Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Siebentes Kapitel.

Dora war in schwermütiger Stimmung, und um so trüber erschienen ihr die kommenden Tage, als abermals der Herbst sich näherte, und um diese Zeit Sophie, die alte Freundin des Hauses, nicht unbedenklich erkrankte.

Das junge Mädchen ging zweimal täglich zu der alten Dame, die in einer entlegenen Straße, eine Treppe hoch, eine kleine Wohnung gemietet hatte. Sie floß immer von Dank über, wenn Dora kam, aber klagte dann doch meistens nur und sprach vom nahen Sterben.

Mit großer Geduld übte Dora die Krankenwärterpflichten, suchte jeden kleinsten Wunsch der Leidenden zu erfüllen und saß stundenlang in dem stillen Gemach und las ihr vor.

Der einzige bemerkenswerte Schmuck, der sich in dem niedrigen, mit vielen alten Möbeln und Bildern angefüllten Wohnzimmer befand, war eine Stutzuhr aus dem vorigen Jahrhundert, die mit ihrem unbeirrten, regelmäßigen Pendelschlag der dumpfen Einförmigkeit des Raumes etwas Mystisches verlieh, dessen fast beklemmenden Eindruck der Besucher sich nur schwer zu entziehen vermochte. Mitunter schlief Sophie beim Vorlesen ein, und Dora lehnte sich träumend zurück. Scheinbar lauter als vorher, ja zudringlich, erhob sich dann in der Stille das monotone Tick-Tack des alten Erbstücks, und ein leiser Anflug angstvoller Vereinsamung drang auf das junge Mädchen ein und stimmte es todestraurig.

Immer wieder richteten sich Doras Gedanken auf Bernhard, um so mehr, da er, trotz seiner Zusage, noch nicht einmal geschrieben hatte. Jeden Tag, jede Stunde, die sie mit ihm verlebt, jedes Wort, das er gesprochen hatte, rief sich Dora ins Gedächtnis zurück, und je länger sie sann und grübelte, desto schwermütiger ward ihr ums Herz. – Jüngst hatte ihre Mama vom Heiraten gesprochen und sich über die in allzufrühem Alter geschlossenen Ehen mißbilligend geäußert. Ein unklares Denken und Hoffen, daß Bernhard einmal ihr Mann werden könne, war wohl bei solchen Gesprächen in Dora aufgestiegen, aber hatte sich auch ebenso schnell wieder verflüchtigt. Sie waren ja beide noch in einem Lebensalter, wo dergleichen nicht in Frage kommen konnte. Heute aber beschäftigte sie der Gedanke von neuem und lebhafter als sonst, und unversehens fiel ihr ein, weshalb wohl Heinrich nicht heirate, wen er wohl in Kappeln zu seiner Frau machen würde, wenn er sich dazu entschlösse, und wie er als Ehemann sein werde. Nur zu oft hatte sie gehört, der Freund ihres Vaters sei eine gute Partie, aber wenn sie sich vorstellte, eine von ihren Freundinnen werde von ihm an den Altar geführt, so mußte sich ihr ein Lächeln aufdrängen. Ja, ein Lächeln, und trotzdem spürte sie in solchem Falle ein wenig Neid im Herzen, denn Heinrich war doch ein ganz anderer Mann als alle andern, die sie kennengelernt hatte. Freilich! Eine Ausnahme machte Bernhard. Wer war mit diesem zu vergleichen? Nochmals vergegenwärtigte sie sich, wie der bei dieser oder jener Gelegenheit ausgesehen, was er gesprochen, wie er sie angeblickt hatte. Sie besaß sein Bild, daß in ihrem kleinen Stübchen über dem Schreibtisch hing. Hinter dem Rahmen nickte eine der Reseden hervor, die sie an jenem Tage gepflückt hatte. War doch die bescheidene Blume für sie so bedeutungsvoll geworden, daß es herzklopfend in ihr aufstieg, wenn einmal deren Duft ihr Angesicht wieder berührte.

Aus diesen Gedanken wurde sie durch das Erwachen der Kranken gerissen, die den Kopf wendend, der sanften Pflegerin ins Auge schaute und weich sagte:

»Ah! Bist du immer noch da, meine gute Dora? Wieviel Uhr ist es schon? Wie, schon so spät? Da muß ich ja Medizin nehmen. Du, mein liebes Kind, sollst aber jetzt gehen und dich hier nicht länger langweilen.«

Und Dora antwortete, tröstete und reichte der alten Dame den Löffel mit dem schlecht schmeckenden Trank.

