Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Neunzehntes Kapitel.

Abends gegen fünf Uhr wurde das dreimal in der Woche herauskommende Kappelner Wochenblatt ausgetragen, und dreimal in der Woche lag das feuchte Blatt in der Heinrichschen Wohnung oben an seinem Platz auf dem Flurtisch.

Die besser Gestellten hielten noch eine größere Zeitung daneben; der politische Inhalt des »Dreimaligen« war dürftig, und obgleich der lokale Teil nur ein Spiegelbild dessen war, was unter den Augen der Kappelner und unter ihrer eigenen Mitwirkung vor sich ging, so belächelten sie doch meistens mitleidig das hier Gebotene.

Es ist überall gleich auf Gottes Erde. Die ganze große und kleine Welt steht vor den Affenkäfigen und spöttelt, ohne zu merken, daß sie nur über sich selbst den Mund verzieht. Das Selbstgefühl war in Kappeln freilich besonders stark ausgeprägt, denn auch über die großen Ereignisse außerhalb des Städtchens zuckte man die Achseln und fand im Grunde alles in der kleinen Stadt weit vortrefflicher.

Lene setzte die angezündete Lampe auf den Tisch, legte das eben angelangte Blättchen mit den Worten: »Wochenblatt, Madame!« daneben, nahm das Kaffeegeschirr an sich und verließ stumm und geschäftig das Zimmer.

Dora ergriff die Zeitung mit einem Ausdruck von Langeweile und blätterte darin. Aber gerade heute fand sie etwas, was ihr Interesse außerordentlich anregte. Unter den Anzeigen stand die folgende Bekanntmachung:

Theatervorstellung im Frahmschen
Gasthof zu Kappeln.

Den 15. November 18 . .

Zum ersten Male:

E h e g l ü ck.

Trauerspiel in fünf Akten von Karl Hieronymus.

Bereits seit zwei Jahren hatte Kappeln keine Schauspieler gesehen. Sie hatten dort bisher stets schlechte Geschäfte gemacht und mieden deshalb den kleinen Ort. Ihr Auftreten in diesem Winter war somit ein Ereignis, und die junge Frau war nicht wenig erfreut darüber, daß die Einförmigkeit des Dahinlebens einmal unterbrochen werden sollte.

Kappeln bot so ganz und gar nichts, was Geist und Gemüt anregen konnte. Dora schwärmte fürs Theater und amüsierte sich, wenn die Vorstellung den anderen auch noch so unzulänglich erschien, stets vortrefflich. Schon als Kind übten umherziehende Künstler einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Mit begehrenden Blicken hatte sie vor den geschlossenen Pforten der Schaubuden des Jahrmarkts gestanden und vor Freude gejauchzt, wenn ihre Eltern ihr einmal den Eintritt gestatteten.

Während sie noch den Inhalt der Zeitung durchflog, meldete Lene, daß ein unbekannter Mann mit einer Subskriptionsliste draußen um Einlaß bitte. Herr Heinrich sei nicht im Geschäft anwesend, und der Provisor habe den Antragsteller nach oben verwiesen. Es scheine ein Schauspieler zu sein; er habe etwas von Theaterbilletts geredet, erklärte Lene, die nach ihrer Gewohnheit die Tür nicht geschlossen hatte.

Eigentlich wagte Dora niemals in solchen Fällen selbständig zu entscheiden, aber diesmal konnte sie doch nicht widerstehen. – »Er möge nähertreten!«

»Haben Physikus Paulsens unterschrieben?« fragte die junge Frau, die Liste an sich nehmend.

Der Mann verneinte.

Dora ließ einen flüchtigen Blick über des Schauspielers Gestalt gleiten. Er sah nicht eben anziehend aus. Die schäbige Eleganz seiner Kleidung verstärkte das ohnehin aufsteigende Gefühl des Mitleids, wennschon des Fremden rotgefärbte Nase und sein überhöfliches, fast demütiges Wesen der Vermutung Raum gab, er sei solcher Teilnahme kaum würdig.

»Ich werde drei Dutzend nehmen«, erklärte Dora rasch entschlossen. Diese Zahl war so überraschend groß, daß der Antragsteller befremdet aufhorchte. In der Tat, die Künstler waren nicht verwöhnt. Eine alte, unverheiratete Dame, eine Theaterfreundin, hatte sich mit zwölf ersten Plätzen unterschrieben. Das war in der langen Liste bisher das hervorragendste Ergebnis.

Der Mann trat mit einer sehr devoten Bewegung dem Tische näher und hatte Mühe, die etwas klebrigen Billetts abzuzählen. Während er solches tat, überlegte Dora, wie vielen sie damit eine Freude machen könne. Ihre Mama wollte sie damit beschenken, Sophie, Fräulein von Tapp – und so weiter und so weiter – –

»Das macht also?« fragte sie den Fremden.

Er nannte die Summe. Dora erschrak doch ein wenig. Vierundfünfzig Mark. Diese Ausgabe mußte sie aus ihren Ersparnissen bestreiten; Heinrich durfte davon nichts wissen. Fast gereute sie der Handel.

