Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Apotheker war schon seit mehreren Tagen abwesend. Geschäfte hatten ihn vor dem neuen Jahre nach Kiel gerufen.

Die junge Frau wußte ihre Freude kaum zu unterdrücken, als er ihr mit zwei Worten ankündigte, er werde vor Weihnachten noch eine Reise antreten. Alle ihre geheimen Pläne konnte sie nun ausführen; sie brauchte nicht versteckt und in der Sorge, sich hämischem Tadel auszusetzen, ihre Hände auftun und ihr gutes Herz walten lassen.

Viele waren es, denen sie bescheren wollte, und sie beeilte sich, ihre Gaben auszuteilen. Hier legte sie zu den warmen Kleidern Kuchen und Nüsse; dort fiel ein blanker Taler in die Hand eines Armen, und kleine Kinderscharen aus der Nachbarschaft bestellte sie ins Haus, die hier ihre Geschenke in Empfang nehmen sollten. Alle wurden bedacht, und besonders hatte Dora für ihre Freundin Sophie allerlei Nützliches eingekauft und selbst für sie die Hände gerührt. Auch für ihre Eltern lagen Arbeiten bereit.

Wenn Heinrich eine Ahnung gehabt hätte, wie hoch sich die Ausgaben für Weihnachten beliefen! Er, der alles überflüssig fand, der ihr stets zugerufen hatte, sie scheine zu glauben, er sei ein reicher Mann, während er sein bißchen zusammenhalten müsse, um auszukommen!

Soweit Doras Erinnerungen zurückgingen, waren seine Klagen über schlechte Zeiten an ihr Ohr gedrungen. Jetzt wußte sie, daß nur kleinlicher Geist die Triebfeder gewesen.

Eine Frage, die auch in diesem Jahr von ihr angeregt worden war, betraf die Hinzuziehung der Angestellten zum Weihnachtsabend. Heinrich fand wie immer eine Rücksichtnahme überflüssig, und als von Geschenken für sie die Rede war, hatte er ebenfalls kurz und bündig entschieden:

»Das wird mit Geld unten im Geschäft abgemacht. Und damit gut!«

Nachdem Dora diese Antwort empfangen, begriff sie nicht, daß sie überhaupt gefragt hatte. Das alles hätte sie sich doch vorher sagen können! Ihre Menschenliebe mußte sich versteckt auf die Gasse wagen. Bei ihrem Manne hatte sie niemals eine Unterstützung gefunden, wohl aber in solchen Fällen Schmähung und Scheltwort!

Wenn aber ihre Brust infolge der unbehinderten Ausübung solcher Werke der Barmherzigkeit jetzt einmal wieder ein volles Frohgefühl durchströmte, so brachte das Fest um so Traurigeres und verdunkelte rasch wieder die Sonne, die für kurze Zeit über ihr aufgegangen war.

Über die Ostsee hin wütete ein furchtbares Schneetreiben, das die Küsten in besorgniserregender Weise bedrohte.

Auch Kappeln und Umgegend wurden davon betroffen; auch hier hatte die Natur ihre Sturmflügel angelegt, fuhr mit blasenden Backen über Straßen und Häuser, in offene Haustüren und undichte Fenster. Sie raste und tobte in einem geradezu wilden Aufruhr, und in den Schneewirbel, den sie heraufbeschwor, mischte sich ein grausiges Heulen. Es war das Gebrüll, das die aufgerüttelten Naturgeister aus ihren Rachen herausstießen. Wie das kreuz und quer mit den schnellsterbenden Flocken durch die graue Luft wirbelte!

