Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Heinrich war mit Zustimmung des Arztes zum erstenmal einige Stunden aufgestanden. Er saß aufrecht in seinem Lehnstuhl und führte mit schwachen Händen eine Tasse Bouillon zum Munde. Seine Genesung machte zwar nur langsame Fortschritte, aber immerhin ging es rascher, als mit der Besserung seines Freundes, des Physikus drüben, der sich gar nicht erholen wollte.

Da Heinrich seit seiner Rückkehr von Kiel in Fieberphantasien gelegen hatte, so fehlte ihm bei der Wiederkehr klaren Bewußtseins die rechte Vorstellung über Umfang und Bedeutung seiner Krankheit und infolgedessen auch der Maßstab einer Schätzung der unermüdlichen Ausdauer und Geduld, mit der seine Frau ihn gepflegt hatte. Dora umgab ihren Mann auch jetzt noch mit keiner geringeren Aufmerksamkeit; aber die sanfteren Gefühle, die sich bei dem Anblick des Hilflosen in ihr geregt hatten, wichen in dem Grade, als sie seine verdrießliche Stimme wieder vernahm, sein kalter Blick ihr Auge streifte, sein herrischer Wille wieder die Oberhand gewann.

Und in gleicher Folge und in gleichem Maße wurden auch bei Heinrich die Erinnerungen an die früheren Geschehnisse wieder lebendig, Erinnerungen, die sich ihm um so mehr aufdrängten, als er in seiner Frau keine liebevolle Pflegerin, sondern nur eine stumme und scheinbar völlig teilnahmlose Krankenwärterin um sich zu erblicken wähnte. Vielleicht, wenn jetzt einer von beiden die Gelegenheit ergriffen hätte, ein gutes, versöhnendes Wort zu sprechen, würden sich die hochaufgetürmten Schranken, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatten, wenigstens zeitweilig gelockert haben. Aber keiner bot dem andern die Hand, seiner besseren Natur aufzuhelfen, und so wurden diese schwachen Keime eines Dranges nach Frieden schon im Entstehen erstickt.

Zwar sagte Schübeler eines Tages zu dem Apotheker, als dieser ein freundliches Wort über dessen sorgsame Behandlung fallen ließ, er habe nicht ihm, sondern lediglich der beispiellosen Aufopferung seiner Frau seine Wiedergenesung zu danken; aber Heinrich hielt das mehr für eine der gewöhnlichen Äußerungen des Schmeichlers, als für Wahrheit.

Als Schübeler sich entfernt hatte, war Dora in großer Spannung, ob Heinrich ihr ein anerkennendes Wort gönnen werde. Noch einmal stieg ein leises Hoffen in ihr auf. Aber er blieb jetzt ebenso stumm wie bei ähnlichen Bemerkungen seiner Schwiegermutter. Was aus dieser Unterredung an dankbarem Gefühl für seine Frau in ihm haften geblieben, wurde ausgelöscht durch die Haltung Doras, die zu stolz war, sich ihrer Werke zu rühmen, und sich zu tief verletzt fühlte, um freundlich zu sein oder gar das erste Wort zu geben.

So änderte denn die Krankheit in dem Verhältnis beider nichts; im Gegenteil, Heinrich wurde Dora nur noch verächtlicher als früher.

Der Apotheker hatte sie bisher als ein gutes, aber ziemlich unbedeutendes Frauchen angesehen, das neben sonstigen Mängeln an einer krankhaften Sentimentalität leide. Nunmehr aber schloß er aus ihrem Wesen, daß sie von einem trotzigen Starrsinn beseelt sei, der nur durch die schärfsten Mittel gebrochen werden könne.

Es war an einem Spätnachmittage, als der Physikus nach seiner Dora verlangte, und Frau Paulsen herüber eilte, um ihrem Schwiegersohn während der Tochter Abwesenheit Gesellschaft zu leisten. Nachdem beide eine Zeitlang über allgemeine Dinge gesprochen hatten und dann auch auf Dora die Rede kam, sagte Heinrich plötzlich:

»Was denkt sich Ihre Tochter eigentlich bei ihrem ganzen Benehmen? Schon vor einigen Tagen wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich finde keine Worte, um meinen Empfindungen Ausdruck zu geben.«

»Wie, was? Ist wieder etwas vorgefallen?« stieß Frau Paulsen erschrocken heraus. »Ich verstehe nicht, bester Heinrich. Bitte! Erklären Sie sich deutlicher.«

