Fritz Grünbaum
Die Hölle im Himmel und andere Kleinkunst
Fritz Grünbaum

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Wenn Dichter Lieben . . .

Wenn einer acht Gymnasialklassen gemacht hat, wenn einer die Maturitätsprüfung abgelegt hat, wenn einer gar Jurist geworden ist, so möchte ich hundert gegen eins wetten, daß dieser Mann Gedichte macht. Hundert gegen eins setze ich, daß ein solcher Jüngling den Beruf in sich fühlt, sich lange Haare wachsen zu lassen, auffallende Kravatten zu tragen, großgeblumte Westen spazieren zu führen, mit einem Wort: ein deutscher Dichter zu sein. Gott, schließlich das ärgste ist das nicht. Kartenspiel und Alkoholgenuß sind viel schlimmer, denn sie geben ein öffentliches Ärgernis; die Gedichte aber braucht ja niemand zu lesen! Nicht wahr?

Leo Haberlandt war Gymnasiast gewesen, hatte die Matura gemacht und war Jurist geworden. Also? Also war er ein Dichter. Schön!

Das heißt, nein! Nicht schön! Denn die Leute stellen sich den Beruf eines Dichters viel zu einfach vor. Sie kalkulieren so: ein Dichter braucht zum Schreiben nichts weiter als Feder, Tinte, Papier und Radiermesser, so wie der Schuster für seine Werke Leder, Pech, Zwirn und Ahle benötigt. Basta! Aber ich meine, man kann sich doch das Dichter- und Schusterhandwerk trotz Hans Sachsen nicht so ohne weiteres zusammenkoppeln. Denn wenngleich auch 164 einmal ein Dichter Pech bei seinen Gedichten haben kann, ledern dürfen sie niemals sein. Die Leute aber kalkulieren trotzdem weiter: Außer dem Handwerkszeug braucht der Schuster nichts mehr, also auch der Dichter nicht. Das erste Paar Schuhe ist noch nicht tadellos, das zweite schon besser, das dritte gut, das vierte sehr gut usw.

Also, das ist doch ganz falsch. Total. Das heißt, beim Schuster stimmts noch. Der braucht zu seinem Handwerksgerät nur mehr Kundschaften. Der Dichter aber? O, o! Ich will schon nicht sagen, daß er auch Talent haben muß, weil das eine veraltete Ansicht ist. Aber Anregung braucht er, Anregung, verstehen Sie das?

Wie schaut nun so eine Anregung aus? Sehr einfach. Faustdicke, schwere, blonde Zöpfe muß sie haben, blaue Augen und rote, rote kußdurstige Lippen. (Es können übrigens auch schwarze Zöpfe und braune Augen sein. Farbe ist hier mehr oder weniger Nebensache. Aber von den roten, roten, kußdurstigen Lippen kann ich nicht einen Strich abhandeln lassen.) Die Scharfsinnigen unter meinen Lesern, beziehungsweise Zuhörern werden vielleicht bereits erraten haben, daß die geschilderte Anregung in nichts anderem besteht als in dem sogenannten »süßen Mädel«, das – wie Sie ja aus den deutschen Romanen und Novellen der Jetztzeit wissen werden – notwendigerweise zu dem Metier eines modernen Dichters gehört.

Diese Notwendigkeit leuchetet auch unserem Freunde Leo Haberlandt ein, und so sah er sich mit großer Gewissenhaftigkeit nach einem süßen Mädel 165 um, selbstverständlich nur aus Liebe zur Dichtkunst.

Mit welchem Erfolg, das wissen alle Klatschbasen der Stadt. Und das kam so: In der Herrengasse hatte Leo nämlich eine Junggesellenwohnung, mit streng separiertem Eingang natürlich. Aber dieser Eingang zum Paradies führte an der Hausmeisterswohnung vorbei, somit auch an den glänzenden, neugierigen Augen des Hausmeistertöchterleins Ritschi. Hausmeistertöchter von Junggesellenlogis sollten eigentlich immer blind sein. Leider traf das bei Ritschi nicht zu und so erzählte sie jedem, der es hören wollte, folgendes: »Alsdann dos is schon nit mehr schön mit'n Herrn Haberlandt. Jojda mamenko, Herschoften, dos is a Feiner. Jed'n Tog gehta mit aner andern. Und imma a Frailn mit ondere Hoor! So a Grasl sakra! Der holt was auf Abwechslung!«