Es war, als ob droben Riesenlawinen in Milliarden Atome zersplittert seien und nun tausendjähriger Vorrat, mit peitschenden Besen hinter sich, den Eilmarsch durch die Lüfte angetreten habe. Und immer stärker heulte der Sturm. Mit seinem verhungerten Magen drohte er die Erde zu verschlingen, und stöhnend und ächzend wehrte sich, was die Natur geschaffen oder was menschliche Kunst aufgerichtet hatte. Hier schlug er mit Eisschnee und jagendem Regen prasselnd gegen die Scheiben; dort kniff er seinen Atem in ein Dachloch und ließ aufgehängte Wäsche geisterhafte Tänze aufführen. Dem Kirchturm riß er in seiner dämonischen Wut die Schindeln von Haupt und Leib und ließ, was er erfaßte, über Höhen und Absätze rasseln und in die Tiefe springen. Krach! Krach! Wie das klang! Als ob der Weltuntergang sich vorbereite.

Bisweilen holte der Sturm einmal einen Augenblick Atem, setzte dann aber mit erhöhter Gier an, sauste in boshaft rasendem Halloh hierhin und dorthin, durch die Straßen und über die Gassen und Dächer und zermalmte und riß herab, was ihm in den Weg kam. Da erhob sich ein alter Schornstein mit schlecht ausgefugten Steinen. Rasch noch einen Unfug! Ein Teil des Mauerwerks schlug herab auf den Feuerherd und stürzte mit solcher Vehemenz in den Kochtopf, daß die heißen Wassertropfen der Köchin um den Kopf flogen. Den Rest schleuderte die rasende Gewalt auf die Schiefer und Pfannen, zertrümmerte sie und brach mit ihren wilden Raubtieren, Schnee-Eis und Regen, in das Dach ein. –

Zwischen den Flügeln der Häuser suchte der Sturm sich Brutnester für seine Tücken. Er heulte und pfiff und raste und tobte mit solchen Lauten, daß das kleine Volk in den Wiegen ängstlich aufschrie und die Erwachsenen mit stockendem Atem emporfuhren.

Wehe den halbgeschlossenen Fenstern! Erst prasselt der Eisregen gegen die Scheiben, dann faßt der Sturm die Rahmen und fährt, an ihren Angeln zerrend, mit ihnen hin und her. Und nach diesem gierigen Spiel schlägt er sie mit solcher Wucht gegen die Außenwände, daß die großen Dreiecksplitter mit wild klirrender Musik auf das Pflaster stürzen. Aber damit nicht genug! Er bohrt sich durch die Öffnungen und fährt mit eisigem Hauch in die Räume, erfaßt Türen und rüttelt daran, als ob sich Geisterspuk rühre, späht nach leichten Gegenständen, packt sie, wirbelt sie durcheinander, stößt sie in die Ecken und läßt sie dort tanzen, fährt wieder ab, erhascht draußen ein flatterndes Tuch oder eine frei hängende Leine und klatscht sie gegen die Mauer, als ob ein besessener Teufel in ihrem toten Dasein sein Wesen treibe.

Dachpfannen, Schindeln, Planken, Zäune und Bäume – Ha! Wie er die letzteren biegt und zwingt und Komplimente machen läßt wie Tanzschulkinder, wie er ihre Zweige knackt und mordet. – Türen, Schilder, Laternen, Loses und Festes, tote und lebende Dinge, – alle umklammert er, schüttelt sie, spielt mit ihnen wie die Katze mit der Maus, faßt nur schärfer an, wenn sie sich wehren, wenn sie wimmern, ächzen, stöhnen, und springt plötzlich wie ein Panther auf neue Opfer.

Schrecklich haust er auch an der Schiffbrücke, reißt das Meer aus seiner Ruhe und spült die Wassermengen über die Ufer, peitscht sie so wild über das Bollwerk, daß die Fluten über die Straßen und in die Häuser dringen, wirbelt die festgeankerten Schiffe wie Spielzeuge hin und her, schleudert die Boote aufs offene Wasser oder an den Strand, heult und wütet und läßt nicht nach, alles von Grund aus aufzuwühlen.

