Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Siebzehntes Kapitel.

Bei Heinrichs war große Gesellschaft. Bereits vor acht Tagen war dazu eingeladen, und das bedeutete für die Herren einen schwarzen Frack und weiße Binde, und für die Damen das »beste Seidene«.

Mile Kuhlmann war, wie eine begehrte Puppe in Kinderhand, hin- und hergerissen worden, denn hier galt es, eine Taille zu ändern, dort sogar noch ein neues Kleid bis Sonnabend fertigzumachen. Sie versprach stets; sie konnte nicht nein sagen, aber sie hielt nicht Wort, und wenn man ihr Vorwürfe machte, wurde sie grob. Welche Verwünschungen hatten sich schon in Kappeln über Mile Kuhlmanns Haupt entladen! »Wenn Sie Ihre Zusage abermals nicht halten, so muß ich überhaupt in Zukunft auf Ihre Arbeit verzichten!« schrieb Frau Doktor Schübeler, und Ellisens Guste war dreimal dagewesen und hatte bei Miles älterer Schwester vorgefragt, ob es wirklich ganz sicher sei, daß sie am Dienstag käme.

Emma ging nie aus, sondern versah die Schneiderarbeit im Hause. Sie besaß eine durch die Gewohnheit des Sitzens geförderte, äußerst starke Unregelmäßigkeit am Rücken, und überhaupt hatten die Grazien nicht an ihrer Wiege gestanden. »Meine Schwester ist nicht ganz glatt gewachsen«, äußerte sich Mile über die bucklige Emma. Sie äußerte das kurz, obenhin und in vornehmer Geringschätzung etwaiger anderer Auffassungen.

»Sie sind bei Pastor Engels eingeladen, glaube ich«, sagte Guste.

Emma nahm ein Fadenende zwischen ihre dünnen Lippen, erhob die mageren Arme, deren eng zugeschnittene Ärmel kaum ans Handgelenk reichten, kniff das eine Auge zu, schaute, das Haupt erhebend, gegen das Tageslicht und sagte, während sie den Zwirn einzufädeln suchte: »Ach, niks da, es is ja bei Heinrichsens.« – (Sie nannte Heinrich stets Heinrichsen, und würde es getan haben, wenn sie tausend Jahre alt geworden wäre.) »Wird diesmal sein! – Drei Gänge und Eis – – Mile wartet auf.«

»Geht da wohl immer hoch her?« fragte Guste, während sie sich mit der umgekehrten Hand über die Nase fuhr und schiefäugig an die Decke guckte.

»Na ob!« bestätigte Emma und faltete kleine Puffen ein, welche die Ärmel an Klara Franzius' Kleid schmücken sollten. »Er ist ja unhört (unerhört) reich, der Apotheker. Na, aber ein Geizhals! Mir dauert man bloß die junge Frau. So'n junges Kind! Er sperrt sie ja wie'n Hofhund an die Kette.« –

»Wer kriegt das Kleid?« fragte Guste, die ihre Neugierde auch auf anderen Gebieten befriedigen wollte, und der in dem eben Gesagten nichts Neues geboten ward.

»Klara Franzius«, erwiderte Emma kurz. Sie hielt einen Augenblick mit der Arbeit inne, ergriff eine Stricknadel und fuhr damit wiederholt mit dieser durch ihr kahles, tief an die Stirnseiten gekämmtes Haar.

Und da das Gespräch nun durch den Eintritt einer Nachbarin unterbrochen wurde, eilte Guste rasch die Treppe hinab.

In der Tat, es war große Gesellschaft bei Heinrichs. Pastor Engel und Frau waren die ersten. Er sah aus, als ob er das Rasieren aus besonderer Passion betreibe. Ein glatteres Gesicht war nicht denkbar!

Zudem trug er das graumelierte Haar ohne Scheitel scharf nach hinten gestrichen, und um Nase und Mund zeigte sich bei ihm stets eine gewisse Röte, die bei anderen Sterblichen nur durch Erkältung hervorgerufen zu werden pflegt. Er hatte dünne, breitgezogene Lippen und allezeit mit einem demütig flehenden Ausdruck nach oben gerichtete Augen, war mit jedermann herablassend gütig und im Sprechen salbungsvoll, kurz, ganz ein Pastor im Talar, selbst in der Alltäglichkeit; im übrigen ein braver Mann.

