Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Dreißigstes Kapitel

Wieder war's Frühling geworden! Der langerwartete Sendbote der Natur schaukelte in den Lüften und warf aus vollen Händen herab, womit er die sehnende Erde schmücken wollte. Er jubelte und jauchzte; er wiegte sich frohlockend auf und ab und schwang sich im Übermut hoch in den blauen Äther, borgte sich Arme voll goldenen Lichtes und schüttelte endlose Ströme davon über Wiesen und Täler, Höhen und Wälder.

Erfüllt von drängenden Säften, und in den wundervollsten Farben sich schmückend, sprang's überall hervor. Welch ein zartes Grün! Als ob der Himmel in Staub zerstobene Smaragden herabgeschüttelt habe.

Dazwischen ertönten – armer Mensch, der du niemals ein feierliches Kirchenläuten an einem Frühlingssonntage hörtest – die heiligen Weisen und bewillkommneten die Auferstehung der Natur.

Etwas Unbeschreibliches drang in die Brust jeder Kreatur. Konnten Haß, Leidenschaft und was immer sonst Übles in der Menschen Seele einen Raum hat, sich einfinden, wo soviel Adel und Demut sich vereinigte, wo ein unschuldvolles Kind – die Natur – süß lächelnd nach langem Schlummer die Augen öffnete und mit stumm eindringlichen Worten Frieden und Versöhnung predigte? –

In der Frühe eines solchen Sonntags stieg Dora die Treppe zum Hausboden empor. Sie wollte einige Gerätschaften heraussuchen, die in einer Kammer zurückgestellt waren. Der Gärtnerbursche grub bereits den Garten um, und der Gehilfe schnitt an den Bäumchen.

Die junge Frau kam eben aus dem Freien, noch umweht von der reinen Luft und erfüllt von dem Gefühl der Belebung, das ein Frühlingsmorgen in unsere Herzen zaubert. Die Spuren ihrer feuchterdigen Schuhe blieben beim Emporsteigen auf den weißgescheuerten, mit zarten Adern durchzogenen Treppenstufen haften, und behutsam, fast zaghaft schritt sie, von der Sauberkeit und von der Hausluft anheimelnd berührt, an dem heimlich behüteten Trockenboden der Apotheke vorüber. Seltsam scharfe, aber reizvolle Düfte von Melisse, Majoran und Pfefferminzkraut mischten sich durcheinander. Dora hielt inne und blickte um sich. So einsam, still und geheimnisvoll war es hier oben! Die Schrägbalken, die das Dach stützten, sahen wie ernsthafte Wächter drein, und zwischen den Öffnungen der ungehobelten Latten der Kräuterkammer drüben erschienen die Kisten, Kasten und Körbe, als ob ein stummes, aber bewußtes Leben in ihnen schlummerte, als ob sie mit ihrem Naturauge voll ernsten, wehmütigen Verständnisses dreinschauten, ihr Teil wüßten, dächten und sännen.

Ein plötzlicher Schauer durchdrang die junge Frau. Nun duftete es plötzlich nach Süßholz, nach harzigem Holz, nach Staub. Das weckte die Erinnerungen an ihre Jugend, das schürte in Dora eine heiße Sehnsucht nach früheren Zeiten. Das Elternhaus mit seinen Räumen, ihr kleines Zimmer, die früheste Kindheit, das Puppenspiel stiegen vor ihr auf. Der alte Reiz, Kistchen und Kästchen zu besitzen und allerlei darin geheimnisvoll zu verbergen und zu verschließen, bemächtigte sich ihrer bei dem Anblick all der Gegenstände. Mechanisch blieb der Blick an ihnen haften. Da stand ein großer, breiter Schrank, dessen obere Türen, wie bei einem mächtigen Altarschrein, zurückgeschlagen waren. Und darin zahllose Schubladen, alle mit Schildern und weißen Knöpfen versehen, daneben ein zweiter mit kleinen und großen schneefarbenen Porzellankruken, und linksseitig ein Schränkchen mit einem ovalen Schild, der Giftschrank! Auf dem Fußboden und auf den Regalen standen eigen geformte, langhalsige und dickbäuchige Retorten und Flaschen, alle sorgfältig zusammengestellt, geradlinig und in ihrer steifen Ordnung wie von einer unsichtbaren Macht beherrscht.

