Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Achtzehntes Kapitel

Es war ein ganz kleines Häuschen mit so tief liegenden Fenstern und so weit an den Bürgersteig vorgebauter Mauer, daß man in Gefahr stand, sie beim Vorüberschreiten mit dem Körper zu streifen.

Begegneten sich einmal zwei Wagen in der engen Gasse, so konnte es sich wohl ereignen, daß die Fußgänger den Scheiben den Rücken zuwenden mußten, und daß sie dadurch den fleißig hinter den blühenden Topfgewächsen arbeitenden Frauen die Aussicht nahmen.

Das Häuschen erschien mit seinen niedrigen, beschränkten Räumen und seiner sauberen, blitzenden Nettigkeit wie eine aufs Land versetzte Kajüte. In der Tat war der Erbauer ein Schiffskapitän gewesen, der vor nun acht Jahren gestorben war und seine Frau und eine erwachsene Tochter hinterlassen hatte. Jedes Kind in Kappeln kannte dieses Haus und seine Bewohner. In der titelsüchtigen Welt fand auch die Witwe Lassen Gefallen daran, sich Frau Kapitän nennen zu lassen, obgleich ihr verstorbener Gatte nur auf einem kleinen Personendampfer, der täglich den Fluß auf und ab gefahren war, dermaleinst seine Herrscherrechte ausgeübt hatte. Er hatte zu jenen braven, kernfesten, etwas eigensinnigen Menschen gehört, wie eine derartige Beschäftigung sie ausbildet. Er sammelte etwas Vermögen, vermehrte es durch Sparsamkeit und starb eines Tages, den Kautabak noch linksseitig im Munde, am Schlage. So plötzlich ereignete sich dies, daß seine gute Frau noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, daß auch ihm Lebensgrenzen gesteckt seien.

Doppelt hart erschien sein Tod, da kurz darauf sein einziger unverheirateter Bruder, ein wohlhabender Exporteur in Hamburg, das Zeitliche segnete und seine Nichte Christine zur alleinigen Erbin einsetzte. Durch diesen Vermögenszuwachs hätte der Kapitän den Rest seiner Jahre sorgenfrei und in jener behaglichen Ruhe verleben können, die dem Alter so wohl zu gönnen ist.

Frau Lassen stammte aus einer ehrsamen Bürstenbinderfamilie, hatte nicht eben viel Bildung, aber besaß Herz und eine eigene, durch allerlei frommen Aberglauben geförderte Originalität. Ganz Kappeln kannte sie wegen ihrer Misch-Masch-Sprache, die sich aus Platt und Hochdeutsch zusammensetzte.

Christine war ein schon reifes, aber immer noch schönes, sanftblickendes und dabei kluges Mädchen von etwa dreißig Jahren, die in der höheren Kappelner Mädchenschule seinerzeit eine vortreffliche Erziehung genossen und später das Bedürfnis gefühlt hatte, sich weiter fortzubilden. Man verstand nicht, wenn man mit ihr in Berührung trat, daß die Welt sich nicht mehr um sie bemühte, und daß sie selbst sich nicht mehr unter Menschen begab. Wie's denn so ist, daß auch einmal die schönsten Blumen nur ein flüchtiger Blick streift, und daß sie unbeachtet sich entblätterten.

Jedermann war durch ihr sicheres, feines und liebenswürdiges Wesen überrascht. Aber nach irgendeinem gelegentlichen öffentlichen Hervortreten verschwand sie dann wieder auf Jahr und Tag und zog sich in die Einsiedlerei zu ihrer Mutter zurück. Die beiden Frauen glichen Murmeltieren, die ihren Winterschlaf abhalten.