Frau Engel glich einem armen Wesen, das eben vom Scheintode errettet worden ist und sich in das Leben noch nicht wieder zu finden vermag. Mit großen, irren, verwunderten Augen blickte sie um sich, gleichviel, ob sie sprach oder schwieg. Dazu war sie mager und blaß, und kein Mensch hatte sie je lächeln gesehen. Wenn sie das je einmal zu tun beabsichtigte, so öffnete sie den Mund nach der linken Seite und zeigte einen einzigen, spitzen, weißen Schneidezahn. Dieser schien dann zu lächeln, nicht sie.

Während Pastor Engel und Heinrich, die Teetasse in der Hand, schwatzten, und die Damen die große Gesellschaftslangweile geduldig über sich ergehen ließen, trat das Doktor Schübelersche Ehepaar ein. Er war ein kleiner, kugelrunder Mann mit einwärts gekehrten Füßen und einem Gesicht, als ob einmal eine Sense darübergefahren sei. Alles war glatt; das Kinn, die Nase und die Backen machten kaum den leisesten Versuch, höher als die Stirn zu sein. Er war nicht so recht angesehen in Kappeln, denn er betrieb die ärztliche Praxis allzu geschäftlich, machte seinen Kollegen üble Konkurrenz, liebte Wunderkuren, schwatzte viel und galt sogar als versteckter Homöopath. Namentlich letzteres paßte Heinrich gar nicht. Bei den kleinen Dosen kam für den Apotheker nichts heraus.

Seine Gemahlin dagegen war eine einfache, gebildete Dame und würde sogar anziehend gewesen sein, wenn sie nicht eine wunderbare Vorliebe für lange, wie Eiszapfen aussehende »Ohrbummeln« und geschmacklose Kleider gehabt und den ostpreußischen Dialekt gesprochen hätte. Ihr Ostpreußisch war nerventötend.

Die beiden Referendare, die dann ins Zimmer traten und stets unzertrennlich in den Gesellschaften erschienen, bildeten eigentlich die einzige Hoffnung für die junge Damenwelt Kappelns. Sie waren nicht eben geistreich, nicht einmal gesprächig, aber sie waren gut frisiert und trugen beneidenswert weißblitzende, tadellos geplättete Wäsche, die allemal die Bewunderung ihrer Umgebung hervorrief. »Wo lassen Sie waschen?« Wie oft hatten die Herren diese Frage gehört. Es war mit der Zeit ein geflügeltes Wort geworden. –

Der unverheiratete, wohlhabende und einflußreiche Senator Adler, der durch sein Erscheinen ein Gespräch über die jüngst entstandene Konkurrenz eines dreimal statt einmal in die Umgebung fahrenden, Personen und Kleingut befördernden Wochenwagens unterbrach, trug blonden, englischen Backenbart und fand selbst, daß er ein äußerst gescheiter Kopf sei.

»Das Geschäft mit dem neuen Wochenwagen geht bereits so stark, daß man an eine Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft denkt«, schaltete er mit spöttelnder Miene ein. Doktor Schübeler, der es mit niemandem verderben wollte, weil er stets einen demnächst vielleicht einmal eintretenden Wechsel des ärztlichen Beistandes in den Familien erhoffte, lachte überlaut. Seinen Beifall nahm Senator Adler als etwas Selbstverständliches hin; als aber auch das rotrasierte Angesicht den Pastors sich zum Lächeln verzog, feierte er einen seiner glücklichsten Triumphe.

Eine Bewegung entstand, als Herr von Tapp mit seiner im Alter bereits ziemlich vorgerückten Tochter Blanka erschien.

Von Tapp, ein etwas geckenhaft aussehender, alter Herr, trug einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen und eine sehr breite Halskrawatte. Ein offenbar angeborener, hochmütiger Zug in dem aristokratischen Gesicht verletzte nicht, da dieser, sobald Tapp den Mund öffnete, durch eine Beimischung von gutmütiger Verlegenheit gemildert wurde. Er hinkte auf dem linken Bein und besaß wunderhübsche Frauenhände. Da er durch die Nase sprach und stets enganschließende Lackstiefel in den Gesellschaften trug, so war es zu begreifen, daß man einen gewissen Respekt vor dem »Von« und dessen Besonderheiten an den Tag legte.

Seine Tochter war, wie Mile Kuhlmann einmal der Frau Amtsrichter Hübeler verraten hatte, eigentlich ganz plattmager, aber die Kunst vermochte viel. Eine stark aufgestülpte Nase, die einen Freier zu wittern schien (ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter, eines geborenen Fräuleins von Pfannentuch), macht Blanka von Tapp nicht schöner. Im ganzen war sie aber kein übles Mädchen. Sie war häuslich, fleißig und gutherzig, zudem voll Aufmerksamkeit und Liebe für ihren alten Papa.