»Was ist da zu erklären? Haben Sie selbst keine Augen und Ohren, verehrte Frau?« erwiderte der Mann in seinem unangenehmsten Tone und zerrte mit nervöser Ungeduld an der über ihm ausgebreiteten Schutzdecke. »Ihre Tochter geht um mich herum, als läge ich in einem öffentlichen Krankenhause, und als sei sie eine bezahlte und dabei überaus mürrische Wärterin.«

»Aber Heinrich!« rief die Doktorin empört und nahm, die gewohnte Klugheit ganz außer acht lassend, eifrig für ihre Tochter Partei. »Hat Dora Sie nicht mit der hingebendsten Sorgfalt während Ihrer Krankheit gepflegt, und haben Sie – ich habe wenigstens nichts davon erfahren – ihr auch nur den leisesten Dank ausgesprochen? Gab sie nicht überzeugende Proben ihrer Pflichttreue und Herzensgüte, zumal nach den traurigen Vorfällen, welche Sie beide einander entfremdeten und Sie im eigenen Hause trennten? Sie müßte ja ohne Selbstgefühl sein, wenn sie nicht eine Dankesäußerung von Ihnen erwartet hätte.«

»Was das nun alles wieder für Reden sind!« rief der Apotheker, den unter den Nachwirkungen seiner Krankheit der kleinste Widerspruch reizte. »Sie tun gerade, verehrte Frau, als ob Ihr Töchterchen ein Ausbund von Tugend sei, – und ich – ich«

»Wir wollen ein andermal weiter reden!« betonte Frau Paulsen, ihre Bewegung niederkämpfend, nicht ohne Würde. »Ich sehe, daß Sie noch zu erregt sind, um eine so wichtige Sache vorurteilsfrei zu besprechen, und da ist es besser –«

Diese Äußerung brachte den Apotheker vollends auf. »Ich bin nicht im geringsten erregt!« unterbrach er die Sprechende. »Ich äußere mich durchaus sachlich und erhebe mit vollem Fug und Recht meine Vorwürfe. Am Ende bin ich doch kein irgend Einer, der in diesem Hause krank ward, sondern der Herr, der Gatte Ihrer Tochter, zudem ein langer, und ich glaube, bewährter Freund der Familie –«

Er hielt inne. Am liebsten hätte er gesagt: »Ich bin der Mann, welcher Sie, verehrte Dame, und Ihren Gatten vor Schimpf und Bankerott bewahrte;« aber er sprach es nicht aus, denn aus den Augen der Doktorin schossen recht unheimliche Blitze.

Auch erhob sie sich, rückte den Sessel beiseite und sagte: »Ich gehe, Heinrich. Es ist besser so! Eine Bemerkung aber kann ich doch nicht unterdrücken: Seit Wochen beschäftigt meine Tochter und mich nur der eine Gedanke, an Ihnen Pflichten zu üben. Mich leitete die Dankbarkeit, sie der Schwur, den sie Ihnen am Altar leistete. Es war die Pflege um so schwerer, als gleichzeitig noch jemand ebenso krank daniederlag, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, nicht minder gedrängt wurden. Taten sprechen, nicht Worte! War Dora ohne Wärme, so sind wahrlich Sie in diesem Falle allein die Ursache, und wenn unter Berücksichtigung alles dessen so harte und ungerechte Worte in so brüsker Form fallen, so kann nur eine krankhafte Reizbarkeit, oder – Doch nein! Ich will nur diesen Beweggrund voraussetzen, Heinrich, keinen andern. Und nun lassen Sie mich gehen, und helfen Sie Ihrer besseren Natur zu einer gerechteren Auffassung.«

Die Frau ging, und der Mann blieb allein. Er saß lange und brütete vor sich hin. Es wurde dunkel; vor seinen Augen verwischten sich die Gegenstände. Er achtete dessen nicht. Allzu lebendig waren seine Gedanken. Dann aber überfiel ihn plötzlich ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit, ja ein Gefühl der Angst, – Angst vor seinen alten Tagen – vor dem Tode, dem er doch eben erst entronnen war. Und durch wen? Alle riefen ihm zu, er sei durch die liebevolle Pflege seiner Frau dem Leben zurückgegeben. Eine tiefinnerste Stimme sagte ihm auch dasselbe, und zum erstenmal zogen Gefühle des Zweifels und der Reue in seine Brust, die er vorher nie gekannt hatte. Aber die verflogen ebenso rasch wieder. Der Wunsch, sie zu strafen, zu demütigen, beherrschte allein alle seine Gedanken.


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