Nichts konnte für jemand, der nicht im vornehmen Prunk der Schönheit Reiz erkennt, anziehender sein als dieses kleine Häuschen. An der hölzernen, schneeweiß angestrichenen, durch hervorspringende Balken gezierten Decke des Flurs hing ein kleines, vollkommen ausgerüstetes Schiff mit Masten, Leinensegel und allem Zubehör. Zu beiden Seiten desselben schwebten zwei große, ausgestopfte Stachelfische mit ihren weibisch dummen Mäulern. Die weißlackierten Flurwände waren über und über mit netten Seestücken in schwarzem Rahmen bedeckt, und an der geradeaus nach dem Hofe gehenden Tür erschienen die messingne Klinke und der messingne Beschlag wie in der Sonne glänzendes Gold.

Der sorgsam gescheuerte Fußboden war mit weißem Sande bedeckt. Über der besten Stube zur Rechten war ein großes rotes Korallengewächs angebracht, und die Wohnstube mit dem spiegelglatten, braun gebohnten Fußboden, in hellgrüner Ölfarbe gestrichen, war mit hübschen, altertümlichen Mahagonimöbeln und vielen sauber gehaltenen Bildern geziert. Sie duftete stets nach Bohnerwachs und nach Blumen, die in zierlichen, mit silbernen Rändern geschmückten weißen Töpfen am Fenster standen und mit ihren Köpfen auf die Straße nickten.

Ungewöhnlich groß, funkelnd-glänzend war der Spucknapf in der Ecke und ebenso in die Augen springend die blankgeputzte Tür in dem hochaufgebauten Ofen, dessen Kacheln in mattblauen Zeichnungen auf weißem Grunde abwechselnd Rebekka am Brunnen und Kain und Abel vorführten. Auf einigen hatte Rebekka ihr Näschen durch den Zahn der Zeit eingebüßt, und Kain fehlte das eine Bein. Abel aber starb überall ohne vorhergegangenen Verlust an Gliedmaßen, und ohne Widerstand zu leisten, durch des Bruders Hand.

An dieses Wohnzimmer stieß ein allerliebstes Schlafzimmer mit hohen Alkovenbetten, die aber selbst um die Sommerzeit mit so vielen Federdecken bepackt waren, daß einem bei ihrem Anblick die Atemnot ankam.

Nach dem Hof hinaus lag die Küche, ein wahres Schatzkästlein von Sauberkeit und Zierlichkeit. –

In dem Wohngemach nun saß eines Abends, um die Zeit der jüngst beschriebenen Gesellschaft, Tibertius mit bescheidener Miene, aber geläufiger Zunge. Wie seine Annäherung an die Kapitänsfamilie sich so recht eigentlich gemacht hatte, darüber war sich der Provisor selbst nicht klar. Der Zufall hatte dabei sein Spiel getrieben, und Tibertius war nicht müßig gewesen, ihn zu unterstützen. Christine hatte einige Male die Apotheke besucht und Einkäufe gemacht. Jedesmal war sie von Tibertius bedient worden, und daher stammte die erste Bekanntschaft.

Er erinnerte sich genau, daß sie englisches Pflaster und Goldkrem gefordert hatte, eine Bezeichnung für Cold-cream aus ihrem Munde, die Tibertius anfänglich etwas stutzig gemacht und ihn schon auf ihren mangelnden Bildungsgrad hatte Schlüsse ziehen lassen. Ein andermal brachte sie ein Rezept und verlangte gleichzeitig Räucherwerk.

»Pulver oder Kerzen? Rote oder schwarze?«

»Ich bitte, lieber rote; die letzten schwarzen verlöschten so leicht«, erwiderte Christine mit ihrer sympathischen Stimme, indem sie ein aus weißer Perlmuttermuschel gearbeitetes Portemonnaie hervorzog.