Herr von Tapp sprach über politische Konstellationen, über Legitimitätsprinzip, konstitutionelle Monarchie, Parlament, Staatsinteressen, Steuern, Erbpachtverhältnisse und Allodial-Güter. Man glaubte das Register eines Staatshandbuches vor sich zu haben.

Frau Franzius, der man einen Platz im Sofa einräumte (Klara, ihre Tochter, ein junges, hübsches und munteres Ding, ward gleich von einem der Referendare in Beschlag genommen), war eine nette, resolute, wenn auch etwas eitle Frau, und ihr bedeutend älterer Mann ein harmloser Mensch. Nur einen störenden Fehler hatte Franzius; er erzählte mit Vorliebe Anekdoten. Das Gesicht seiner Gattin erhielt einen ganz eigentümlichen Ausdruck, wenn sie die nun schon seit fünfundzwanzig Jahren wiederkehrenden Geschichtchen anhören mußte, aber sie unterbrach ihn nie und lächelte, als ob sie das Neueste vom Neuen höre. Sobald er aber aufgehört hatte, nahm sie lebhaft das Wort und berührte rasch ein andres Thema. Mit richtigem Gefühl schloß sie, daß sie so am besten ferneren Wiederholungen begegnen könne.

Franzius, ein wohlhabender Mann, der von seinem Gelde lebte, war gerade im Begriff, eine Geschichte von König Ludwig von Bayern und Saphir zu erzählen, als er durch den Eintritt der Familie Kuchen und des Inspektors Blume, eines verlegen blickenden Junggesellen im Alter Heinrichs, unterbrochen wurde.

Frau Kuchen war eine bejahrte Witwe, die reizende Löckchen an der Stirn trug und das Gesicht eines Engels besaß. Aber das war nur äußerlich. Sie zermalmte mit sanft freundlicher Stimme alles, was Kappeln an Einwohnern hatte, und wurde von ihrer Tochter, die rote Haare, aber schöne, dunkle Augen besaß, bestens unterstützt.

Wehe dem, der mit Kuchens in Feindschaft geriet. Eine Steinmühle hatte schlechtes Räderwerk gegen die Zerkleinerungsstärke des Mäulchens dieser beiden Damen!

Inspektor Blume war jedenfalls die eigenartigste Erscheinung in diesem Kreise. Er war der Sohn eines Justizrates, der Vermögen hinterlassen hatte. Er besaß im eigenen Hause eine zimperlich eingerichtete Junggesellenwirtschaft und frönte zweierlei Leidenschaften: dem Gartenbau und dem Kartenspiel. Dreimal in der Woche hatte er mit verwandten und bekannten alten Damen seine Boston-Partie. Unter diesen war er gefürchtet; da galt seine Meinung alles; man beobachtete sein Stirnrunzeln wie den Zorn Jupiters, kochte ihm Kamillentee und schickte ihm Krankensuppen, hoffte ihn zu beerben und zu heiraten, während er der Gesellschaft als ein äußerst harmloser Mensch erschien, über den man lächelte. Selbst den Kindern der befreundeten Familien begegnete er mit einer verlegen artigen Höflichkeit und redete sie an, als seien sie Erwachsene.

Wenn er je einmal aus der Rolle fiel, so war es beim Spiel. Er sprach dann mit erregt zitternder Stimme, namentlich, sobald er durch einen Formfehler beim Geben oder sonstwie in Verlust geraten zu sein glaubte. Dabei sah er aus wie ein gezähmter Panther, dem man die Krallen abgeschnitten hat. Das vorspringende Unterkinn, die suchenden Augen, das halbbewachsene Gesicht wirkten beinahe furchterregend, aber ein knabberndes Mäuschen konnte diesen Naturmenschen, der nie aus seinen vier Wänden herausgekommen war, einschüchtern. –

Inzwischen waren noch andere Gäste erschienen, unter diesen Amtsrichter Hübelers, Papa und Mama Paulsen und die Familie Tach. – Tach war Advokat für die Landbevölkerung, stammte selbst vom Lande und sprach gern plattdeutsch. Mit seiner formlosen, dicken Figur glich er einem Schneemann. Er trug den Spazierstock stets aufrecht im Arm und verbarg seine Füße unter langen, weiten Beinkleidern.

Seine Frau, eine geborene von Himmelpforten, war einst eine sanfte Schönheit gewesen, fühlte sich aber seit Jahren leidend und hatte alle Mittel gegen Migräne durchprobiert, die es auf der Welt gab. In ihrem weitabstehenden Seidenkleide und mit dem über die Schläfen gekämmten Haare ähnelte sie der allbekannten Salondame auf altmodischen Stutzuhren.

