschte er Tibertius von sich abhängig zu machen. Gewiß! so schien es; darauf wollte er hinaus für den Fall, daß etwa doch die Heirat zustande kam. Dora kämpfte, ob sie ihm ein gutes Wort geben, ob sie sich scheinbar seinen Plänen anschließen solle. Aber sie war zu ehrlich; es widerstrebte ihrer gerechten Natur, etwas zu unterstützen, was sie so erbärmlich, so verabscheuungswert fand. Es wurde auch diesen Abend von der Sache nicht mehr gesprochen. Aber die junge Frau ward in ihrer früheren Absicht bestärkt, ihren Papa für Tibertius zu gewinnen, und diesen Plan setzte sie gleich am nächsten Morgen in der Frühe ins Werk.


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