Jeremias Gotthelf
Leiden und Freuden eines Schulmeisters – Zweiter Teil
Jeremias Gotthelf

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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Wie der Pfarrer mir die Schule dokteren will.

Als die Leute aus der Stube waren, trat der Statthalter zum Pfarrer und sagte ihm schmunzelnd: »Gellit, Herr Pfarrer, mr hei es bravs Schuelhus jetzt? U zallt isch's o, dr Chilchmeier het geng nache-n-usgrechnet mit de Lüte-n-u dr Schumeister het e Wohnig wie-n-e Herr. Weit dr se nit o cho luege?« So mußte ich mit ihnen die Treppe auf und wie da Mädeli rot wurde, als der Pfarrer zur Thüre eintrat! Es lag zwar nicht alles darüber und darunter; die Better waren nicht ungemacht, die Stuben nicht ungekehrt, die Kinder nicht ungewaschen, der Ofen nicht voll verlöcherter Strümpfe und Hosen; aber es war das erstemal, daß der Herr in unsere Stube kam, das erstemal, daß Mädeli mit ihm reden sollte, vor dem es so großen Respekt und zu dem es so großen Glauben hatte; darum wurde es rot, und bang klopfte ihm das Herz sichtbarlich unterem weißen Hemde. Der Pfarrer rühmte Mädeli gar, wie es sauber Hus heig, ganz anders als mängi Schulmeisteren, und fast gar wäre Mädeli dazu gekommen, ihm ein Kaffee zu machen, wenn nicht der Statthalter absolut den Herrn Pfarrer hätte traktieren wollen. »Dr cheut o mitcho, Schumeister, we dr weyt,« sagte er mir; aber ich ging nicht mit. Ich sagte beim Abscheidnehmen dem Pfarrer: ich hätte gerne mit ihm geredet, wie ich die Schule einzurichten hätte? Neuis müeß doch ga, das mache mir schon lange Kummer. »Ja, ja, Schumeister,« sagte der Statthalter, »mr wey nit vergebe bauet ha; dr cheut mache, daß üser Buebe recht gschickt werde; m'r heis gar übel nötig. We mr nit o öppis lere, su werde-n-is dHerre z'schlimm.« Der Pfarrer sagte, mir, ich solle darüber nachdenken, was ich machen wolle, und dann solle ich zu ihm kommen; wir wollten sehen, wie etwas einzurichten sei.

Nun sann ich und sann; aber ich hatte es fast, wie jener Zimmermann, der fluchte, wie ihm doch das d. Sinne zuwider sei. Ich brachte nichts heraus, als daß ich großen Fleiß haben müsse. Am Morgen wolle ich schon vor 8 Uhr in der Schule sein und nachmittags die Kinder nicht vor 4 Uhr heimlassen; wolle während dem Mittag die Federn schneiden. Auch dünkte mich, es sei am kürzesten, die Heustöcke bruchsweise rechnen zu lassen; man verirre am wenigsten, wenn man es einmal könne. Auch etwas Themaschreiben, dachte ich mir, könne nicht schaden; auch Quittungen die Knaben abschreiben zu lassen, möchte nützlich sein. Ich hatte auch etwas von einer Lehr gehört, welcher man die gegenseitige sagte, die solle gar ring gehen, hatte man mir gesagt; aber ich verstund mich nicht darauf. Ich nahm mir vor, den Pfarrer zu fragen, ob er sie mir zeigen könne.

Mit diesen Resultaten meines Sinnens machte ich mich an einem schönen Dezemberabend zum Pfarrer auf. Ich teilte ihm die Ergebnisse meines Forschens mit und meinen Wunsch, von der gegenseitigen Lehre etwas zu vernehmen.

Der Pfarrer sagte mir, die gegenseitige Lehre sei keine besondere Lehre, sondern nur eine besondere Art und Manier, die Kinder zu unterrichten, so nämlich, daß, was ein Kind lerne, es wieder andere lehren müsse. Auf diese Weise vervielfältigten sich die Lehrer; die Kinder würden daher mehr beschäftigt, ihre Zeit besser benutzt.

Das Ding gefiel mir gar nicht übel und ich war gleich bereit, schon morgen das Ding in meiner Schule angehen zu lassen, bemerkend, etwas davon hätte ich immer gemacht; Fragen überhören und buchstabieren mit den kleinern hätte ich mir gar oft durch größere Kinder abnehmen lassen.

Der Pfarrer ärgerte mich mit einem Lächeln, das auf seinen Lippen schwebte, und sagte dann noch: »Schulmeister, das geht gar nicht so geschwinde; ich fürchte, wir würden ein gar arg Pfuschwerk bekommen; denn damit der gegenseitige Unterricht gut gehe, sind zwei Dinge vonnöten, und ich weiß nicht, wie es mit diesen beiden bei euch steht? »Vor allem aus muß die Schule in Abteilungen und Klassen scharf gesönderl sein, nicht nach der Größe oder dem Alter, oder der Zahl der Kühe und Pferde ihrer Vater, sondern genau nach ihrem Wissen und den Stufen, welche man in den verschiedenen Fächern zu machen pflegt. Wollt ihr eine Schule lancasterisch einrichten, so müßt ihr also vor allem aus des Stufenganges in jedem Fach euch klar bewußt fein und müßt genau wissen, auf welcher Stufe ein jedes Kind steht, auf welchem Punkte es muß angelangt sein, um es auf eine höhere zu befördern. Zweitens aber müssen die Kinder, da sie einander selbst unterrichten, alles klar und bestimmt wissen und deutlich begreifen; sonst können sie nicht deutlich und bestimmt lehren. Der Unterricht, der sie zu solchem Lehren befähigt, muß daher ein sehr regelmäßiger und planvoller, verständiger und verständlicher sein, sonst ist der gegenseitige Unterricht der verderblichste von allen: denn dann wird er zu einem förmlichen Abrichten, und keine Kraft im Kinde wird geübt als das Nachahmungsvermögen, welches den Affen bezeichnet. Und wenn ihr auch beides habt, dann erst geht die Not an, Schulmeister; dann erst müßt ihr beständig hinten und vornen sein, müßt allgegenwärtig sein in jedem Kreise, müßt selbst Unterricht geben und müßt besonders dafür sorgen, daß ihr kein einzig Kind aus dem Auge verliert, daß ihr über jedes alsobald könnt Rechenschaft geben, sowohl über seine Eigentümlichkeiten, seine Fähigkeiten, als seine Kenntnisse. Was meint ihr nun, Schulmeister, könnt ihr das Ding morgen angehen lassen?«