Und immer noch Schnee! Schnee! Eilend, stürmend, jetzt nicht mehr zerfließend, vielmehr in festeren Formen. –

So ging's seit Tagesmitte durch die ganze Nacht, bis allmählich des Teufels Lachen erstarb, bis der rachsüchtige Geselle zuletzt nur noch einigemal wild aufatmete, die Glieder streckte, erschlafft herabsank und endlich todeserschöpft die Augen schloß. Auch das starre Naß aus Himmelshöhen zerfloß; die Bahnen wurden licht. Die große Heerstraße wurde frei, die Luft wieder klar und hell. Die Sterne wagten sich wieder hervor und schienen mit ihren milden Augen mitzutrauern über all die entsetzliche Zerstörung und Verwüstung. –

Den Physikus, der an diesem Tage morgens über Land gefahren war, überraschte der furchtbare Schneesturm unterwegs. Der Kutscher lenkte, im Unwetter abirrend, mit dem Wagen in einen Graben und vermochte, trotz äußerster Anstrengung, nicht wieder flott zu werden. Als Paulsen ihn um Hilfe fortsandte, verging Zeit auf Zeit, ohne daß er zurückkehrte. Inzwischen fegte der Wind um das Gefährt und umgab es buchstäblich mit einem Schneewall, in dem die Pferde, bis an den Leib versunken, vor Kälte und Frost zitterten. Die Halbchaise bot dem alten Herrn kein den Körper erwärmendes Asyl; er war gezwungen, im stürmenden Unwetter auf und ab zu wandern.

Nach solchen Fährlichkeiten kehrte er abends nach siebenstündiger Verzögerung zurück und legte sich unter heftigen Fieberschauern ins Bett.

Aber hiermit nicht genug! In den nächsten Tagen lief auch noch ein Brief von dem Apotheker an Frau Paulsen ein, der meldete, daß Heinrich, ebenfalls von dem Unwetter betroffen, sich eine schwere Erkältung zugezogen habe, und daß er zum Feste nicht zurückzukehren vermöge.

Als er nach acht Tagen in Kappeln eintraf, mußte er schon nach kurzem sich wieder niederlegen, und aus dem Rückfall entwickelte sich eine lebensgefährliche Kopfrose.

Dora war bald hier, bald dort, überall voll aufmerksamer Sorge, sowohl an dem Bette ihres Vaters als an dem Lager Heinrichs, an dem sie durch den schon bei Beginn der Krankheit von Heinrich zur Hilfeleistung herangezogenen Glitsch zeitweilig abgelöst ward.

Wie liebte sie den alten Mann drüben! Mit welchem Blicken sah auch er sie an, und wie oft und wie zärtlich streichelte er ihre Wangen.

 
Doras Tagebuch.

Was treibt mich heute, die Feder in die Hand zu nehmen und zu einer Beschäftigung zurückzukehren, der ich als junges Mädchen mit so viel Eifer oblag, die ich nun aber fast als etwas Kindisches belächeln wollte?

Es ist der sehnsuchtsvolle Drang, einmal wieder von mir abzulösen, was sich um mein Inneres geballt hat und mich fast erdrücken will.

Mit welchen veränderten Gedanken sehe ich heute mein Leben und alles das an, was mich umgibt. Drinnen liegt Heinrich und kämpft mit einer furchtbaren Krankheit. Seltsam! Nun, da er hilflos und verlassen, nun er gleichsam in meine Hand gegeben ist, spüre ich wieder etwas von den alten Gefühlen, die ich einst als Kind ihm entgegentrug. Mir ist, als ob ich niemals mit ihm verheiratet, als ob alles ein Traum gewesen sei. Ich handle, als sei ich aus dem elterlichen Hause herübergeeilt, um ihn aus freien Stücken zu pflegen. Ein sanftes Mitleid erfüllt meine Brust.

So bringen das Elend, die Hilflosigkeit uns auch unseren Feinden wieder menschlich näher.