Der Zusatz in Christinens Worten veranlaßte Tibertius zu bedauernden Äußerungen und gab den Vorwand zu einem kurzen Gesprächsaustausch. Nachdem die Tochter der Witwe empfangen, was sie wünschte, neigte sie freundlich verlegen den Kopf und errötete leicht und dankte verbindlich, als Tibertius rasch um den Ladentisch bog und die gerade sich etwas klemmende Tür behende und unter tiefen Komplimenten öffnete. –

Als Fräulein Lassen zum drittenmal die Apotheke betrat, fragte sie zu Tibertius' Überraschung nach dem Gehilfen Kordes. »Er sei in der Materialienkammer. Er könne geholt werden.« »Das sei nicht nötig; sie danke sehr; aber er habe vielleicht die Güte, ihm ein Billett einzuhändigen?«

»Gewiß! Ich werde es ihm sogleich übergeben, mein Fräulein. Haben Sie etwa sonst noch etwas zu bestellen?«

Christine dankte freundlich, neigte wieder mit einem bezaubernden Ausdruck in den Mienen das Haupt und entfernte sich. –

»Kordes!«

»Herr Tibertius?«

»Hier ist ein Briefchen von Fräulein Lassen.«

»Danke!«

Kordes ergriff diesen Schatz gleichgültig wie ein Rezept, öffnete, las und ging so gelassen wieder an seinen Mörser, als ob höchstens eine Brummfliege durch die Apotheke geflogen sei.

Der Vorfall mit dem Billett schien sich also an frühere, ähnliche Vorgänge anzulehnen! Das veranlaßte den vor Neugierde brennenden Provisor zu der Frage, ob Kordes die Familie kenne. Aber so geschickt verbarg Tibertius seine Gefühle, daß er während des Sprechens mit dem Wischtuch über den Rezeptiertisch fuhr und sich den Anschein gab, als ob die Sache eine Unterbrechung selbst der gleichgültigsten Dinge keineswegs erheische.

Kordes, getreu seiner Auffassung, daß die Sprache höchstens dazu da sei, um sich gelegentlich über den schlecht aufgebrühten Tee und die dünnen Leberkäsescheiben Stines zu beklagen, nickte nur mit dem Kopfe und fügte in einem gelangweilten Ton noch einige Worte hinzu. »Ja, – sehr gut!« – sagte er.

»Wohl eine Einladung?« forschte Tibertius weiter und holte mit einem breiten Messer Latwergemus aus einem Porzellanhafen.

»Ja, zu Sonntag; Lassens sind weitläufige Verwandte meiner Mutter.«

»Hm, hm! So so –«

Am Sonnabend nach diesem für Tibertius bemerkenswerten Besuch Christinens war eine alte Botenfrau erschienen und hatte »etwas gegen Rheumatismus« für die alte Lassen gefordert.

Als sich nun Kordes am folgenden Tage zum Fortgehen zu Lassens rüstete, gab der Provisor ihm ein Stück einer eben in den Handel gelangten Gichtwatte mit der Aufforderung in die Hand, er möge bestellen, daß diese bei rheumatischem Leiden von bester Wirkung sei. Wenn Frau Kapitän nach dem Preise fragen würde, solle er nur sagen, es käme bei alter Kundschaft auf diese Kleinigkeit nicht an. Diesem Paketchen fügte er auch noch einige Liebenswürdigkeiten für Kordes bei, so daß dieser, ganz benommen von der guten Laune seines Vorgesetzten, den Besuch bei Lassens antrat. Es werde bei letzterem sicher von ihm die Rede sein, überlegte Tibertius, und Freundlichkeit gegen den Gehilfen könne für alle Fälle nicht schaden. So junges Volk urteile nach gerade in ihnen haftenden Eindrücken, und so werde auch Kordes ihn, Tibertius, bei der Familie in das beste Licht stellen. Am Ende, der Provisor war auch ein Mensch, der nicht gerade andere mit Steinen bewarf, wenn er etwas von ihnen wollte.