Ich sagte: nein! obgleich ich den Pfarrer nicht recht begriff da mit der Klassenabteilung und dem Stufengange. Aber was er denn meine, das gehen solle? fragte ich ihn.

»He, Schulmeister,« sagte er, »vor allem, dünkt mich, wollen wir die Schule ordentlich abteilen und einrichten in Klassen und Abteilungen. Ihr habt bis dahin nur diese Abteilungen gehabt: Namenbüchler, Buchstabierer, Leser und Fragenbüchler in zwei Abteilungen, solchen, die am Fragenbuch noch lernten, und solchen, die es ausgelernt.

»Diese Einteilung besteht in den meisten Schulen; sie bestimmt den Rang; nach ihr werden die Examenrödel gefertigt. Nun laßt uns auch Religion, Rechnen und Schreiben als Fächer ansetzen, zur Klasseneinteilung benutzen, wodurch wir dann auch in diese Fächer einen bestimmten Gang bringen müssen. Dann müssen mir nicht nur die Kinder, sondern auch die Zeit bestimmt einteilen, müssen abzählen, wie manche Stunde man diesem Fach oder jenem widmen und wie man die Fächer auf die verschiedenen Klassen so verteilen könne, daß sie sich am wenigsten stören und daß der Lehrer immer an einem Orte sein könne, ohne daß die andern Klassen dadurch besonders benachteiligt würden.« Ohne einen solchen Stundenplan werde die Zeit nie recht benutzt und bald das eine Fach, bald das andere benachteiligt, je nachdem der Lehrer in der Laune sei oder für ein Fach mehr befähigt, als für das andere.

Einen solchen Stundenplan hätte ich auch, aber nicht auf dem Papier, sondern nur im Kopfe, sagte ich. Da müsse man sich aber immer darnach richten: ob wenig, ob viel Kinder da seien. Wenn am Morgen aufgesagt und gelesen sei, so rechneten die obern, und wenn nachmittags gelesen sei, so schrieben die obern, was es noch ergeben möge, und dreimal in der Woche singe man.

Ja, das sei ganz gut; aber wenn dann die kleinern rechneten neten und schrieben? fragte der Pfarrer.

Ja, das ginge die noch nichts an; mit denen hätte man genug zu thun, sie lesen zu lehren, geschweige daß man sie noch schreiben und rechnen lehren könnte; da käme man nirgends hin. Es werde dem Herrn Pfarrer nicht Ernst sein damit? sagte ich.

Gar sehr Ernst sei ihm dieses; wenn man nicht bei den Kleinen die Schulverbesserungen anfange, da wo man meist gar nicht daran denke, so seien alle Versuche nur Wind und Thorheit. Die meisten gegenwärtigen Schulen thäten gerade das Gegenteil von dem, was sie sollten. Die Schulen sollten die Fähigkeiten der Kinder entwickeln, und gerade in den Schulen thäten die Kinder versumpfen, gewöhnten sich an Gedankenlosigkeit, Ohren zu haben und nicht zu hören, Augen und nicht zu sehen. Es sei ein Unsinn, und zwar ein gottloser, junge Kinder während der Zeit ihrer größten Lebendigkeit und Regsamkeit stundenlang hinter Buchstaben zu setzen, deren Sinn sie nicht begriffen, um diese Buchstaben anzusehen stundenlang und dann während einigen Augenblicken sie herzuplappern. Diese gräßliche Einförmigkeit töte alles Leben im Kinde; daher lernten Kinder, die zu Hause nicht getrüllet würden, in der Schule auf höchst langsame Weise lesen, und eben deswegen erleide ihnen das Lernen so furchtbar. Daher käme es, daß eine Menge Kinder in der Unterweisung weder wüßten, was im Fragenbuch noch was in der Kinderbibel stehe, obgleich sie dieselben hundertmal durchlesen, noch achtgeben könnten auf das, was der Pfarrer sage. Es hätte kein Lehrer sich der Kindergedanken bemeistert und Herrschaft über sie ausgeübt, sie fixiert auf einen Punkt; daher würden die Gedanken herrn- und meisterlos, und niemand könne sie festhalten, am wenigsten die, denen die Gedanken gehörten, daher eine Unzahl Menschen elende Sklaven ihrer Gedanken, Empfindungen, Triebe seien. Daher hätten eine Menge Menschen keine Augen für die Herrlichkeit der Natur, keine Ohren für die Stimme Gottes, nur Augen und Ohren für das, was ihre Lüste reize oder befriedige. Daher käme es, daß man eine Menge Schulmeister klagen höre im Frühjahr, nun hätten sie keine Freude mehr an der Schule; die Besten seien ausgetreten und es wäre nichts rechtes mehr da. Da geschehe ihnen recht; sie hätten eben in der furchtbaren Schulunordnung sich nur mit einigen abgegeben und nicht mit der ganzen Schule gleichmäßig; daher hätten sie keinen Nachwachs, daher hätten sie nur einige, die etwas könnten; die andern taugten nichts, aber durch des Lehrers Schuld. Es hätte aber auch selten einer den rechten Verstand, eine Schule zu werten. An den Examen prunke der Lehrer mit einigen Schriften, einigen Rechnungen, einigen Fragen, daß das ganze Examinatoren-Kollegium sämtlich auf den Kopf sich stellt vor Staunen und wieder Staunen. Wie erbärmlich es mit den übrigen aussehe, das beachte dann niemand; daß das die besten Schulen seien, wo durch die ganze Masse durch ein gleichmäßiges Streben, ein gleichmäßiges Ergriffensein und Fortschreiten sich zeige, das beachte ebenfalls niemand. Wenn es mir daher aufrichtig mit einer Schulverbesserung ernst sei, so müsse ich von unten auf anfangen. Nicht nur werde es sich zeigen, wie weit ich es in Rechnen und Schreiben z. B. bringe, wenn ich früher anfange, sondern auch, wie ganz andere Kinder, wie fassungsfertig ich sie erhalte, wenn es mir gelinge, die aufgeweckten, lebendigen Kleinen aufgeweckt und lebendig zu erhalten in der Schule. Lasset diese Kleinen zu mir kommen, habe der Heiland gesagt, und gerade die Kleinen seien es, die man in sogenannten christlichen Schulen auf die heilloseste Weise vernachlässige.