Während die junge Frau an ihren Schreibtisch ging, schaute sich der Schauspieler zaghaft um. Das matt erleuchtete Gemach erschien ihm so überaus anziehend, so gemütlich! Dieser dicke, weiche Teppich, diese behagliche Wärme, dieser eigene, anheimelnde Duft! Und alles so still und friedlich, alles so bequem und wohnlich, so sorgenfrei! Er seufzte auf. Ja, wer's so haben könnte! Beneidenswerte, glückliche Menschen – –!

Schon war Dora im Begriff, an den Sofatisch zurückzutreten, als sich unerwartet die Tür öffnete, und plötzlich, ganz gegen seine Tagesgewohnheiten, Heinrich erschien. Die junge Frau erschrak.

Der Apotheker grüßte mit kaum merklicher Neigung des Kopfes und warf einen fragenden Blick auf den verlegen sich verneigenden Fremden.

»Was ist's?« fragte er und trat mit einem Anflug von mißmutigem Tadel im Ton auf Dora zu.

Dem Schauspieler ward unbehaglich zumute, seine Erfahrungen ließen ihn wittern, wie die Dinge lagen.

»Theaterbilletts!« hörte er Dora leise und unsicher sagen. »Ich nahm – drei Dutzend. – Es ist wohl etwas viel –?«

»Drei Dutzend?« stieß Heinrich in einem verletzend groben Tone heraus. »Was soll denn das nun wieder? Was denkst du dir dabei? Du willst doch nicht jeden Abend in den Unsinn –?« Hier dämpfte er die Stimme, aber der Anwesende hörte doch, was er sprach.

»Ich möchte gern Mama beschenken. Sie hat keine Billetts genommen, wie der Herr sagt,« flüsterte Dora schüchtern.

»Nun ja, wenn auch! Ein Dutzend für uns, zwölf für drüben, meinethalben. – Und die übrigen?«

Wie er das alles sagte! Wie rücksichtslos es klang! Dora antwortete nicht. Sophiens Namen durfte sie nicht nennen.

»Wir können ja immer noch nachbestellen. Anderthalb Dutzend genügen vorläufig« – wandte sich Heinrich, ohne sich weiter mit seiner Frau einzulassen, mit kurzer Entscheidung zu dem Künstler.

»Also anderthalb, – nicht drei?« stieß der Schauspieler, nochmals mit leiser Hoffnung anknüpfend und die Billetts von neuem durchzählend, heraus und wandte sich an Dora.

»Nun ja! Sie hören doch!« erwiderte der Apotheker kurz, für seine Frau antwortend, und warf einen Schein zum Wechseln auf den Tisch.

Dora stand dabei wie ein unmündiges Kind. Scham, Verlegenheit, aber auch ein brennendes Gefühl der Erbitterung stiegen in ihr auf. In solcher Weise stellte ihr Mann sie vor dem Fremden bloß!

»Sonst noch etwas?« ließ sich Heinrich, nachdem der Mann das Geld eingestrichen hatte, brüsk vernehmen.

»Nein, bitte. Verbindlichsten Dank«, bestätigte dieser höflich und wandte sich zur Tür.

»Wann beginnen Sie denn? Und was wird gegeben?« warf dann Heinrich noch hin.

»Eheglück, Trauerspiel von Karl Hieronymus. Vorzügliche Neuigkeit!«

»Na, mit den Trauerspielen sollten Sie nur einpacken. – Gibt's denn keine Lustspiele?«

»Ja, am Sonntag!« erwiderte der Künstler, dem Einwande Heinrichs durch stummes Achselzucken Antwort erteilend. »Dann spielen wir: ›Schabernackstreiche, oder die Liebe im Dorfstall.‹ – Sehr amüsant!«

»Die Liebe im Dorfstall?« wiederholte Heinrich spöttelnd. »Wird auch wohl was Rechtes sein! Na, denn mit Gott! Empfehle mich Ihnen.«

Der Künstler verneigte sich, diesmal nichts erwidernd, warf noch einen raschen, gleichsam Verzeihung einholenden Blick auf Dora und verließ das Zimmer.

Die junge Frau besann sich nach seinem Fortgange kurz und sagte zaghaft: »Der arme Mensch tat mir so leid –«

»Natürlich! Du wirst nächstens noch das Haus und die Apotheke dazu verschenken. Es ist unglaublich, wie du darauflos wirtschaftest. Und so sinnlose Geschichten, so kindische Dinge!«

Er seufzte hörbar auf nach dieser Rede, als ob er sagen wollte: »Gott, ist diese Frau eine unangenehme Zugabe zum Leben! Nichts als Torheiten! –« Und ohne ihre Antwort abzuwarten, schob er mit heftiger Bewegung einen Stuhl an den Tisch und guckte in die Zeitung.

»Kommen deine Eltern heut abend?« warf er nach einer Pause hin.

Keine Antwort.

»Nun?« wiederholte er, immer noch mit Lesen beschäftigt und ohne aufzugucken.