Aber der Schein trügt. Wir werden sehen, daß es absolut nicht Leos Hang zur Polygamie zugeschrieben werden konnte, wenn er seine süßen Mädeln so häufig wechselte wie eine sekkante Hausfrau die Dienstboten. Nämlich: Ja wie fang ich denn nur an? Die nachfolgende Geschichte habe ich nämlich von Fräulein Ritschi, die mir folgendes anvertraute: »Wissens, die vorigen Weihnächten gibt ma da Herr Haberlandt zehn Ranischeln und sagt a ma: Frailn Ritschi, sogt er, kaufens an schön' Chrisbaum und gebens holt a poor Ketten un silberne Nuss'n un Pomarantschn und so drauf, ich krieg heut Obns Besuch. No, Sie kennen sich denken, wie schrecklich neigierig doß ich wor. Ich homma gedenkt, so Weihnächten, die wos a Dichter feiert, die müssen ganz was extras sein. Hob ich mich holt in 166 Vorzimmer hintan grosen Speiskosten vasteckt und homma Obacht geb'n.« Es ist leicht ersichtlich, daß ich meine Erzählung nicht in diesem wohlklingenden Jargon fortsetzen kann.

Ich habe also aus Ritschis Erzählung das Wichtige herausgeschält und gebe hiermit diese Rekonstruktion wieder. Also es war um die Weihnachtszeit und zwar im Dichterwallen Leo Haberlandts jene Zeit, in der er gerade bei der siebzehnten Muse hielt, welche hinwiederum die fünfte in der Reihe jener unter seinen Freundinnen war, die blonde Haare und blaue Augen hatten. Mit einem Wort: es war die Zeit der Antschi. 24. Dezember, abends.

Unruhig wandelt Leo das Zimmer auf und ab. Seine Seele hat Feiertag, sein Körper trägt das Festgewand. Erstens die Kravatte; der neueste englische Schlager von Goldmann & Salatsch mit einem Dessin! Mit einem Dessin! Es wird mir grün und gelb vor den Augen. Zweitens: ein Gehrock. Dieser Gehrock war vielleicht das schönste Gedicht unter Leos Gedichten. Natürlich Glockenfasson, wie es sich für einen Dichter geziemt. Wenn Leo darin wandelte, wunderte man sich unwillkürlich, daß es nicht zu läuten anfing. Drittens: eine französische Weste mit einem Reliefmuster, Weintrauben mit Rebenranken. Diese Weste geht über jede Schilderungskunst. Es ist am besten, man spricht nicht von ihr. Sie läßt sich ja doch nicht beschreiben. Ich bin überzeugt, wenn ein Bauer diese Weste gesehen hätte, er hätte die Sprache verloren.

Und wie es hier roch! Zwei Worte: Französisches Parfüm! Ein Wort: Famos! Es roch nach jenem 167 verderblich duftenden Wasser, für das der deutsche Dichter, der etwas auf sich hält, unter dem Namen Trèfle Incarnat die wahnsinnigsten Preise zahlt.

Ein mystisches, feierliches Halbdunkel lag im Zimmer. Keine Kerze, keine Lampe brannte, nur das Bogenlicht eines Geschäftsladens gegenüber in der Straße warf einige dämmernde Strahlen durchs Fenster, die das Mobilar des Gemachs in schwachen Umrissen erkennen ließen. Auf einem Tischchen, mitten in einem Bücherhaufen stand ein dunkler Tannenbaum und zitterte mit den Zweigen.

Eine kichernde Glocke ruft plötzlich: Bimbimbimbim! Das ist Antschi. Mit langsamen, priesterlichen Schritten bewegt sich Leo zur Vorzimmertüre. Er ist ganz Weihnachten. Das Fest des Herrn!

Noch immer hörte man das übermütige Läuten, bis die Tür geöffnet wurde und ein fröhliches, klingendes Lachen erscholl. Da verstummte die Glocke vor Neid und Scham, denn das Lachen war wie ein verirrter Frühlingstag im Winter, wie ein lustiger Sonnenstrahl, der aus grauen Regenwolken bricht.

Gleich darauf wirbelte etwas Lichtes ins Zimmer, man sah einen weißen wehenden Schleier und einen braunen Sammthut, der wie ein Komet durch die Luft fuhr und auf ein Fauteuil fiel. Strengte man ein wenig die Augen an, so erblickte man nun eine Feuergarbe von hellblondem, wildzerzaustem Haar, in dem tausend winzige Schneeflöckchen glitzerten. Dieser Wirbelwind – muß ich es erst verkünden? – war Antschi.