Ich saß da, wie vom Himmel herabgefallen. Also sollte ich jetzt nicht nur mit Reichen und Armen, sondern sogar noch mit Kleinen und Großen schreiben und rechnen in der Schule! Da schien's mir wirklich, als ob die Frau Statthalterin recht hätte und es mit dem Pfarrer nicht ganz richtig sei in seinem Obergaden. Nachdem ich den Pfarrer lange darauf angesehen hatte, was für ein Gesicht er dann eigentlich zu solchen Dingen mache, sagte ich ihm bescheidentlich: ich wüßte nicht, wie das gehen sollte; ich zweifle, ob die Kinder so klein schon einen Verstand hätten zu solchen Dingen; dann hätte man in einer so großen Schule nicht viel Zeit, sich mit den Kleinen abzugeben; man möchte ja jetzt kaum kommen nur mit dem Lesen und Buchstabieren; und endlich wüßte ich nicht, was die Bauren dazu sagen würden; sie seien das nicht gewohnt.

Der Pfarrer sagte mir: ich solle doch sagen, was die Kleinen für einen Verstand brauchten zu den Dingen, die ich jetzt mit ihnen mache? Ob es dann einen andern Verstand brauche, um einen geschriebenen oder einen gedruckten Buchstaben zu erkennen, oder eine Zahl? Etwas nachzubilden sei ja der Kinder größtes Vergnügen; ich solle sie nur betrachten in ihren Spielen. Er wolle wetten: wenn der Lehrer es verständig anfange, so hätten die Kinder ein viel größeres Vergnügen an der Schule als früher; ja ihr Vergnügen wüchse in dem Maße, in welchem ihr Thätigkeitstrieb beschäftigt werde. Auch solle ich nachdenken, ob dann eigentlich die meisten Kinder nicht vom ersten bis vierten Jahr am meisten lernten in ihrem ganzen Leben. Und wenn man es vernünftig anfange, so könne man Kinder von sechs bis sieben Jahren, ohne ihnen ein Buch in die Hand zu geben, weit gescheuter haben, als jetzt sechzehn- bis siebzehnjährige Kinder.

Ich wolle das dem Herrn Pfarrer glauben, sagte ich; aber da lernten die Kinder desto länger nicht lesen, und gegenwärtig brächte man es bei manchem schon nicht dahin, daß es lesen könne, wenn es in die Unterweisung solle.

Gerade das Gegenteil werde geschehen, sagte der Pfarrer. Ich solle doch nicht glauben, daß das Kind in der Zwischenzeit, während der Lehrer nicht bei ihm sei, lesen lerne. Nicht die Hälfte der Zeit sehe es ins Buch, und wenn es darein sehe, so geschehe es gedankenlos. Erhalte man es aufgeweckt durch andere Fächer und erleide es ihm nicht, daß es nur das Buch und immer das Buch habe, so komme es mit doppeltem Appetit wieder zum Buche und lerne in einer Viertelstunde mehr als sonst in zwei Stunden. Ich solle doch nur an das Lied vom Schlossergesellen denken.

Ich schüttelte für mich selbst den Kopf und dachte, der Herr Pfarrer vor seinem Kamin werde doch nicht besser wissen wollen als ich, wie Kinder lernen und was möglich sei. Aber zweimal in einer Sache zu widersprechen, wagte ich doch nicht. Ich zog daher das Andere hervor und meinte: es möge alles recht schön und gut sein; aber ich sehe durchaus nicht, wo Zeit hernehmen zu allem; ich möge diesen Weg fast gar nit gcho.

Das sei ein kitzlicher Punkt, sagte der Pfarrer. Schulen von hundert bis zweihundert Kindern seien allerdings zu groß. Aber gerade in solchen thäte eine bestimmte Ordnung not, und daß man so frühe als möglich anzufangen und in die ganze Schule einen bestimmten Gang zu bringen suche. Je bessere Ordnung sei, desto besser möge der Schulmeister gcho, und je mehr er die kleinein Kinder lehre, desto leichter komme er mit ihnen fort, wenn sie älter seien. Freilich müsse hier etwas gegenseitiger Unterricht stattfinden. Ältere Kinder könnten gar füglich mit den jüngern lesen und buchstabieren, besonders an den sogenannten Straßburgertabellen, auch mit ihnen zählen, Ziffern zeigen; zum eigentlichen Rechnungs- und Schreibunterricht finde sich dann immer einige Zeit.

»Also schreiben und rechnen sollen schon die ganz kleinen Kinder?« fragte ich. »Freilich! mit dem Namenbuch sollen sie bereits die Schiefertäfelchen zur Schule bringen,« sagte der Pfarrer.

Aber dann habe man ja auch keine Zeit mehr, um auswendig zu lernen, antwortete ich.