Nur Senator Ellisen und Frau fehlten noch. –

Dora verlebte trotz äußerer Ruhe böse Augenblicke. Alle Geladenen kamen zu spät! Zu sieben und ein halb Uhr hatte die Köchin sich mit dem Essen eingerichtet, und nun war es schon fast eine halbe Stunde darüber. Einmal schlüpfte sie in die Küche. Die Mädchen gossen Sahne über die Hasen, und die Köchin wandte sich mit einem beschwerten Blick zu der jungen Frau und sagte:

»Können wir noch nicht anrichten, Madame?«

Auch Mile Kuhlmann und Heinrichs Barbier, der in einem abgelegten Frack des Apothekers und mit weißen baumwollenen Handschuhen den Tee präsentierte (Glitsch hieß er), erhoben sich, zurzeit untätig wartend, bei Doras Eintritt, und Mile sagte in ihrem vorlaut schmeichelnden Tone:

»Noch nicht so weit, Madame? Wer fehlt denn noch?«

»Ellisens! Senator Ellisens!« betonte die junge Frau, gleichzeitig einer im Hintergrunde der Küche mit dem Aufwaschen von Tassen beschäftigten Aushilfefrau mit: »Tag, Mutter Nissen, wie geht's denn?« freundlich zunickend.

Statt hier beruhigt zu werden, fand Dora nur neue Nahrung für ihre Besorgnis. Ging's nicht nach dem Schnürchen, so hatte sie eisige Mienen und spitze Worte von Heinrich zu erwarten.

Bevor die junge Frau in die Vordergemächer zurückkehrte, warf sie noch einen Blick ins Eßzimmer. Der Speisetisch sah prachtvoll aus, alles flimmerte und blitzte. Sie sah, in ihren Gedanken mit Ellisens beschäftigt, nach der Uhr, ordnete an der Tafel und forschte, ob sonst alles tadellos sei. Eines der Rouleaux war nicht herabgelassen. Drüben flimmerte Licht beim Provisor. Dabei fiel Dora ein, daß die Angestellten noch benachrichtigt werden müßten. Sie eilte in die Küche zurück, um Auftrag dazu zu geben. An alles mußte man denken! Da stand im Flur Frau Senator Ellisen, und Mile Kuhlmann nähte an Anna Ellisens Kleid eine Falte ein.

»Unverzeihlich, unverzeihlich, Fräulein Kuhlmann!« hörte sie die Senatorin sagen. »Erst vor einer Viertelstunde brachte Ihre Schwester das Kleid für Anna.«

Die Damen begrüßten sich, der Senator aber hielt mitten im Rockausziehen inne und reichte unter vielen Entschuldigungen der jungen Frau seine große Hand.

»Um Vergebung, um Vergebung, daß wir so spät kommen!«

»Bitte, bitte! Ich freue mich herzlich, Sie zu sehen. Ich fürchtete nur, daß vielleicht –«

»Die Kuhlmann hat Anna ja sitzen lassen«, flüsterte die Senatorin Dora zu.

In diesem Augenblick öffnete Heinrich die Tür. Das laute Schwirren der Gäste drang auf den Flur. Er machte sein schlechtestes Gesicht. Bei Ellisens Anblick schwand aber der finstere Ausdruck, und ein verbindliches Lächeln legte sich um seinen Mund.

Nun traten auch diese ins Wohngemach. Ein allgemeines lautes oder unterdrücktes Ah! ging durch die Gesellschaft.

Es war schon bekanntgeworden, daß Ellisens schuld seien, daß man so lange, gepeinigt von Hunger und Durst, umherstehen mußte.

»Nun nur rasch, daß sofort zu Tisch gegangen wird!« flüsterte Heinrich der ängstlich nickenden kleinen Frau in seinem unangenehmsten Tone zu, als ob sie an der Verzögerung schuld sei.

»Können wir uns hinsetzen?« rief Dora in die Küche hinein. »Ellisens sind da! Sind die Herren benachrichtigt?«

Just kam Glitsch die Treppe hinauf, hinter ihm Tibertius, noch an den Handschuhen knöpfend, und hinter ihm mit verlegenen Verbeugungen, die Rechte verbergend, Kordes.

»Sie haben einen Platz neben mir, gleich beim Eingang rechts«, nickte Dora dem Provisor zu; dann eilte sie zu ihren Gästen.

Über Tibertius' Gesicht flog ein unbeschreiblich glücklicher Ausdruck. Wie gut, wie freundlich sie war!

Die Komplimente der »Leute« wurden noch allergnädigst erwidert. – »Gut'n Abend« – »Gut'n Abend!« Dann erschien endlich Glitsch und meldete, daß alles bereit sei.