In der Tat berichtete Kordes am nächsten Tage von dem akuten Eindruck, den diese Sendung auf seine Verwandten gemacht habe; aber außer sich hätte Tibertius über den Gehilfen geraten können, als dieser ihn bei sonstigen Anspielungen verständnislos anglotzte, sein allerdümmstes Gesicht machte und statt der sehnlich erwarteten Aufschlüsse hinwarf:

»Ach, es ist da immer gräßlich langweilig bei den alten Schachteln. Aber meine Mutter will ja, daß ich manchmal hingehe.«

Einige Tage waren verflossen.

»Hören Sie, Kordes,« hub Tibertius eines Mittags nach Tisch an, »wenn Sie einmal wieder mit Ihren Verwandten zusammenkommen. lassen Sie doch so nebenbei fallen, daß ich den Damen einen Besuch machen möchte. Vielleicht an einem Sonntag –«

»Ja, das kann ich ja gern«, erwiderte der junge Ahnungslose, und so recht in dem Tone eines Menschen, der solche Absichten ganz unbegreiflich findet.

Indessen ganz glatt sollte die Sache doch nicht verlaufen.

»Na, was sagten sie?« hub der Provisor an, als er den Bericht über diesen Auftrag aus Kordes herausholte.

Der Gehilfe kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und schwieg. Endlich sagte er, einen Groschen über den Ladentisch weg in die Kasse streichend und von einem Kunden zurücktretend, der eben Frostsalbe gefordert hatte: »Ja, Frau Kapitän meinte, – daß – daß – daß sie nicht – recht – wüßte, warum und wieso?«

Eine einfache, etwas provinzielle Ausdrucksweise, aber am Ende eine mit ein wenig Scharfsinn nicht wohl mißzuverstehende Antwort! dachte Tibertius; doch war er gleichzeitig entschlossen, deshalb die Hoffnung nicht sinken zu lassen.

»Warum? Wieso? sagten sie, Kordes? Verstehe ich nicht –« knüpfte er wieder an.

»Ja, Christine meinte auch, wie sie das nehmen sollten. Sie sprachen ziemlich lange davon, und dann – dann zuletzt –«

Da trat abermals Störung ein. Ein kleines Mädchen forderte für zwei Pfennig Lippenpomade.

»Gibt's nicht für zwei Pfennig.«

Das Kind ging.

»Und dann zuletzt?« drängte Tibertius.

»Sollte ich bestellen, daß es ihnen sehr angenehm sein würde, wenn Sie meinten, daß –«

»Nun?«

»Daß es mit zwei einzelnen Damen doch sehr langweilig wäre –«

»Hm!«

»Sie erkundigten sich auch –«

Schon wieder trat jemand in die Apotheke. Nicht einen Augenblick hatte man Ruhe! Der Tischler sollte einen Knopf, den er vom Drechsler besorgt hatte, in eine Schublade einfügen. Für Drechslerarbeit läßt man bekanntlich einen Tischler kommen. Auch damals schon war's in der Welt so!

»Na, erzählen Sie weiter, Kordes«, drängte Tibertius mit gedämpfter Stimme.

»Sie erkundigten sich auch – auch – nach – so nach Ihnen, – wo Sie eigentlich zu Hause wären und meinten, Sie gingen ja nun bald weg von hier –«

»So? das wußten sie?«

»Ja!«

»Na, und was sagten Sie zu alledem?«

Kordes starrte den Provisor an: »Ich!«

»Ja, ja, was Sie erwiderten?«

Der Gehilfe brütete vor sich hin, als ob er sagen wollte: »Na, ob die Fragerei wohl nun bald ein Ende kriegt?«

Es war auch weiter nichts aus ihm herauszubringen, und im Grunde genügte es ja. –