»Freilich! das sollen aber in der Schule die altern Kinder auch gar nicht; das sollen sie zu Hause machen, weil man ihnen sonst nichts anders aufgeben kann; in der Schule sollen sie es nur aufsagen.«

Da stunden mir denn doch fast die Haare zu Berge ob diesen neuen, grauenvollen Dingen. »Aber, Herr Pfarrer, was werden die Bauren dazu sagen? werden sie nicht sagen: ich wolle die Religion aus der Schule thun und die Kinder zu lauter Agenten machen?«

»Sie werden allerdings schreien, wie über alles Neue; man muß daher nur langsam anfangen. Es werden immer einige Bauren sein, die ihre Kinder so früh als möglich geschickter als die andern haben möchten; bei diesen kann man anfangen; andere kommen nach und die Armen schmuggelt man am Ende dann auch ein.«

»Aber, Herr Pfarrer, und die Religion? wenn die Leute so aufgeklärt werden, wo bleibt dann der Glaube? Es glaubt ja afange kein Agent etwas mehr, und es gibt auch unter den vornehmen und durchriebenern Bauren solche, die nichts mehr glauben.«

»Mein lieber Schulmeister, das ist ein langes Kapitel; diesmal nur einiges darüber. Es gibt Übergänge in der Weltbildung, welche alle Stände mehr oder weniger durchlaufen müssen. Von den Gelehrten oder höheren Standen gehen sie aus; aber am Ende durchlaufen sie auch die ungebildetsten Klassen. Ein solcher Übergang hatte die Welt ergriffen vor einigen fünfzig und mehr Jahren. Der Verstand war erweckt worden und ging dem blinden Glauben zu Leibe, dem die schlummernde Vernunft, das im Winterschlaf erstarrte religiöse Gefühl, nicht zur Seite stunden. Der Verstand, den seine Flügel nicht über das Irdische, Sinnliche tragen, erhob ein Triumphgeschrei, gebärdete bürdete sich üppig und übermütig wie ein Jüngling im Flegelalter, und leugnete frech alles Übersinnliche ab, predigte förmlichen Unglauben, ganz mit dem gleichen Recht, wie ein Blinder die Sonne leugnen kann oder ein Tauber die Schönheit der Töne nicht begreifen will, ihr Dasein sogar in Abrede stellt. Nun bleiben freilich Menschen ihr Leben lang in diesem Flegelalter, wie ich euch Beispiele anführen könnte, aber das Menschengeschlecht nicht; ja ein bedeutender Teil ist bereits hindurch und zu einem schönern, geläutertern, innigern Glauben gekommen. Das Christentum, das viele sterbend glaubten, hat das Leichentuch, in das man es bereits hüllen wollte, abgeworfen und erhebt sich in ewig junger Herrlichkeit. Und gerade die Wissenschaften, mit denen man ihm ins Grab läuten wollte, gerade die haben auf die merkwürdigste Weise Gott verklärt, als einmal die Vernunft auch ihr Wort dazu sprach und das religiöse Gefühl an der lebendigen Anschauung unwillkürlich erwacht war. In diesem Flegelalter aber stecken noch eine Menge Menschen und namentlich solche Menschen, die, zu etwas Verstand und Klugheit gekommen, etwa die Gerichtssatzung haben besser begreifen gelernt als früher die Fragen, und die daher glauben: was sie mit ihrem Verständlein, das sich auf der nächsten Oberfläche der Erde zurechtfinden kann, aber nur auf der nächsten Oberfläche, nicht begreifen können als wie mit fünf Fingern, das sei gar nicht da. In diesem Flegelalter stecken allerdings eine Menge Agenten und andere Schreiberlein, stecken Kaufleute und Krämer, reiche Bauren und alte Landjunker, stecken Ärzte auch, die früher etwas von den Naturwissenschaften läuten gehört, und Wirte, die keinen andern Geist kennen, als den, welcher mit der Weinprobe gemessen werden kann. Doch sind im Ganzen genommen alle diese Leute weit weniger frech in ihrem Unglauben, als sie vor zehn oder zwanzig Jahren gewesen, wenigstens in unserm Kanton. Nur hie und da, wenn einer betrunken wird, wagt er in Wirtshäusern öffentlich seinen Unglauben auszusprechen, oder in seinen eigenen vier Wänden, wenn er Geistesverwandte vor sich zu haben glaubt. So vertraute jüngst ein Rechtsgelehrter Klienten: er hoffe es bald zu erleben, daß man den religiösen Firlefanz abschaffe. Sie schwiegen. Aber heimgekehrt erklärten sie: zu dem Manne könnten sie seither kein Zutrauen mehr fassen; e Gschichte wär er, aber wenn einer keine Religion habe, was man ihm denn eigentlich anvertrauen könne?