168 Antschi, die siebzehnte Muse!

Ich glaube nicht, daß Antschi eine Goetheforscherin war. Ich glaube auch nicht, daß sie mit ihren Eingangsworten Goethe zitieren wollte. Vielmehr bin ich der Ansicht, daß Goethe das deutsche Wörterbuch keineswegs gepachtet hat, und daß Antschi instinktiv aus dem deutschen Sprachschatze jene zwei Worte zusammenklaubte, die vor ihr Goethe schon gesprochen. Ihr erster Ausruf nach ihrem Eintritt war nämlich: Mehr Licht!

Mehr Licht! Das war ein Wunsch, den jeder vernünftige Mensch für völlig berechtigt erklären mußte. Nicht so ein deutscher Dichter, nicht so Leo Haberlandt. Mit müder Stimme lispelte er zur Erwiderung: »Mein Kind! Es soll finster um uns sein, wenn es in unserer Seele leuchtet. Und ist doch heut ein besonderes Leuchten. Der Tag des Herrn!« Er faßte Antschi bei den Fingerspitzen und geleitete sie bis zum Kanapee, wo beide sich niederließen. Und er begann zu sprechen. Mit eindringlichen Worten sprach er über das Weihnachtsfest vom religiösen, philosophischen, sozialen und ästhetischen Standpunkt. Da er bei jedem dieser Standpunkte zirka 20–25 Minuten verweilte, ergibt eine einfache mathematische Operation, daß Leos Weihnachtsvortrag ungefähr 1½ Stunden Zeit in Anspruch nahm.

Als er geendet hatte, sprang Antschi kurz entschlossen auf, zog ein Zündhölzchenschachterl aus der Tasche und zündete die vielen Kerzen des Christbaums an. Als das Licht aufstrahlte und fröhlich hin und her durchs Zimmer schoß, sah man 169 einen müden Zug um Antschis Mund. Na ja! Vom sozialen, ästhetischen, religiösen und philosophischen Standpunkt! Kein Wunder!

»Gestattest du, daß ich meine Jacke ablege?«

Leo gestattete. Unglaublich großherzig, nicht wahr? Antschi war ein Gotteswunder. Süß, duftig, blond, zart und lieb! Lieb! Zum Totküssen.

Wir werden sofort sehen, wie Leo das zu würdigen wußte.

Als sich nämlich das Gotteswunder auf seinen Schoß setzen wollte, sagte er:

»Pardon, mein Kind, ich dachte mir nun, es wäre recht passend, wenn wir unsere heutige Christfeier mit einer kleinen Weihnachtsdichtung einleiteten.«

»Bitte«, sagte das Gotteswunder und setzte sich wieder verschüchtert auf das Kanapee.

Leo begann seine Vorlesung. Die kleine Novelle war etwas länglich geraten, aber schließlich sind ja auch ¾ Stunden keine Ewigkeit, und so ging auch das vorüber.

»Gestattest du, daß ich meine Handschuhe ablege«, kam es fast klagend von ihren Lippen.

Leo gestattete. Zynische Leute werden zwar sagen, ein Anderer hätte Antschi schon vor 2 Stunden die Glacés von den süßen, weißen, kleinen Händchen gezogen. Aber was verstehen die Leute von Poeten?

»Nun, mein Kind, wollen wir Bescherung halten«, sagte Leo mit Gönnermiene. Antschis Engelsgesicht heiterte sich auf. Ein Seufzer der Erleichterung durchzitterte ihr schlankes Figürchen, und in ihren Augen standen zärtliche Vorstellungen von bunten Seidenbändern, duftigen Spitzen, durchbrochenen 170 Strümpfen, frivolen Lackstiefelchen und anderem göttlichen Unsinn.