Nun raschelte es plötzlich in der Nähe. Vielleicht war's ein Mäuschen. Dora sah den langen, matterhellten Bodenspeicher entlang. Drüben warf die Sonne einen breiten, schrägen, scharfbegrenzten Lichtstrom durch das mit Spinngeweben überzogene Giebelfenster. Sanft, gleichsam mitleidig drang er in den stillen, wie ausgestorbenen Raum und ließ in seiner Strahlensäule zartflimmernde Atome tanzen.

Die junge Frau erinnerte sich, mit welcher Zaghaftigkeit sie als Kind die Apotheke betreten, wie sie sich gescheut hatte vor dem Provisor und dem Gehilfen. Auch die letzten Jahre vor ihrer Verheiratung stiegen vor ihr auf. Schuby, August! Wie ihr Heinrich damals begegnet war, welche Furcht sie vor ihm empfunden und welchen Respekt er ihr auch später eingeflößt hatte! Wie? War's möglich? Sie war jetzt seine Frau schon seit vielen Jahren –? Da fiel's ihr wie ein Regenschauer auf die Seele. Aus Gleichgültigkeit war Abneigung entstanden, aus dieser war der alte Mädchentrotz von neuem geboren, aus der Empörung hatte sich eine tiefe Verachtung entwickelt, und jetzt, jetzt nistete Haß in ihrem Innern! Ja, Haß! Haß! –

Dora trat ans nahegelegene Fenster; ihr war so schwer ums Herz; es drückte sie mit tausend Lasten. Sie öffnete, ließ die wundervolle Luft hereinfluten und schaute über die Dächer in die Ferne. Da drang wieder das Klopfen von der Schiffsbrücke zu ihr herüber, jenes, das einen ganzen Zauber von Erinnerungen in ihr wachrief. Vor ihr schwamm die Landschaft in purem Sonnengolde. Und welch ein wundervoller Hauch! Frischer Seewind, Erdgeruch und Blumenduft! Es war der hinreißende Atem des Frühlings!

Ja, es klopfte und hämmerte drüben, und auch ihr Herz klopfte in ungestümer, grenzenloser Sehnsucht. »Bernhard, Bernhard! Kann ich dein Bild nicht auslöschen in meinem Innern? Drängst du dich immer wieder in meine Vorstellungen? Weshalb kommst du nicht zurück – –?«

Jetzt erhob sich eine stärkere Brise und berührte Doras Angesicht. Vielleicht war's derselbe West, der noch eben die ruhige, blaue Wasserfläche der See gekräuselt hatte, der drüber hingefahren war, als sei er ein junger Meerwind, der mit dem großen Urelement Haschen spielen wollte. So war's auch damals auf dem Kirchturme um ihre Mädchenstirn geflogen; damals, als ihr Vetter Bernhard sie umfangen und ihre Seele in Wonneschauern gebebt hatte.

Dasselbe reizende Landschaftsbild! Nur war heute alles noch zarter, lieblicher in den Schmuck des ersten schüchternen Grüns, im Werden, im Jauchzen der Auferstehung. Gottes Hand strich sanft über die Welt, und in Demut flüsterte die Natur ihre Schöpfungsgebete. Und die Sonne, die holde, hehre Sonne! Liebevoll und tröstend senkte sie ihre sanften, goldenen Ströme herab und gab jedem Keim, jedem Gräslein einen Lebensfunken. Wie schön war die Welt, wie wunderhold, wie trostreich und wie kalt war doch das Dasein, wie liebearm und liebeleer der Menschen Brust! Unaufhörlich lösten sich die Tränen aus den Augen der jungen Frau. Die Schmerzen der Enttäuschung über ein unwiederbringlich verlorenes Glück verzehrten ihr Inneres.