»Bitte, zu Tisch, meine Herrschaften!« rief Heinrich, machte eine seiner theatralischen, steifförmlichen Verbeugungen gegen Frau Pastor Engel und eröffnete den Zug der Hungrigen.

Tischgang: – Karpfen mit Meerrettichsauce und Schlagsahne. – Ragout von Schnepfen mit Trüffeln und Champignons. – Rehrücken. – Schneemustorte, Eis. – Obst, Konfitüren, Käse, Hochheimer, Alter Pouillac, Château Giscour, Cliquot. –

Dora saß neben Pastor Engel, dem es, wie er versicherte, lange nicht so gut geschmeckt hatte. Durch die breitgezogenen Lippen glitt der Hochheimer nicht ohne jedesmaliges Zungenschnalzen. »Ganz vortreffliche Weine trinkt man bei Ihrem Herrn Gemahl, ganz vortrefflich! – Darf ich, Herr Tibertius?« Der Sprechende neigte die Flasche über des Provisors Glas.

Tibertius dankte gerührt nach zwei Seiten, denn Dora legte ihm, ohne zu fragen, noch ein großes Mittelstück vom Karpfen auf den Teller und winkte Mile Kuhlmann, mit der Meerrettichsauce zu kommen.

»Ihre Frau Gemahlin sieht etwas leidend aus!« warf Dora teilnehmend hin. »Es geht ihr doch sonst besser, denke ich?«

»Wenn derrrr Himmel«, antwortete Pastor Engel (jedem r gab er einen ganzen Familienrat mit auf den Weg), »einem eine so große Anzahl Kinder beschert, ist's nicht leicht. Meine Frau ist in derrr Wirtschaft zu sehrrr angestrengt. Sie müßte einmal eine längere Zeit pausieren können. Aberrr das ist leiderrr nicht zu machen. – Auf Ihrrr Wohl, verehrte Frau!«

Auch seiner übrigen Familienmitglieder gedachte Pastor Engel eingehend. Er sprach vom Ältesten Karl, der mit Gottes Hilfe studieren solle; von Emilie, die so sehr an den Augen leide; von den beiden Zwillingen, die der Himmel äußerlich so freundlich begnadet habe, daß jüngst Fremde auf der Straße das Kindermädchen gefragt hätten, wem die reizenden Kinder gehörten; von Gustav, der am Holzplatz gefallen und sich den linken Arm gebrochen; von der merkwürdig begabten Lila, die mit vier Jahren die Melodie: »Mit dem Pfeil, dem Bogen« auf dem Klavier zu finden wisse, und endlich von dem kleinen Heinrich in der Wiege: ein Gottesgeschenk trotz des großen Kinderrrreichtums! (Dieses Wort unterstützte der Pastor noch durch ein ganz besonderes Räderwerk.)

Inzwischen schwirrte auch unter den übrigen Tischgenossen ein lebhaftes Gespräch hin und her. Eine Gruppe hatte Senator Gustav Adler ganz für sich in Anspruch genommen. Er witzelte versteckt über den Bürgermeister (leider hatten Bürgermeisters abgesagt, da sie schon beim Stadtsyndikus eingeladen waren) und minder versteckt über andere Bekannte.

»Es gab neulich den unvermeidlichen Kalbsbraten mit Milchpunsch«, äußerte er. »Hoffentlich gibt's das nächste Mal den üblichen Kalbsbraten ohne Milchpunsch oder, um alle Gäste aus der Fassung zu bringen, Rinderbraten mit Milchpunsch. Die Ursachen dieser rührenden Abwechslung sind ja jetzt auch ermittelt worden. Die Kinder von Werners (Werner war Inhaber des Kappelner Wochenblattes) haben alle Blätter aus dem Kochbuche herausgerissen. Nur eine Seite ist stehengeblieben, die mit dem Kalbsbraten. Was ist denn da zu machen? Nein, seien wir auch gerecht.«

»Herr Senator! Herr Senator! schämen Sie sich!« riefen die verheirateten Frauen, schmunzelten aber doch höchst beifällig, denn sie zogen aus dieser Spöttelei einen ganz anderen und zwar sie sehr befriedigenden Schluß auf sich selbst.

Herr von Tapp nahm von der Schnepfenpastete zum zweitenmal, indem er Glitsch durch einen Seitenblick heranwinkte. Glitsch flog förmlich herbei, obgleich Herr von Tapp sogar weniger für das Rasieren bezahlte als andere Leute. Aber der Barbier fühlte sich nun einmal geschmeichelt, das adlige Kind mit dem Schermesser berühren zu dürfen.