Abermals erfolgte nichts.

Heinrich ließ das Wochenblatt aufs Knie gleiten, wandte den Oberkörper und guckte hinter sich in den matterleuchteten Raum.

»Ich fragte, ob deine Eltern heut abend kämen. Hörst du nicht?«

Ein leises Schluchzen drang aus der dunklen Ecke am Fenster hervor. Aber das rührte den Erbarmungslosen nicht, im Gegenteil, das reizte ihn.

»Ich denke, du könntest antworten, wenn ich dich etwas frage –«

»Ja, – sie – kommen.«

Es war beängstigend schwül im Zimmer. Nur das Knittern der Zeitung und mühsam unterdrückte, einer gepeinigten Seele entquollene Laute unterbrachen die unheimliche Ruhe.

»Wenn diese Sentimentalitäten so weitergehen, ist ein – ein – Zusammenleben zwischen uns überhaupt unmöglich! Entweder du gibst deine Albernheiten auf und änderst dich, oder – oder –«

Er sprach nicht aus; er blätterte die Zeitung um, rückte ungeduldig mit dem Stuhle, setzte sich diesmal seitwärts an den Tisch und schlug die Beine übereinander. Nach den letzten Worten hatte die junge Frau das Haupt erhoben und sah mit flammendem Blick auf den Sprechenden. Ihr Herz klopfte; die Tränen waren versiegt; es tobte durch ihr Inneres. Ein unnennbarer Ekel erfaßte sie. Da saß er vor ihr, dieser kalte Mensch mit seiner hageren Gestalt, mit seinen langen Beinen, in der pedantisch, fast lächerlich gehaltenen Kleidung, mit dem karierten Schlips und den hohen Vatermördern, mit diesem dünkelhaften, erbarmungslosen Ausdruck im Gesicht, da saß er als die Summe alles dessen, was für sie die Natur Abstoßendes geschaffen hatte. Sie hätte, um das heiße Drängen ihrer Seele zu dämpfen, aufspringen und ihn erwürgen mögen. Aber sie schwieg und bezwang ihr bebendes Herz. Sie gedachte ihrer Eltern; sie erinnerte sich immer wieder eines bestimmten Vorgangs und sagte, jede Regung eines Widerstandes niederkämpfend, sanft, willfährig und mit leisem Schritt das Zimmer verlassend:

»Ich habe gehört, was du sagtest. Ich will mir Mühe geben, mich zu ändern, wo ich meine Fehler erkenne.« –

»Eheglück« wurde zum zweitenmal gegeben. Es hatte außerordentlich gefallen. Der »Dreimalige« riet dringend zum Besuch und lobte das Spiel der Künstler in aufmunternden Worten. Das Stück hatte einen ernsten Inhalt, so ernst, daß in der ersten Aufführung kein Auge trocken geblieben war und die Anwesenden mit atemloser Spannung die Entwicklung verfolgt hatten. Nun hielt es die übrigen Kappelner nicht mehr; auch Heinrichs und Paulsens beschlossen, der Vorstellung beizuwohnen. An Sophie war am Morgen von der Frau Physikus (des Apothekers halber fern ab von Heinrichs und Paulsens Plätzen) ein Billett gesandt worden.

Nachdem sich die Schaulustigen mit ungeduldiger Eile an die Kasse gedrängt und nach allerlei Hin und Her in den Korridoren endlich ihre Plätze gefunden hatten, begannen sie sich gegenseitig zu mustern.

Doktor Schübeler und Senator Adler standen aufrecht vor ihren Plätzen im Parkett. Eine in ihnen aufsteigende Verlegenheit wegen dieser Abweichung vom Herkömmlichen geschickt verbergend, betrachteten sie durch ihre Operngucker die Versammlung, während diese solche »Wichtigtuerei« in sehr verschiedener Weise beurteilte. Nachdem die städtische Kapelle die Ouvertüre zu Figaros Hochzeit mit einer geradezu erstaunlichen Verleugnung der Absichten des Komponisten zu Ende gespielt hatte, hob sich der Vorhang, und die Vorstellung nahm ihren Anfang.

Als in den Pausen allerlei abfällige Bemerkungen über das Stück fielen, denen namentlich Heinrich mit spöttischer Miene beipflichtete, suchte Dora das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Was sie gesehen, beschäftigte sie außerordentlich; sie liebte es nicht, sich ihre Illusionen stören zu lassen, wich mit einer gewissen Scheu ungünstigem Urteil aus und äußerte sich auch in diesem Sinne, bittend, gegen ihren Mann. Er aber hörte sie an und zuckte mit kalter Miene die Achseln.

Nach Schluß des Theaters ging Dora stumm neben Heinrich nach Hause; immer von neuem beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem Inhalt des Schauspiels. Er aber sagte, und es war das einzige, was er redete, trotzdem er wußte, wie er ihr dadurch den Eindruck verdarb: »Ein gräßliches Rührstück! – Nicht zum Ansehen! – Und das Spiel der Gesellschaft! – Na –«


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