Am nächsten Sonntag hielt Tibertius nach vorhergegangenem Besuch seinen Abendeinzug in die Kajüte. Die erste Viertelstunde war so peinlich, daß er die ganze Sache zu verwünschen im Begriff stand. Als aber die Frauen, das Gastrecht gewissenhaft übend, sich in Aufmerksamkeiten erschöpften, verließ ihn die Befangenheit. Er mußte den alten Aquavit probieren und die gebratenen Fische kosten; auch sollte er nur etwas tief mit der Gabel in die Anchovistonne »herunterlangen«.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich!« rief die Alte und holte einige dickbäuchige, an den Schwanzenden tropfende Fischchen heraus und legte sie Tibertius auf den Teller. Er mußte endlich auch eine Flasche Rotwein – noch von des Kapitäns bestem – entkorken. Zudem war es nach Tisch so gemütlich und durch die liebenswürdig beschämende Aufmerksamkeit, welche die beiden gutherzigen Frauen ihm erwiesen, so anheimelnd, daß der Provisor sich in einem wahren Glückstaumel befand. Zwar die Alte war im Reden bisweilen ein wenig derb und geradeaus und hatte hin und wieder sogar einen etwas mißtrauischen Ausdruck im Auge. Aber Christine war so einfach zutunlich und lauschte des Provisors Erzählungen mit so gespannter Aufmerksamkeit und so großem Interesse, daß sich sein Herz immer mehr für sie erwärmte.

Christinens weibliches Gefühl fand bald heraus, daß er ein braver und guter Mensch sei, und sein vielseitiges Wissen machte Eindruck auf sie. – Das lebendige Wort klang anders als der tote Buchstabe in Zeitungen und Büchern, aus denen sie bisher fast ausschließlich ihre Kenntnisse vervollständigt hatte. Mit den Bekundungen ihrer Teilnahme und ihres Verständnisses wuchsen auch bei Tibertius die Fähigkeiten, sich mitzuteilen. Hier war jemand, der seine Eigenart würdigte und mit Beifall nicht zurückhielt. Tibertius war niemals an seinem Wissen und Können irre geworden, aber sein geringes Selbstvertrauen hatte ihm allezeit zugeflüstert, daß ihm sonst zuvielerlei fehle, um gleichberechtigt neben anderen auftreten zu können. –

Der Provisor verkehrte nun schon seit fast zwei Monaten in dem Hause der Familie Lassen und konnte kaum die Stunde der Einkehr dort erwarten. Wie verschieden war doch der Menschen Geschmack! Kordes dankte Gott im Himmel und allen Engeln dazu, daß er nicht mehr aufgefordert wurde, an den einzigen freien Abenden sich den Kopf an der niedrigen Decke »der alten Baracke« einzustoßen. wie er Frau Lassens Häuschen nannte, während Tibertius in denselben Räumen einen Vorgeschmack der Himmelsseligkeit zu spüren vermeinte. –

Und während dieser Zeit ereignete sich eines Abends in der Kajüte etwas ganz Außerordentliches.

Die Alte, welche gerade ihren unruhigen Tag hatte, hantierte in der Küche und bereitete das Abendbrot vor, Christine häkelte zu den schon unzählig vorhandenen kleinen und großen Schutzdecken, welche die Polstermöbel schmückten, eine neue, und hörte freundlich zu, was Tibertius von der jungen, lieben Frau Heinrich erzählte.

»Die sind wohl nicht recht glücklich? Man spricht so allerlei« – äußerte sie teilnehmend, aber auch nicht ohne etwas Neugierde, der sich vielleicht sogar ein durch den unfreiwilligen Verzicht auf Heiratsglück hervorgerufenes Spürchen Befriedigung über die Tatsache beimischte.

»Leider«, erwiderte der Gast. »Um so trauriger, als die Frau ein wahrer Engel ist. Ich habe kaum je eine, wie sie ist, gesehen.«

»Man hört es allgemein«, bestätigte Christine, fügte aber etwas einschränkend hinzu: »Dieses Ehebündnis war überhaupt doch ein Wagnis, wenn nicht eine große Torheit! Das blutjunge Mädchen mit dem alten Junggesellen! Die Menschen müssen doch im Alter einigermaßen zueinander passen, sonst entstehen fast immer Mißverhältnisse.«

Tibertius nickte und schnitt immerfort mit einer kleinen Stickschere in ein kleines Läppchen Seidenzeug, das auf dem Tische lag.