In diesem Augenblick wurde das Geräusch von Schritten vernehmbar. Rasch bekämpfte Dora ihre Gefühle und trat zurück. Es war Semmler, der den Kräuterboden aufschloß. Als er Frau Heinrich erblickte, verbeugte er sich ehrerbietig und blieb unschlüssig stehen. Dann trat er näher.

»Ah, Sie hier, gnädige Frau?« hub er ehrerbietig an. Er stockte; er sah, daß sie geweint hatte.

»Ich habe mir ein Gartengerät geholt,« erklärte Dora, nur mühsam die rechte Haltung gewinnend.

Erst als August nach diesen Worten das Gespräch nicht sogleich wieder aufnahm, fand sie ihre alte Fassung wieder, knüpfte an Vergangenes an und erinnerte ihn auch an ihr einstiges gemeinsames Kirschenpflücken. So ward der Zwang gänzlich beseitigt.

»Ich habe die Zeit niemals vergessen,« entgegnete August, »sie ist meinem Gedächtnis so unauslöschlich eingeprägt, daß lediglich die schöne Erinnerung an sie es war, welche mich bestimmte, hierher zurückzukehren. Ihnen noch einmal im Leben begegnen zu dürfen, war mein heißester Wunsch. Ich erfuhr schon früher, daß Sie Herrn Heinrichs Gattin geworden –«

Über das Gesicht der jungen Frau zogen wechselnde Farben. Rührung über seine Anhänglichkeit und Schmerz kämpften miteinander. War sie nicht verhandelt, nicht verkauft? War's nicht für sie im Grunde eine Schande, Heinrichs Frau zu sein? Ihre Gedanken gingen hin und her. Mechanisch schaute sie durch das steife Lattengefüge in die Kräuterkammer, und mit abwesendem Blicke betrachtete sie die Dinge vor sich. Sie vermochte nicht zu sprechen, sie senkte nur den Kopf. Aber auch August war jetzt die Kehle wie zugeschnürt. So viel hatte er auf dem Herzen, von dem er hätte sprechen mögen, und noch durfte er es nicht über seine Lippen bringen.

Dann jedoch sich plötzlich bewußt werdend des Ortes und dieses Beisammenseins, machte Dora eine Bewegung zum Weiterschreiten. Aber August ließ sie nicht; er hielt sie durch einen bittenden Blick. Ihre Augen trafen und senkten sich zugleich. Jener sanft hingebende Ausdruck spiegelte sich in des Mannes Angesicht wieder, durch den er einst als Jüngling seine Gefühle verraten hatte. Noch einen Augenblick. – Dann beugte er sich stürmisch über ihre Hand herab und berührte sie mit seinen Lippen. Ein Beben ging durch Doras Körper, eine unruhige Flamme schlug durch ihre Brust; denn da sie fühlte, daß sich zu der einstigen Liebe des Knaben das Mitleid gesellt habe und eine stumme Sprache redete, stieg heiß der Schmerz über ihr verlorenes Leben in ihr empor.

Sie wehrte ihm nicht, aber nachdem es geschehen, schritt sie, ihm einen letzten, guten Blick spendend, von ihm fort, die Treppe hinab.

Lange noch stand August auf demselben Fleck und ergab sich seinen erregten Gedanken. Nun hatte sich endlich erfüllt, was er so oft mit fieberndem Verlangen herbeigesehnt. Nun hatte er ihr offenbart, daß er sie liebe wie kein anderes Geschöpf auf dieser Welt. Und doch erschien's ihm wie ein Traum, daß sie noch eben an seiner Seite gestanden und ihr schwermütiges Auge zu ihm emporgeschlagen hatte. War's wirklich Dora, Dora gewesen, deren Hand er mit sanftem Kuß berührt? –


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