»Sorgen Sie auch für Rotwein«, flüsterte von Tapp leise mit einem Hinweis auf die leerschimmernde, einen starken, dunkelbraunen Absatz zeigende Flasche, deren Inhalt seinem Kennergaumen ungewöhnlich gemundet hatte. Und Glitsch erwiderte mit einem hastig devoten: »Sofort, Herr Baron,« und enteilte.

Doktor Schübeler erklärte Frau Franzius, daß er nur einmal bei einem Diner, beim seligen Landgrafen, eine solche Schnepfenpastete gegessen hatte, erhob wiederholt das Glas gegen Herrn Heinrich und schwur sich im stillen, der Homöopathie gänzlich zu entsagen. Er wollte den Apotheker zum Freunde behalten, ja, das wollte er. Die Soupers waren doch zu außerordentlich! Heinrich grinste mit den großen Zähnen, nickte, trank bedächtig das Glas aus und sprach mit der Frau Pastor über den mangelnden Kirchenbesuch und den Missionsverein.

Besonders lebhaft wurde Fräulein Kuchen von dem Referendar unterhalten. Der Wein tat seine Wirkung, und der künftige Assessor begann – von Leos (Leopoldinens) Augen bezaubert – ihr sehr starke Komplimente zu sagen. Leo mit der erfahrenen Mädchenstirn wußte, daß aus dieser Tändelei niemals etwas Ernsthaftes werden könne, aber, du lieber Himmel, sie hatte so wenig. Einmal wollte man sich doch amüsieren!

In seinem Übermut hub der Referendar an, allerlei anzügliche Bemerkungen über Blanka von Tapp zu machen, die drüben mit den aufgeworfenen Lippen und dem etwas blöden Ausdruck im Gesicht Inspektor Blumens Belehrungen über die verschiedenen Hyanzinthenarten anhörte.

Blanke war in gleichem Alter wie Leo, und beide stritten seit Jahren stets um die nämlichen heiratsfähigen Männer. Auch Inspektor Blume stand auf der schon fast vergilbten Liste.

Als der Braten herumgereicht wurde und der Champagner floß, erhob sich Heinrich, zupfte an seiner Krawatte und begann eine lange Tischrede. Vorher warf er Leo Kuchen noch einen etwas mißbilligenden Blick zu, weil sie gerade laut lachte und nicht gleich aufmerkte.

Die Hochs brausten durch den Saal, obgleich die Gäste sich selbst leben ließen; Glitsch und Mile Kuhlmann eilten geschäftig hin und her; die Champagnergläser wurden geleert und wieder gefüllt; Schwatzen, Lachen und Gläserklingen erfüllten die Luft, die Hitze im Raum und in den Köpfen vermehrte sich; die Zungen lösten sich; die Augen glänzten; der Frohsinn war im Steigen; die Lust beherrschte Herzen und Sinne. Mit einem Fragezeichen in der Miene: »Mußt du fort, Mann?« sah Frau Doktor Paulsen zum Physikus hinüber, der sich plötzlich erhob und unter einer höflichen Verbeugung gegen seine Tischnachbarin das Zimmer verließ. Man hatte in der Nachbarschaft nach ihm verlangt.

Nach Heinrichs Rede erhob sich Senator Ellisen, ein reicher Holzhändler. Er war ein braver, aber leider nicht sehr gebildeter Mann. Ellisens, Mutter und Tochter, spielten sich als »Pafnühs« auf, wie Glitsch einmal geäußert hatte, und des Senators Tischreden konnten schon wegen seines steten, erbitterten Kampfes gegen ein gutes Hochdeutsch selbst den unverwöhntesten Menschen mit Bedenken erfüllen.

»Es wird außerordentlich«, zischelte Gustav Adler seiner Umgebung zu, erreichte ein verstecktes Kichern und blickte dann mit künstlichem Ernst auf den älteren Kollegen.

»Herr Apotheker Heinrich, unser lieber Chastcheber (Gastgeber – alle g wurden schon in frühester Jugend von Senator Ellisen wie ch gesprochen und die ch wie g), hat mich, offen gesagt, zu einer Erwiderung gereizt, meine Herrschaften. In seine ausgezeichnete Rede kam ein Passus vor, den ich auf das entschiedenste widersprechen muß. Er sagte, er dankte uns, daß wir das Bescheidene, was er uns geboten hatte, so nachsichtig entgegengenommen hatten. Nu, meine Herrschaften, was das anbelangt, so werden Sie mir beistimmen, daß – man gerade heute abend keinen Hunger gelitten hat.« – Ellisen lachte selbstbewußt und gab das Signal zu allgemeiner Heiterkeit, einer Heiterkeit, die allerdings nur der gehobenen Stimmung und der Lust am Spott über den Redner entsprang. »Ich meine ins Gegenteil, wir saßen hier heut abend an eine fürstliche Tafel. Wahrlich, wer eine Hausfrau hat, die so viel Tugenden und ausgezeichnete Eigenschaften besitzt, den müssen wir glücklich schätzen. – Unsere hochverehrte Frau Wirtin soll leben. Sie und ihr Herr Gemahl leben hoch, hoch, hoch!«