»Alle diese Leute geben sich für aufgeklärt aus, und darum ist die Aufklärung auch so in übeln Ruf gekommen. Sie sind gescheuter in vielen irdischen Dingen als andere; aber über dieser einseitigen Aufklärung steht eine viel höhere. Den Leuten, die sich so hoch dünken, fehlt ein geistiger Sinn; darum vermögen mögen sie das Unsichtbare nicht aufzufassen, so wenig als ein Blinder die Sonne sieht. Ihnen fehlt ein geistiges Gefühl, das religiöse; darum vermögen sie Gott nicht anzubeten; darum ergreift das Christentum ihre Gemüter nicht, so wenig als ein Tauber von den schönsten Tönen etwas merkt. Laßt alle Musiken der Welt um ihn aufspielen, ja felbst unsern lieben Helfer den Takt dazu schlagen mit der Rolle und dem Leibe, er wird ein stupendes Gesicht dazu machen und spotten über die Musizierenden, daß sie so dumm thäten um ihn herum. Diese unglückliche Aufklärung aber, die nur ins Flegelalter führt, aber nicht heraus, die wird, nehmt es mir nicht übel, Schulmeister, gerade in den Schulen, wenn nicht erzeugt, doch befördert. »In den einen Häusern, wo die Leute im Flegelalter sind, sehen die Kinder gar nichts Religiöses; im Gegenteil, was Kirche und Schule bieten, das hören sie ausführen und bespötteln. In andern Häusern, wo die Eltern noch nicht zu der halben Aufklärung gekommen, da liest und betet man noch; aber eine herzliche Frömmigkeit, die in herzlichen Worten und erbaulichem Thun sich ausspricht, ist nicht da. Das Beten und Lesen sind Übungen, ob man es noch könne; sind Frondienste, damit Gott nicht zürne; sind mühselig abgetragene Zinse, damit Gott nicht innhalte mit seinem Segen; sind Kratzfüße und Komplimente, mente, die man dem mächtigen Herren macht, damit er süferlich mit einem verfahre. Gar oft widersprechen die Gebete der Eltern und ihre eigenen Worte und Werke sich auf die naivste, merkwürdigste, augenscheinlichste Weise, daß es auch halbwitzigcn Kindern auffallen muß. Das jüngere Geschlecht erhält zum großen Teil den Unterricht nicht, der aus dem blinden Glauben führt, der zum Denken führt, der den Menschen befähigt, alles zu prüfen und eben durch diese Prüfung ein immer lauterer Christ zu werden, einen immer festern und kindlichern Glauben zu erhalten. Das jüngere Geschlecht muß, wie zu Hause unverstandene Gebete, in der Schule unverstandene Fragen verschlucken und soll sie glauben. Diese Fragen, sagt man freilich, werden erklärt; aber die Erklärungen sagen entweder mit andern Worten das Gleiche, oder sie machen das noch dunkel, was in den Fragen heiter war, und was in den Fragen dunkel ist, das machen die sogenannten Erklärungen widersinnig.

»Dann erklärt man freilich, wie man sagt, die Kinderbibel; aber höre man doch an so vielen Orten diese sogenannte Erklärung. Es ist ein grausam Konstruieren; es sind grausame Erklärungen einzelner Worte. Z. B.: man sage den Pharisäern Pharisäer, weil sie anders beschaffen gewesen seien als andere Menschen.« Der eigentliche religiöse Punkt und das, was das innere Gefühl erwecke und anspreche, bleibe unberührt. Was das Kind in der Schule bekomme, das mahne ihn gerade, als ob man einen Beutel mit Schrot oder eine Handvoll Kieselsteine in dessen Magen ausleere. Etwas im Magen habe es freilich, aber nichts Verdauliches, nichts das sich in Blut und gesunde Säfte auflöse, sondern etwas, das ihm Magenweh mache, ihn wenigstens beschwere, die gesunde Verdauung hindere, bis es abgegangen sei. Merkwürdig sei noch das, daß von allem dem, was der Schulmeister so unter die Kinder ausleere, das wenigste eigentlich verschluckt werde. Von den kleinern Kindern, welche diesem sogenannten Religionsunterricht auch zuhören sollten, um die man sich aber so durchaus nicht kümmere in der Art des Unterrichtes, daß auf einem Stundenplan stehe: Religions-Unterricht; untere Klasse: anhören, nachdenken, unbeweglich sein, – gäben die meisten auf diese ihnen unverständlichen Dinge gar nicht acht. Sie gewöhnten sich während fünf bis sechs Jahren, ihre Ohren ganz an einem andern Ort zu haben, so lange der Schulmeister erkläre oder unterweise; sie seien fast autorisiert dazu, zu glauben, es gehe sie nichts an. Kämen nun diese Kinder ins Leben, so brächten sie in dasselbe Klötze toten Glaubens, Floskeln und leere Worte ohne Gedanken, oder manchmal fast gar nichts. Dieser Glaube diene ihnen nicht als Richtschnur, gebe ihnen nicht Trost, wirke kein religiöses Leben in ihnen. Er halte gegen Angriffe nicht Stich, könne sich nicht verteidigen, unterliege nur zu leicht Zweifeln und arte in Unglauben aus. Dieses namentlich dann, wenn ihr Verstand in einem weitern Lebenskreise erweckt werde, wenn sie von vielen Dingen hörten, über die man sie in der Unterweisung und in den Schulen gar nicht aufmerksam gemacht. Der eigentlich Ungebildete sei besonders mißtrauisch, und wenn ein Schalk oder ein Schelm ihm von unbekannten Dingen schwatze, ihm den Unglauben predige auf mancherlei Art, ihm vorspiegle, der Pfarrer und der Schulmeister wüßten dieses auch, aber sie verhehlten es expreß den Leuten und verkündeten, bestochen, nicht die Wahrheit, so wird der arme Tropf gegen Pfarrer und Schulmeister erbittert und hält alles für Lug und Trug, was er von ihnen gehört.

Es sei mit der Religion in vielen Schulen gerade wie mit dem Rechnen in vielen Schulen. Er habe schon oft klagen gehört, daß alles Rechnen in den Schulen nichts abtrage: entweder vergessen es die Kinder gleich, oder sie könnten, wenn man ihnen aus dem gewöhnlichen Leben etwas angebe, nichts damit machen. Das komme daher, weil in so vielen Schulen die Kinder gleich bei den vier Species anfangen müßten oder gar bei den Heustöcken, und, was sie machen müßten, nie wüßten, ihre Rechnungen nie in den Kopf bekamen, sondern nur für den Augenblick in die Finger. Aber beim Rechnungs-Unterricht fange man an, vernünftig zu Wege zu gehen; es sei aber schauderhaft, daß man beim wichtigsten, bei der Religion, noch gar nicht daran zu denken scheine und noch immer im alten Schlendrian fortfahre; daß man gar nicht daran denke, eine kindliche Religion ins kindliche Gemüt zum Bewußtsein zu bringen; daß man die Sünde noch nicht erkenne: die Hälfte der Kinder ohne Religionsunterricht, ihre Herzen verharzen zu lassen.