»Mich dünkt,« fuhr die Kranke fort, »du bist heute so ernst. Ich wollte vorher schon fragen. Fehlt dir etwas? Wie geht's denn zu Hause?«

»Gut! Papa ist über Land, deshalb hat er dich auch heute nicht besucht. Der junge Dorn ist aus Italien zurückgekommen; Papa will sehen, wie es ihm geht. Er soll wieder ganz hergestellt sein.«

»So! so! Nun, dann wirst du auch wohl bald einmal hinausmachen, und dann kommt meine kleine, treue Pflegerin nicht mehr zu mir?«

»Nein, ich gehe nicht hinaus.«

»Du gehst nicht? Will Mama es nicht erlauben?«

»Ja, die wohl, aber –«

»Aber?«

»Ach, Heinrich hat immer etwas zu reden, wenn ich Dorns besuchen will, und da haben dann auch die Eltern Bedenken.«

»So? Heinrich? Worein der sich nicht alles mischt. Es ist wirklich nicht zu sagen! – Hast du denn Nachricht von deinem Vetter Bernhard? Ist doch ein prächtiger Mensch, Dora –«

Die Angeredete erwiderte nichts, und die alte Dame suchte Doras Blick. Nebenan ging's Tick-Tack. Plötzlich war's wieder still in dem kleinen Raume, als ob nur noch die alte Uhr Leben hätte.

»Dora!« klang es dann durch die Stille des Krankenzimmers.

»Tante?«

»Dir sitzt etwas im Kopfe! Ich weiß es! Du bist betrübt; willst du es mir nicht anvertrauen?«

Dora fühlte die heiße Hand der stets etwas Fiebernden; sie schaute aber nicht auf, ihr war wirklich so traurig zumute, daß sie hätte aufschluchzen mögen.

»Sieh mich mal an, liebes Kind!« – Dora erhob den Blick, und ihre Augen standen plötzlich voll Tränen.

»Na, was ist denn? Sage es mir, meine gute Dora! Hier ist Teilnahme –« Plötzlich hustete die Sprechende heftig auf, das Blut stieg ihr in den Kopf, und mühsam aufatmend sank sie tiefer in die Kissen.

Dora erhob sich, um ihr Wasser zu reichen; die Kranke griff nach einem Schnupftuch, räusperte sich, strich mit der Rechten über die Augen und sagte, die Sprache zurückgewinnend:

»Laß nur gut sein, Dora, es wird sich schon alles machen.«

Was war das! Das junge Mädchen erschrak.

»Du meinst, Tante?«

»Glaubst du, daß ich nicht gemerkt habe, daß du deinen Vetter Bernhard –«

»Ich? Wieso?«

Dem jungen Mädchen schoß das Blut durch die Herzkammern, und verwirrt mied sie Sophiens Blick, der sich voll Teilnahme auf sie richtete.

»Du? Wieso?« wiederholte die alte Dame ihre Worte. »Du bist ja ganz verändert, seitdem der Student Kappeln verlassen hat. Das ist ja allen aufgefallen. Es war auch nicht ganz recht von ihm, dir etwas in den Kopf zu setzen, aber, du lieber Gott, Jugend hat einmal –«

»Er hat mir nichts in den Kopf gesetzt, gar nichts, Tante. Du irrst. Und wer dir das erzählt hat, hat ihn verleumdet«, stieß Dora heftig heraus.

»Sieh, Dora, daß du ihn verteidigst, daß du mir so erregt antwortest, zeigt mir, wie recht ich habe. Fasse das, was ich dir sagte, doch nicht verkehrt auf. Im Gegenteil, mein liebes Kind, an mir hast du eine teilnehmende Freundin, und wenn, was Gott verhüten möge, einmal etwas an dich herantritt, komm immer zu mir und schütte dein Herz aus. Sieh, liebe Dora, ich bin selbst ein armes Geschöpf auf dieser Welt und habe so viel Kummer erlebt, daß ich alles nachfühlen kann.

Und dein Vetter hat's mir nun mal angetan. Das ist ein prächtiger Mensch, gescheit, frisch, voll Geist, Tatkraft und Leben, gerade wie du! Ich hatte dich schon als Kind so lieb. Wenn du mich mit deinen blauen Augen ansahst, mußte ich dich auf den Arm nehmen und konnte nicht ablassen, dich zu hätscheln. – Na, was hast du denn nun wieder?«

Es war in der Tat unaufhaltsam unter Doras Wimpern hervorgequollen, und Schmerz und Rührung kämpften übervoll in ihrem Innern.

Aber dann plötzlich schoß sie empor, neigte sich über der Kranken eingefallene Wangen, küßte sie und versteckte dort schluchzend ihr Köpfchen.

»Meine gute, kleine Dora!« murmelte Sophie gerührt und hörte nicht auf, den blonden Kopf des lieben Mädchens sanft zu streicheln.


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