Nur wenn ich an die Zukunft denke, werde ich mir bewußt, daß ich seine Gattin bin; dann überfällt mich eine bange Unruhe, daß dieser Mann wieder gesund und kräftig neben mir stehen, herrschen und regieren wird, und ich begreife nicht, daß sich all mein Sein und Denken darauf richtet, ihn seiner Krankheit zu entreißen, dem Leben zurückzugeben!

Ja, das ist's! Selbst unter der Gewähr veränderter Verhältnisse graut mir vor meinem Ehestande. Solange Heinrich eine willenlose Kreatur ist, fühle ich etwas von dem, was mich früher zu ihm hinzog. Wenn ich mir aber vorstelle, daß ich die kommenden Jahre wieder an seiner Seite leben soll, so erwachen Angst und Grauen, und ich sinne über die Möglichkeit nach, mich für immer diesen Verhältnissen zu entreißen.

Wenn meine Eltern in mein Innerstes blicken könnten! Wie würden sie sich härmen, mich so grenzenlos elend gemacht zu haben! Ja, heute glaube ich es, daß sie mit mir fühlen, daß sie mich verstehen. Wie die Gewohnheit alles seiner Reize entkleidet, so verblaßte auch in ihren Augen das Ansehen dieses unter der Maske eines erhabenen Weltweisen einhergehenden Egoisten, dem Gott ohne Herz und Seele seinen Platz auf Erden anwies.

Kann man mit so jungen Jahren schon so traurige Erfahrungen gemacht haben, daß man gute Worte aus dem Munde eines Menschen, wie sie bisweilen während der Krankheit aus dem seinigen gedrungen, nur als ein Ergebnis des Zwanges oder der Willenlosigkeit ansieht, daß man sich nüchtern klarmacht, das alles werde wie eine Blase zerplatzen, sobald der Zweck erreicht ist? Wie groß muß die Verachtung, wie tief der Einblick in eines Menschen Brust gewesen sein, wenn man den eben wiedergewonnenen Glauben gleich darauf mit einem armen Lächeln wieder abtut.

Wie ich jetzt fortfahren will, schrecke ich zurück, niederzuschreiben, was in diesem Augenblick meine Seele erfaßt! Aber doch, – ich will es sagen, weil es die Wahrheit ist, weil es sich aus den Umständen begründet: Es wäre ein nicht auszudenkendes Glück für mich, wenn der Mann da drinnen seine Augen für immer schlösse!

Ist der Gedanke strafbar? Kaum! Der Wunsch wäre es! Ich wünsche es nicht, obgleich seine steigende Lebenskraft die Wiederkehr meiner Qualen bedeutet.

Wie schön, wie herrlich träumte ich mir einst mein Leben! Und doch war mein Trachten frei von Torheiten. Ein bescheidenes, arbeitsames, aber durch Liebe verschöntes Dasein hatte ich mir ausgemalt an der Seite eines braven Mannes, vielleicht an Bernhards Seite.

Ja, an deiner Seite, Bernhard, dem mein Herz entgegenschlug beim ersten Anblick, der du mir bestimmt warst nach göttlichen und menschlichen Gesetzen. Legt nicht Gott die Liebe in unsere Brust? Wissen wir, woher sie kommt, worauf sie sich eigentlich begründet? Ist es nicht etwas Heiliges, was in unser Inneres gepflanzt ward? Sieh, Bernhard! Wie einst, als ich von dir Abschied nahm, und es noch einmal laut hinausrief: ›Ich liebe dich! Ich liebe dich!‹ so fliegen heute meine Gedanken zu dir, so zuckt es heute nach dem furchtbaren Pflichtkampfe langer Jahre in mir auf, es wieder aus meinem tiefsten Innern hervorzuholen und es in grausam süßer Qual an mein Ohr klingen zu lassen: Bernhard, Bernhard, ich liebe dich! Dir möchte ich angehören für Leben und Tod! –

Ich war eben an Heinrichs Bett. Er schläft. Auf seinem Angesicht liegt bereits ein Widerschein des alten, hochmütigen Wesens. – Er wird leben, und mein Schicksal wird sich erfüllen. – –


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