Tibertius stieß in seiner Begeisterung dreimal mit Dora an, einmal gleich, einmal zwischen durch, als sich alles herandrängte, und einmal am Schluß, nachdem der Schwarm sich wieder entfernt hatte. Und sie nickte ihm so freundlich und mit so gutem Ausdruck im Auge zu, daß ihm das Herz schwoll. Als sie aber gar hinzufügte: »Ich trinke auf Ihr Wohl, auf Ihr ferneres Glück von ganzem Herzen, Herr Tibertius!« da ging das Gefühl mit ihm durch, und nur durch Leeren eines vollen Glases vermochte er seine Bewegung niederzukämpfen. Was er ihr dann, durch den Wein ermutigt, anvertraute, war so außerordentlich, daß Dora seine Bitte, dieses einstweilen als strengstes Geheimnis zu bewahren, durchaus begreiflich fand.

Währenddessen saß Mile Kuhlmann in der Küche und schwatzte. Sie hatte mit Glitsch Kuchen, Obst und Konfitüren herumgereicht. Jetzt trat eine Pause ein; man konnte sich nach gewissen Dingen umsehen. Ohne Braten, Wein und allerlei Überbleibsel verließen beide niemals die Gesellschaften, bei denen sie aufwarteten. Was stibitzt ward, wurde in einen Korb getan, der je nach der Gelegenheit des Hauses in irgendeiner dunklen Ecke irgendeines Raumes seinen Platz fand.

»Er hat schon wieder geschimpft!« sagte Mile mit ihrem unschönen Gesicht, während sie sich auf den Küchenstuhl niederließ; dann blickte sie empor, rümpfte die Nase mit den beiden impertinenten Naslöchern und wartete auf eine Nachfrage der übrigen.

»So? Was denn?« stießen nach ihrem Wunsch die Mädchen neugierig heraus. Nur die alte Aufwärterin horchte gelassen hin.

»Herr Glitsch muß erzählen!« erklärte die Näherin mit sichtlichem Behagen am Klatschen. Sie ergriff einen Teller, den Stine ihr hingeschoben hatte, und knabberte an einem Rest Pastetenteig. »Herr Glitsch! Was sagte der Herr?«

Glitsch setzte das Wasserglas ab, in das er sich Wein geschenkt hatte, fuhr sich über den Mund und sagte: »Na, er rief mich heran und sagte, wie ich dazu kommen täte, den Provisor eine Flasche von den besten Wein hinzustellen. Madame hatten mir das direkt (direkt war ein stetes Lieblingswort des Barbiers) anbefohlen, sagte ich. Na, das Gesicht, das er machte! Es ist gut! sagte er. Den Provisor, den hat er überhaupt auf'n Strich. Das hab' ich schon lange weg. Er kann ihn nicht leiden; ist ja auch ein verrückter Kerl.«

Tibertius rasierte sich selbst; das war für Glitsch genug.

»Haben Sie, Stine?« unterbrach nun Mile das Gespräch mit einer nur für die Köchin verständlichen Bewegung. Stine nickte und blinzelte nach dem Küchenschrank. Das war so eingebürgert. Mile machte der Köchin die Mieder und das Sonntagskleid; dagegen sorgte diese bei den Gesellschaften für die Näherin.

»Kein Mensch da? Keine Bedienung im Eßzimmer?« ertönte jählings eine kurze, unwillige Stimme, die Stimme Heinrichs. Glitsch und Mile fuhren wie elektrisiert in die Höhe und eilten davon.

»Ich kann den Kerl, den Glitsch, nicht leiden!« äußerte die Köchin, zu den Frauen gewendet. »Das ist ein richtiger Schleicher und trägt dem Herrn alles zu.« Das Hausmädchen nickte, die Alte aber stimmte mit Worten bei:

»Ich auch nicht; ich trau' ihm nicht über den Weg.«

Die Mädchen hielten in allem zu ihrer Madame, die sie liebten und bemitleideten. Es war ihnen nur zu gut bekannt, wie unglücklich die junge Frau war.