Ich muß bekennen, des Pfarres lange Abkappete, denn was war es eigentlich anders? mühte mich. Ich konnte mich aber nicht fassen, um mich zu verteidigen; dazu kam mir noch Wehrdi in den Sinn, der mir ähnliches gesagt, nur nicht so ausgeführt. Daher mußte ich nichts anders zu antworten, als daß mir Wehrdi auch den Religions-Unterricht ausgeschimpft. Es mache es aber ein jeder, wie er könne. Gerade der Wehrdi, entgegnete der Pfarrer, sei ein lebendig Beispiel, wohin ein solcher Unterricht, der, wenn er schon hier etwas besser, dort etwas schlechter sei, doch immer die gleiche Art an sich habe, abtrage, und wohin er führen könne. Ihm sei es am Ende glücklich gegangen, indem er im Leben auf solche gestoßen, die ihn anfgeweckt und zu Gott geführt. Es gebe aber auch ganz andere Ausgänge und die traurigsten von der Welt bei Leuten, welche im Leben zum Unglauben gebracht wurden aus dem blinden Glauben.

»So wurde ich einmal an einem andern Orte zu einem Menschen gerufen, der ein furchtbares Ende hatte in seinem Unglauben, sagte er. Es war ein sehr alter Mann, den ich sonst wenig gesehen, nie mit ihm gesprochen hatte; er floh die d. Pfaffen, wie er uns nannte, wie die Pest, und in einer Kirche sah man ihn nie.

»Der Alte, von dem ich rede, hatte eine gewaltige, widerspenstige Natur, die auch seine Eltern, die ihm durchaus nicht gewachsen waren, erfahren haben sollen. Der Gang seines innern Lebens ist nicht bekannt worden, weil er ihn niemand offenbarte. Aber aus der Art, wie er über die Schule und die Unterweisung schimpfte und fluchte, als lauter Lügenwerk, zusammengeflickt für's dumme Baurenvolk, läßt sich schließen, daß der erhaltene Unterricht auf blinden Glauben berechnet war und daher seinem scharfen und grübelnden Verstand nicht genügte. Zudem wogten in ihm wilde Leidenschaften; er hatte eine wahre Diebswut; fremde Weiber sah er auch gerne. Er hatte überhaupt Lust zu jeder Spitzbüberei, und um sich Bahn zu allem diesem zu machen, suchte er nachzuweisen: daß alle Religion nur Lug der Psaffen sei im Dienste der Obrigkeit, die dummen Bauren, die er selbst nicht wenig verachtete und daher auch nicht berndeutsch redete wie sie, im Zaum zu halten. Er suchte zu beweisen, daß Obrigkeit und Pfaffen um die Religion und ihre Gebote sich selbst gar nicht kümmerten, was sie doch wohl thäten, wenn sie nicht am besten wüßten, daß alles Lug und Trug sei. Damit glaubte er sich Erlaubnis zu jedem Laster erworben zu haben, sobald er dem weltlichen Richter zu entrinnen vermöge. In seiner Gottlosigkeit traf er nie auf Leute, die ihm an Einsicht überlegen waren, die im Stande gewesen wären, seinen fürchterlichen Zustand ihm selbst mit klaren Worten zu offenbaren. Im Gegenteil, er wurde selbst zum Apostel des Unglaubens; denn er traf es in die Revolution, wo er Gott auf immer abgeschafft glaubte, sich die sinnlosesten Reden erlaubte und nun meinte, es sei ihm alles erlaubt. Da zeigte er, daß er unter Freiheit die Erlaubnis verstund, nach Herzenslust stehlen zu können; vergriff sich am Staatsgut der Helvetik und erhielt fast den Strick um den Hals.

»Dieser Strick und die Umgestaltung der Dinge schüchterten ihn ein, aber besserten ihn nicht. Er predigte seinen Unglauben nicht mehr in den Wirtshäusern und an den Kreuzstraßen; aber wenn er Knaben verlocken, sie gegen Schulmeister und Pfarrer aufreisen, seine Gottesleugnerei in ihre Seelen ausgießen konnte, so war das seine Lust und Freude. Sein Reichtum mehrte sich, sein Land war das beste im ganzen Dorfe; aber auch sein Geiz nahm zu. Aus diesem Hause wurde keinem Menschen etwas Gutes gethan, mit Not hie und da ein Almosen gegeben. Als man einmal einem Handwerksburschen ein Stück Brot reichte, nahm es der Wind und der arme Bursche sagte: »»Danke Gott, wenn ich's bekomm.«« Aber den reichen Mann sah man an neblichten Tagen auf fremden Ackern stehen, die an seine stießen, und mit der Schaufel Erde von jenen auf diese werfen; sah ihn, wenn er Pflug hielt, alle Marksteine krumm- oder umfahren und Furche um Furche seinigen. Ja, er hatte den Strick vergessen, war wieder frech geworden und konnte sich nicht enthalten, Marksteine förmlich zu versetzen. Mit aller Frechheit und Gewandtheit konnte er sich nicht mehr herausleugnen; da wurde er verrückt. Die Leute glaubten, er thäte nur so, damit man ihm nicht die Ketten anhänge. Der Grund aber lag tiefer. Es war das Auftauchen des Gewissens, es war das werdende Bewußtsein: siehe, das ist des Teufels Lohn für ein teuflisches Leben. Sein scharfer Verstand konnte es sich unmöglich verhehlen, daß er sich in seinem Leben gräßlich getäuscht. Aber die strafende Gerechtigkeit ging wieder an ihm vorüber, warum, weiß ich nicht. Ob sie ihn vergaß? ob sie ein Auge zudrückte? ob Menschen angesehen wurden? ich weiß es nicht. Der verrückte Zustand ging vorüber; die alte Natur errang wieder den Sieg, wurde frecher als nie zuvor, sich vorspiegelnd, ihm könne nichts etwas anhaben, seine Frechheit habe ihn gefeit vor jeglichem Unglück; sein Verstand sei sein Glück, seine Vorsehung, die ihn nie im Stiche liehen.