»Darf ich die Schere haben?« bat Christine in ihrem sanften Tone, als er auf den letzten Satz gar nichts erwiderte. Sie suchte einen Anlaß zur Belebung des Gesprächs, weil er so stumm blieb.

Da trafen sich ihre Blicke. Der zauberische Schatten eines vorüberhuschenden Liebesgottes flog über beider Angesicht, und ebenso rasch stieg eine Flamme in ihnen auf.

Tibertius drängten sich hundert Worte auf die Zunge, und doch sprach er nicht eines. Zuerst schaute er auf die Tür, weil er sich einredete, jetzt gerade könne die alte Frau ins Zimmer treten. Er sah auf die weißgehäkelte Decke und sah sie doch nicht; er schaute auf sie, die mit gesenkten Wimpern still und sittsam vor ihm saß. Hatte sie eine Ahnung, daß er sie liebte? Durfte er ihre freundlichen Blicke deuten, wie er wünschte? Er zitterte bei dem Gedanken, sie könne ihn nicht erhören. Bange Zweifel huschten durch seine Seele. In der Lampe knisterte es leise; die Dinge ringsumher, die Bilder, die Möbel, die Farben hatten einen so leuchtenden Schein. Alles guckte ihn so hell an. Ach, wenn doch Dunkelheit herrschte, damit er ihr Gesicht nicht zu sehen brauchte, während er das lebendige Liebeswort sprach. – Und dann kamen plötzlich andere Vorstellungen. Was war er? Ein Junggeselle ohne Vermögen, in vorgerückten Jahren, in Abhängigkeit, ohne Aussichten! Und sie? Sie war eine reiche Erbin, die neben dieser Eigenschaft noch viele besaß, die sie berechtigten, Anträge von Männern zu erwarten. Nein! Es ging nicht! Es war noch zu früh. Er mußte erst sicherer sein! Er wollte Dora bitten, für ihn hinzuhorchen, sie sollte als Brautwerberin auftreten! –

So sann er hin und her, ohne den Mut zum Reden zu finden; ja, er drückte die Entschlüsse, welche er bereits gefaßt hatte, gewaltsam nieder.

Keiner von beiden sprach. Noch einmal schaute Christine empor. Dann stand sie auf und ging, seine Zustimmung mit freundlich verlegener Miene einholend, an den Nebentisch, um etwas zu suchen.

So, nun war doch der Augenblick gekommen! Gewiß, im Halbdunkel klang's anders, wärmer, da ward's ihm leichter! Er rückte mit dem Stuhle; er richtete sich empor. – Eben kehrte sie ihm den Rücken. – Jetzt, jetzt!

»Fräulein Christine –«

Er sagte es wirklich. Es zitterte ihm das Herz. Bei dem Klange seiner Stimme wandte sie sich um. Nie hatte er sie bisher beim Vornamen genannt. Große, warm blickende Augen richteten sich auf ihn. Sie lehnte sich an den Tisch, als ob sie ihm still zuhören wolle. Er hoffte wenigstens, daß er es so deuten dürfe! Es schien auch wirklich der Fall. Nun also denn. Die Zeit flog; jede Sekunde machte sein Herz hörbarer klopfen –

»Seit ich Sie zum erstenmal sah, liebes Fräulein Christine –«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine Stimme sagte:

»Weißt du, wo das Teesieb hingekommen ist, Christine?«

»Das Teesieb? Das Teesieb? Nein! – Ja doch, – ja doch, Mutter. – Ich komme –«

Tibertius war allein. »Das Teesieb«, wiederholte er in furchtbarer Enttäuschung, mechanisch vor sich hinsprechend: »Das Teesieb. –«


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