Hermann Heiberg
Apotheker Heinrich
Hermann Heiberg

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Zweites Kapitel

Endlich war nun für Dora der Tag der Konfirmation gekommen. Schon vorher war sie stolz auf den Eindruck, den sie in dem langen schwarzen Kleide machen würde. Es war ein prachtvoller Stoff, nicht in Kappeln gekauft, sondern unter Nachnahme aus einem Engrosgeschäft in Hamburg bezogen. Paulsens hatten die Adresse von Frau Bürgermeister Friedrichsen erhalten, für deren Minna auch eins angeschafft worden war.

»Es knistert ordentlich! Wundervolle Ware! Da wird Dora gut von haben«, hatte Mile Kuhlmann, die Schneiderin, im Provinzdialekt gesagt, als sie das Kleid anpaßte, die Brustweite über Doras noch etwas unentwickelten Körper nahm und vorläufig erst alles mit Nadeln feststeckte. »Ja, und so billig!« hatte Dora betont; »denken Sie, die Elle nur drei Mark!«

»Es ist nicht zu glauben,« bestätigte die Schneiderin und schob Dora mit einem »Drehen Sie sich mal um, bitte!« der Fensterseite zu.

»Den Rock ein bißchen recht lang«, hatte die Konfirmandin gebeten, und wirklich rauschte es hinter ihr her, als ob die Pagen zum Schleppentragen jeden Augenblick eintreffen müßten.

Welch ein seliges Gefühl durchdrang Dora, trotz der verweinten Augen, als sie aus der Kirche kam. Den ganzen übrigen Tag der Mittelpunkt im Hause zu sein und nur mit »Sie« angeredet zu werden! Das Großartigste von allem aber war das Geschenk des Herrn Heinrich. Er hatte ein goldenes Halsband geschickt (»kostet gewiß fünfzig Taler, Mann«, hatte Doras Mutter gesagt), das alles überbot, was man bisher in Kappeln gesehen hatte.

All der Groll, den Dora in letzter Zeit gegen den Geber gehegt hatte, war vergessen, als er nachmittags zum Gratulieren erschien.

»Vielen, vielen Dank«, stieß Dora heraus, reichte Herrn Heinrich die Hand und sah ihn mit ihren treuen Augen an. »Es ist zu schön, viel zu schön!« –

»Wenn es Ihnen nur gefällt, Fräulein Dora,« erwiderte er freundlich und nickte, »dann ist der Zweck erreicht.« – Er sagte ganz ernsthaft »Sie«. Das rührte Dora so sehr, daß ihr Tränen in die Augen traten, und von einem raschen, hochherzigen Entschluß getrieben, rief sie: »Bitte, nennen Sie mich auch ferner du, das ›Sie‹ klingt so fremd.«

»Nein, Fräulein Dora, nun haben Sie die Kinderschuhe ausgezogen, jetzt gehört es sich so«, erwiderte er. Heinrich war heute so nett, gar nicht spöttisch, gar nicht so von oben herab, er war reizend, zutunlich und freundlich. Als sie abends beim Punsch saßen und er sogar Doras Wohl ausbrachte, übermannte sie ihr demütiges und dankbares Herz solchergestalt, daß sie beim Apfelsinengang aufstand, an seinen Platz ging und ihm zuflüsterte: »Nun wollen wir Schmollis trinken, Herr Heinrich, das heißt, Sie sagen wie früher wieder du.«

»Na, wir wollen's noch mal in Ruhe überlegen, liebe Dora«, erwiderte er und nickte ihr gnädig herablassend zu. Da stieg wieder das frühere Gefühl der trotzigen Auflehnung in ihr auf. Das war dieser unausstehliche Ton. Sie bereute heftig, daß sie ihm entgegengekommen war, und trat in zorniger Beschämung zurück. Ja, mit einmal kam sie sich wieder wie ein Kind vor, und ihre gute Laune war dahin.

Als die Gäste Abschied nahmen, reichte Herr Heinrich Dora die Hand, hielt sie eine Weile und sagte zu ihrer Überraschung: »Ich weiß es, liebes Fräulein Dora, daß Sie mir vorhin zürnten. Ich meinte es aber gut. Es ist wirklich besser, daß es so bleibt; glauben Sie es mir. Nun sind Sie nicht mehr böse, nicht wahr?« Da schüttelte sie den Kopf. Sie war schon wieder ganz besiegt. Wie er doch ihre Gedanken erriet!

»Gute Nacht, liebe Dora« (das Fräulein ließ er weg!), »und nochmals alles Glück im neuen Lebensabschnitt und – gute Freundschaft!« – Da schlug sie herzhaft ein. Er war doch zu nett, – wenn er wollte. –

Als Herr Heinrich das Licht löschte und sich auf die rechte Seite drehte, – pfui, wie der Docht noch glimmte! Er drückte ihn mit angefeuchteten Fingern vollends aus und verbrannte sich trotz dieser Vorsicht ein wenig Zeigefinger und Daumen – August hatte gerade eben die letzten Worte des Gedichts »Wie ich im Gotteshaus sie sah« vollendet. Der Schlußabschnitt war eine einzige, in Tinte verwandelte Schmerzensträne. Sie lautete:

»Und dann vorbei! Die Orgel flutet über,
Es treibt der Schmerz die Träne mir empor.
Du weißt es nicht, doch keiner hat dich lieber,
Als der jetzt weinend neigt das Ohr!«

Eigentlich hätte August lieber das Augenlid gesenkt oder das schwermütige Haupt weinend geneigt. Das Ohr beim Orgelspielen weinend neigen, war etwas ungewöhnlich. Indessen der Reim hatte auch sein Recht, so beruhigte er sich. Noch einmal las er sich das fünfzehn Verse umfassende Gedicht mit erhobener Stimme vor. Bei der letzten Strophe rührte ihn seine eigene Poesie dermaßen, daß er Tränen unter den Wimpern fühlte. Da er gerade nichts zur Hand hatte, wischte er sich mit dem umgekehrten Zeigefinger durchs Auge und flüsterte: »O meine Dora, meine Dora! Wie quälst du mich!«

In diesem Augenblick ertönte die Nachtklingel. Da August dem Gehilfen, dessen Tag heute war, den Dienst abgenommen hatte, mußte er zur Hand sein. Er erhob sich rasch und eilte verdrießlich brummend, aber sonst geräuschlos in seinen gestickten, hinten schon stark heruntergetretenen grünen Morgenschuhen die knarrende Treppe hinab.


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