»Da starb ihm seine Frau, die er eigentlich grenzenlos verachtet hatte. Er nannte sie nur den Dachen, den er des Öls wegen genommen, und das Bild des Todes trat hart ihn an; seine Hälfte wurde ins Grab gelegt. Da ergriffen ihn zwei Dinge: die Schrecken der Vernichtung, die furchtbare Gewißheit, fort zu müssen von seinen Ackern und Matten, seinen Rossen und Kühen, und wieder eine gräßliche Ahnung, daß mit diesem Leben nicht alles aus sei, daß seine gemißhandelte Frau, daß die verführten Knaben, die berückten Weiber jetzt vielleicht vor einem Wesen stünden als seine Ankläger, das er durch sein ganzes Leben verhöhnt, verleugnet. Da waltete in ihm eine unaussprechliche Seelenangst, Vorboten einer spätern Höllenangst. »Aber es ward die Frau ins Grab gelegt, das Bild des Todes schwand aus seinen Augen; er fühlte sich noch stark, ungeschwächt. Die Seelenangst verrann wenigstens bis zu einem Grade, daß sie nicht mehr sichtbar war, und die alte Natur ergriff die Zügel wieder.

»Da ergriffen den sonst so starken Mann, der kaum wußte, was Krankheit war, der in ein hohes Älter fast mit den Kräften eines Jünglings gekommen, auf einmal furchtbare Ängstigungen, daß ihm die Augen fast aus dem Kopfe traten, daß ihm ward, als ob einer ihm den Hals zusammenschnüre, daß er glaubte ersticken zu müssen. Ob sie vom Blute kamen, ob sie Vorboten einer Brustwassersucht waren, oder von einem Herzfehler? ich bin kein Arzt, ich weiß es nicht. Genug, diese auch den besten Christen ängstigenden Zustände weckten auf eine gräuliche Weise den wieder schlafenden Wurm in ihm. Der Mann, der solches nie gefühlt, der ohne Mitleid gegen andere, um ähnliche Zustände bei andern sich nicht bekümmert, alle Klagenden verhöhnt hatte; der das Dasein solcher Zustände, die außer dem Kreise seiner Erfahrungen lagen, so gut weggespottet hatte, als was er sonst nicht sah, Gott und die ganze unsichtbare Welt, dem kamen jetzt diese peinigenden Anfälle durchaus nicht natürlich vor, sondern außerordentlich, übernatürlich. Er wähnte, es hange ihm jemand am Halse und wolle ihn erwürgen. Er schrie, seine gestorbene Frau sei gekommen, ihn hinüber zu holen, man solle ihm sie doch fortjagen; er sah bald diesen, bald jenen, den er um Seele oder Gut betrogen, auf seiner Brust knieen und schrie: der wolle ihm den Herzkasten eintreten. In der Nacht sah er den Teufel und alle seine Geister; bald wollten sie sein Bett anzünden, bald ihn in die Hölle reißen: dann schrie er mörderlich, schrie besonders nach dem Bonaparte, der sein Gott auf Erden gewesen, den er nie tot geglaubt, daß der doch komme und den Teufel in die Hölle jage. Dann fluchte er über Bonaparte, an den er sein Heil gesetzt, der ihn im Stich lasse jetzt in seiner Not. Es waren fürchterliche Auftritte; alle Nachbarsleute erbebten, wenn das Brüllen des sonst so gefürchteten Mannes erscholl. Die meisten stunden auf des Nachts, als ob es wettere am Himmel, und sangen und beteten, daß der Herr sie doch verschone, daß er sie behüte. Und wohl stund auch mancher naher hinzu, um etwas näheres zu hören. Da vernahm er den Kampf mit dem Teufel, vernahm das Angst- und Kampfgestöhn des sonst so frechen Greisen, bebte zusammen, schauderte bis in das tiefste Mark hinein und flog eilig wieder seiner Hütte zu, schob den Riegel fest und betete schlotterend ein: Das walte Gott!

»Da war's, daß einmal des Nachts ein Großkind von ihm uns alle aus dem Schlafe weckte, das in seiner Herzensangst geflohen war und mich jammerend bat: ich solle doch dr tusig Gotts wille gschwind kommen und helfen, dr Tüfel heyg dr Großätti scho under dr Stüblisthür. Ich muß es sagen, mir schlug stürmisch das Herz bei diesem Ruf; mir schauderte vor dem Anblick, der meiner wartete; mich jammerte aus tiefstem Herzensgrund das arme Kind, in dessen Seele schon ein solcher Jammer sich geworfen. Als ich beflügelten Schrittes gegen das Haus kam, hörte ich das Toben des Alten, hörte ihn schreien: »»Gell jetz lascht mi sy, gell jetz hesch gnue, gell jetz geisch!«« Zwischen durch hörte man harte Faustschläge donnern an den hölzernen Wänden. »»Luegit, wie da schwarz Teufel dStäge-n-ab pürzlet, wie-n-er geyt! Lue, Bueb, dert hinder dem dritte Saarbaum steyt er, u luegt ob sy Schwanz no ganz syg; nimm dMistgable, Bueb, u-n-erstich-ne, gschwind, gschwind! Lue, dert chunnt ihm dr – z'Hülf; da Donnder cha mi o jetz no nit rüyhig lah u allbets isch er so froh über mi gsi! Wehr di, Bueb; warum lasch se wieder dStäge-n-uf? Bonepart, chumm, oder si näh mi, si hänke mi, si spanne mi a Charre, si schleipfe mi i dHöll. Aber es isch keini, nei, bym D., es isch keini!««