Inzwischen hatte die Fröhlichkeit im Saal ihren Höhepunkt erreicht. Viele Reden wurden noch gehalten. Man ließ die Schwiegereltern und die Damen leben und wünschte den Unverheirateten die baldige Erfüllung ihrer geheimen Wünsche. Schließlich hatte sich Tibertius, dem der Wein in den Kopf gestiegen war, auch erhoben und ließ sich folgendermaßen vernehmen:

»Meine Damen und Herren! Zwar bin ich – das heißt – verzeihen Sie, wenn ich in dieser angesehenen Gesellschaft das Wort ergreife. Es drängt mich, in meiner Eigenschaft als Hausbewohner und nur allzu erfüllt – – Ich wollte mir nur erlauben, verehrte Anwesende, das Glas auf das Wohl derjenigen zu erheben, welche ein Stern am Firmamente ist, nein, die Sonne unter den Gestirnen, unter allen Blumen diejenige, welche durch ihren Duft, durch den des Herzens und Gemütes – –« Hier machte Senator Adler einen anzüglichen Witz, die Umsitzenden kicherten leise, und Tibertius verlor den Faden. »Verehrte Anwesende! Niemand, wollte ich sagen, kann besser beurteilen –« (»Schließen Sie lieber, Herr Provisor«, flüsterte Pastor Engel, der Heinrichs Stirn beobachtete, die sich in bedenklich finstere Falten zog.) »Ja, ich bin am Ende, obgleich ich nie zu Ende kommen sollte, deren Lob zu verkünden, welche als Hausfrau hier waltet und –« Die meisten horchten schon nicht mehr auf und lachten nun gar unversteckt. Dora saß in tausend Ängsten. Sie sah, daß der gute Mensch sich durch seine unzusammenhängende Rede Blößen gab. Noch einmal zischelte Pastor Engel. »Nun also, meine Herrschaften, das Wohl der besten, edelsten, herrlichsten Frau, welche das Erdenrund trägt, sie, die nicht nur in unserem Kreise, nein, die überall, wohin sie ihren Blick wendet, überall, wohin sie ihren Fuß setzt, wie eine milde Fee –«

Tibertius hielt inne und starrte, nach Worten suchend, geradeaus. In demselben Augenblick flog Mile Kuhlmann, ungeschickt über den Türabsatz stolpernd, ins Zimmer, und nun brach auf Kosten des Provisors und der Näherin ein allgemeines, sturmartiges Gelächter aus.

»Auf ihr Wohl«, flüsterte Tibertius bleich und erregt, während er sich herabbeugte und mit Dora anstieß.

Er war plötzlich nüchtern geworden, ganz nüchtern.

In dem Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, zerrte er an der Schale der Apfelsine, die vor ihm auf dem Teller lag, und blickte scheu vor sich nieder. »Verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit, Frau Heinrich«, stieß er, zu der jungen Frau gewendet, zitternd heraus. »Ich meinte es gut. Es drängte mich, Ihnen Dank zu sagen für alle Freundlichkeit.«

»So habe ich es auch aufgefaßt, Herr Tibertius«, erwiderte Dora warm. »Gewiß! – Und wegen Ihrer Angelegenheit sprechen wir noch weiter!« Während sie noch redeten, wurden die Stühle gerückt. Herr Heinrich rief: »Gesegnete Mahlzeit!« und alle erhoben sich.

Erst gegen Morgen trennte sich die heitere Gesellschaft, und auch gegen Morgen erst schlich Mile Kuhlmann mit dem wohlgefüllten Korbe nach Hause.

»Mein Gott, so spät, Mile?« rief Emma, die bei dem Eintritt der Schwester erwachte. »Hat's so lange gedauert?« Die Angeredete nickte, schwankte und fiel, von der dumpfen Stubenluft umnebelt, auf einen Stuhl. »Was ist dir, Mile? Bist du nicht wohl?«

»Nichts, nichts, es war da so heiß, und von ein paar Gläsern Wein – bin ich so –« Sie sprach nicht aus, ihr Kopf sank herab; im nächsten Augenblick war sie bereits eingeschlummert. Glitsch hatte zu oft in der Küche mit Mile angestoßen, und Mile konnte nun einmal keinen Wein vertragen! – Emma aber stand auf, stützte der Schlafenden das Haupt und deckte sie sorgfältig zu. Zu erwecken war Mile niemals, wenn ihre plötzliche Schlafsucht sie überfiel. Das wußte die Schwester. Mochte sie denn ruhen! Emma schlüpfte wieder ins Bett, und bald streute der gnädige Gott auch über sie wieder seine Mohnblumen aus. – Nun war alles still in der kleinen Stadt Kappeln!


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