Wie ein Hohenpriester trat Leo an den Tisch, auf dem um den strahlenden Tannbaum die Geschenke lagen. »Zunächst, mein Kind, nimm hier: Goethes Gedichte. Wenn deine Seele stille, friedsame Feierstunden hält, sollst du diese Gedichte lesen. Aber wenn Freude an Kampf und Spiel dich durchbebt, sollst du unsern lieben Liliencron zu Hand nehmen, mit dem ich dich hier gleichfalls beschenke. Und wenn ein leises Weinen durch dein Herz geht, lies diesen Heine hier!«

Ohne Antschis Zustimmung abzuwarten, begann er, ein Goethe-Gedicht vorzulesen. Dann ein zweites, dann ein drittes. Antschis stille Duldermiene war zum Erbarmen. Nach dem vierten Gedicht fiel eine große Träne auf ihren Schoß: »Mich drückt der Schuh so schrecklich«, sagte sie und durch den Tränenschleier traf ihn ein angstvoller Blick, der sagen wollte: »Ja verstehst du denn nicht?« Jeder andere an Leos Stelle hätte Antschi mindestens den Schuh ausgezogen, eventuell bei dieser angenehmen Gelegenheit einen raschen Kuß auf ihr Füßchen gepreßt, mit einem Worte gewußt, wo sie der Schuh drücke. Denn jeder halbwegs vernunftbegabte Mann weiß, wenn ein Mädchen der Schuh drückt, ist es nie der Schuh, der dran Schuld ist. Aber Dichter sind halt eine eigene Rass', und so sagte Leo nur mit leisem Tadel: »Siehst du, mein Kind, das kommt davon, wenn man so kleine Stiefel trägt.« Hierauf wollte er darangehen, die unterbrochene Vorlesung wieder aufzunehmen. Aber der Himmel, von dem jetzt ein 171 Wolkenbruch niederging, wollte es nicht. Wenn die großen Tropfen fallen, so ist auch der Regenguß nicht fern. Frauen sind ja viel imstande, was das Weinen betrifft, aber was sich Antschi jetzt leistete, war beispiellos. Ratlos stand Leo, der Dichter, da und sagte endlich: »Ja Kind, was hast du denn? Was fehlt dir eigentlich?«

Da kam es, erst schüchtern klagend, dann immer heftiger und schließlich brausend wie die Wogen einer Sturmflut aus Antschis Mund: »Da – da – da sitz ich jetzt scho – o – o – n zwei Sch – Stunden hier, u – u – und du hast mir noch nicht einmal ein Bussel gegeben. Ich glaub zweieinhalb Stunden, länger braucht man nicht zu warten. Ja was glaubst du denn, du Fadian! Wer steht sich um deine talketen Bücheln! Keiner! Da hast!« (Bum! Goethe kam auf die Erde zu liegen!)

»Ha! Was der sich vorstellt! Ich pfeif dir auf deine Gedichte!«

(Krach! Liliencron teilte Goethes Schicksal.) »Hätt' ich nur der Hannerl, der Trudel und der Miltschi gefolgt. Die haben mir von dir abgeraten. Mit aufgehobenen Händen haben sie mich gebettelt, ich soll nur mit dir nichts anfangen. Da hast du deine dummen, dummen Scharteken.«

(O Schmerz! Heine war im Bunde der Dritte!)

Flammend vor Zorn stand Antschi mitten im Zimmer, und während das entzückendste Karminrot der Empörung sich auf ihr bildhübsches Gsichtel legte, setzte sie ihren Hut auf, zog ihre Jacke an, bastelte ein bissel an den Handschuhknöpfchen herum und warf einen letzten Blick auf den Dichter. Noch 172 hätte Leo Zeit gehabt, Antschi war doch so bescheiden! Ich bin überzeugt, drei Küsse wären ihr genügend gewesen. Kann man weniger verlangen als drei Busseln? Meiner Ansicht nach ist dies sehr wenig! Hätte sich Leo zu dieser tapferen Tat aufgerafft, Antschi wäre ihm um den Hals gefallen, und alles wäre gut gewesen. Aber nichts dergleichen! Wie eine Henne, der man die Jungen rauben will, stürzte sich Leo auf die am Boden liegenden Bücher, und während Antschi wortlos das Zimmer verließ und dröhnend die Tür zuschlug, legte er schmerzlich lächelnd den Goethe, den Liliencron und den Heine auf den Tisch zurück.

*

Das ist die Geschichte des großen Don Juans Leo Haberlandt. Sie zeigt, daß die Frauen der Literatur höchst bedauerlicherweise ein geringes Verständnis entgegenbringen. Sie beweist klar und unzweifelhaft, daß es die »süßen Mädeln« zwar sehr gern haben, wenn ein Dichter sie liebt, daß sie aber, wenn er sie liebt, alles von ihm verlangen, nur keine Gedichte. Im lauschigen Zimmerwinkel soll er sie in Ruh lassen – das heißt mit den Gedichten. 173

 


 


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