»Ich stund schon lange stille nebem Ofen, durch den Bettumhang verdeckt, und trat, um ihn zu besänftigen, ans Bett. Auf dem Tisch am Fenster flimmerte eine düstere Lampe. Als er jemand gehen hörte, wandte er sich rasch von der Wand nach der Vorderseite, und als er meine Gestalt so lang und schwarz am Bette sah, da ließ er einen Schrei aus, der durch Dörfer, Felder und Wälder gehen mußte: »»Hu, Teufel! wart, Teufel! Teufel, bist doch da?«« Mit Blitzesschnelle fuhr er auf, krallte die Hände mir entgegen: da war's, als ob eine innere Gewalt ihn hemme; es traten ihm die Augen aus dem Kopfe, er schnopste einige Male heftig auf, streckte die Zunge heraus, krallte die Hände in den Kopf, als ob er mir ihn anwerfen wolle; dann sank er zusammen, streckte sich und tot war er. Hinübergegangen war er mit dem Bewußtsein, daß der Teufel ihn geholt. Schrecklicheres kann es wohl nichts geben, und Schrecklicheres sieht das menschliche Auge nichts, als das Gesicht dieses in Höllenangst Dahingeschiedenen. Seitdem ist mir ein Jammer im Herzen geblieben über Tausende, die ich die gleichen Wege wandeln sehe in gleichem Geiste; ein Jammer über sie, weil sie nicht mit dem Christentum ausgerüstet wurden, das in ihrem Leben und in jeder Zeit ihre Stütze, ihr Stab bleiben konnte.

»Das Christentum bleibt ewig das gleiche; aber wie es in jedem Menschen neu geboren wird, so wird es auch neu geboren in jeder Zeit. Wie es das gleiche bleibt und doch dem Kinde ein anderes ist, ein anderes dem Manne, und dem Greise noch anders sich verklärt, so bleibt es ewig das gleiche in der Zeiten Wechsel; aber dem in der Zeiten Wechsel wechselnden Menschen trittet es immer reiner, verklärter, geistiger entgegen; denn nicht nur die Kinder wachsen auf zu Männern und werden Greise, sondern auch die Menschengeschlechter steigen herauf aus der Kindheit dem Alter entgegen. Das will der Mensch nicht fassen; er sieht Millionen zermalmen unter dem eilenden Wagen dir Zeit. Dann erbarmt sich Gott und läßt ein neues Wehen des Geistes wehen über den Erdboden; dann gehen verschlossene Augen auf, und was totgetreten schien, das steht neu, herrlich, verjüngt, lebendig wieder auf.«

Ganz andächtig, wohlig und schaurlich hatte ich dem Pfarrer zugehört, und als er feine Pfeife ausklopfte, frug ich ihn nach einigem Schweigen: ob er dann der Meinung sei, daß man die Fragen abschaffe und daß man in der Kinderbibel die Wunder besfer erkläre? ich hätte gehört, das käme jetzt auf.

Das eben sei nicht seine Meinung; aber das meine er, daß man den Kindern mehr zu Herzen, an ihr Gefühl reden müsse, und jedem Kind nach seinem Alter. Man rede ja im täglichen Leben mit einem sechsjährigen nicht wie mit einem sechszehnjährigen, sowohl in Stoff als Form. Auf die Bücher komme es da viel weniger an, als auf den Lehrer. Überhaupt solle ich mir die jungem Kinder ganz besonders angelegen sein lassen; da sei die Quintessenz der Schule, die bis dahin in den meisten Schulen verpfuscht worden. Man lasse sie schmählich anfaulen, eigentlich anbrännten; darum hätte man meist auch schlechte Schulen. Ich solle jetzt darüber nachdenken, wie ich in meine Schule das rechte Leben bringen wolle, solle vor allem eine feste, bestimmte Ordnung schaffen, jeder Minute ihre Arbeit zuweisen; dann werde ich es erfahren, wie weit man in einer Schule kommen könne, wenn man wolle, und Platz habe, daß man sich rühren könne. Allerdings, wo nicht Platz sei, da sei es schwer; da ersticke man ineinander, wie die Rübli auf dem Felde, wenn sie zu dicke gesäet seien und nicht erdünnert würden.

So entließ der Pfarrer mich wieder mit einem Gring voll. Ich staunte dem allem lange nach und fand endlich: der Pfarrer hätte mir doch viel Mühe ersparen, mir sagen können, wie alles Punkt für Punkt zu machen sei; vor allem hätte er mir den Stundenplan machen können. Er hatte überhaupt, wie es mir schien, einen großen Fehler, daß er nicht bestimmt sagte: So und so müßt ihr es machen! und daß er einem die Sache nicht selbst einrichtete. Fragte man über bestimmte Dinge, über die man erst selbst nachgedacht, um Rat, so erhielt man ihn freilich. Ich deutete ihm einst darauf hin, eine Sache, ich weiß nicht mehr welche, ginge ihm viel ringer als mir; er solle sie mir doch machen. Da lachte er und sagte: »Das thue ich nicht, lieber Schulmeister, und zwar aus zweien Gründen nicht; erstlich müßt ihr euch gewöhnen, über solche Dinge selbst zu denken, und erst, wenn ihr am Haag seid, euch aushelfen zu lassen; und zweitens seid ihr ein wunderliches Volk; es würde euch z. B. kaum ein Stundenplan, den ich gemacht, recht sein; wenigstens müßte er an allem Krummen Schuld sein. Ich weiß wohl, daß ein Kanton ist, wo man den Schulmeistern die Stundenpläne macht, und zwar einen für alle Schulen ohne irgend eine Berücksichtigung. Man möchte ob solchem aber auf den Kopf stehen. Ich könnte euch noch einen dritten Grund sagen; aber an zweien, denke ich, sei es einstweilen genug.«

Meiner Frau erzählte ich nur gar wenig von dem, was der Pfarrer mit mir gebrichtet; sie hätte ihm in allem recht gegeben. Nur die Geschichte von dem Manne erfuhr sie; sie kam uns beiden die ganze Nacht vor.


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