Jeremias Gotthelf
Leiden und Freuden eines Schulmeisters – Zweiter Teil
Jeremias Gotthelf

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Vierzehntes Kapitel.

Je gewaltiger die Not an uns geht,
Desto näher der Herr uns zur Seite steht.

Gar oft, wenn mein Weibchen schweren Mutes wurde und ich nichts anders als mit zu seufzen wußte, oder höchstens zu sagen: »Wart nur, es wird scho bessere, es wird o öppe-n-angers cho!» ward unser Kleine der Mutter Tröster. Wenn er mit seinen Händchen ihre Nacken strich, sein Köpfchen an ihrem Busen barg und dann mit der Liebe Schalkheit zu ihr aufsah, dann vergaß sie den Kummer und gedachte nur des Schatzes, den sie in den Armen hielt, konnte mit ihm wieder tändeln und heiter werden in mütterlicher Lust, konnte mit ihm wieder zum Kinde werden, teilend seine Harmlosigkeit. Es war dies eine Wohlthat für die Mutter. In aller Bedrängnis hatte sie ihre glücklichen Stunden: diese waren ein Lohn ihres kindlichen Sinnes, der des Kindes kindlichen Sinn nährte und nicht vergiftete. Eltern haben immer trübe Stunden, Stunden des Ernstes, des Wehs oder des Kummers; trübe wird ihr Himmel und unlustig wird es unter demselben. Wohl ihnen, wenn die Kinder die Lüftchen sind, welche die düstern Wolken zu verjagen vermögen, wenn an der Kinder Himmel der ihrige sich aufklärt, wenn der Kinder Himmel auch der ihrige noch werden kann. Dann haben sie eine große Wohlthat empfangen; ihr Alter wird ein heiteres sein und ihrer Kinder Jugend eine frohe; dann genießen sie ein hohes Glück; denn was helfen alle Güter der Erde, wenn die Seele ein finsterer Sinn umnachtet, durch den keine Sonne mehr dringt, nicht einmal eines Kindes Lächeln? Und was vermag dagegen ein heiteres Gemüt nicht zu ertragen und zu entbehren?

Und wo dem frohen Kindessinn mürrisches Wesen, saure Mienen entgegentreten, oder ein maßleidiges, ermattetes Gesicht, wo seine Fröhlichkeit nicht wiederscheint auf der Eltern Gesicht, wo es immer nur heißt: Häb di still, gang dänne, wotsch schwyge, lue was d' aber gmacht hesch, gsehst wie d'bschisse bisch, schäm di, thue doch nit so wüest; und wenn es, wenn das Kind flattieren will, heißt: Gang dänne, loh mi doch rüihig, mach o öppis! wo das Kind beständig nur Gewitterwolken sieht auf der Eltern Gesicht oder verdrießlich Regenwetter, wo es nichts hört, als einzelne Donnerschläge oder das langweilige Plätschern des Regens: da trübt sich auch sein Himmel, sein froher Sinn tritt zurück, seine Jugend wird verkümmert, das lustige fröhliche Kind wird ein trauriger Mensch in vielfachem Sinn. Und wie viele solcher traurigen Menschen schleppen ihre Gebeine durch die Welt, tragen in sich ein mißvergnügt Gemüt, machen Gott und Menschen ein mißvergnügt Gesicht und sterben mißvergnügt, wie sie mißvergnügt gelebt!

Dieser Sünde nun haben wir uns nicht anzuklagen; wir wurden gar zu gerne wie die Kinder und nicht zu oft. Freilich wurde ich manchmal eifersüchtig, wenn mein klein Bubli eine Gewalt über die Mutter hatte, die ich nicht kannte, wenn er mit einem Blick viel mehr vermochte, als ich mit meinem so gut gemeinten: »Wart ume, es wird scho bessere.» Aber wenn der kleine Schalk seine Kraft an mir erprobte und auch mich unterjochte, dann vergaß ich die Eifersucht, und gab mich der gleichen Macht fröhlich hin. Kömmt aber diese Macht der Kinder über die Gemüter der Eltern nicht von Gott, damit die alten Gemüter frisch und gesund bleiben möchten? Aber, Eltern! verwechselt diese Gewalt über eure Stimmung nicht mit der Gewalt über euern Verstand, welche den Kindern, obgleich sie auch darnach streben, nie zugelassen werden darf. Da sollt ihr Meister bleiben und an euerm Verstande soll des Kindes Verstand sich aufrichten und läutern, bis er stark geworden, gerade wie sein kindlicher Sinn euer Gemüt erfrischen, kindlich erhalten soll. Beides verwechselt nimmer mit einander, sonst gibt es Unglück.

Aber das Kind lächelte nicht immer, gvätterlete oft für sich, schlief oft; dann fehlte der Mutter dieser Tröster. Da nahm sie, je näher ihr schwer Stündlein rückte, um so mehr ein Buch zur Hand. Betbücher erst, dann immer mehr das Testament. Es rühre sie viel mehr an als die Betbücher, sagte sie. Es sei doch kurios, sagte Mädeli, und es wisse nicht, wie das komme: es habe das alles schon manchmal gelesen, aber es habe ihns nichts wunder genommen, obschon es nicht gewußt, was das alles bedeute; es habe gemeint, die Hauptsache sei, daß man das vorliegende lesen könne. Jetzt aber sei ihm gar wunderlich, gerade wie wenn etwas in ihm aufgegangen wäre. Es fühle so ein Glust in ihm, das, was es lese, und besonders im Testament, zu verstehen, was es eigentlich auch bedeute, und es könne manchmal von einem Vers gar nicht fort, weil es gerne wissen möchte, was damit gesagt werden solle. Es komme ihm nun komod, meinte es, daß es einen Schulmeister hätte, der könne ihm nun das alles erklären. Ja, du mein Gott, da war ich am Hag; denn Bibel- und Worterklärung war gar nicht meine starke Seite. Ich sollte von Jerusalem erzählen, von den dortigen Festen, von den Pharisäern, Zöllnern und Sadducäern, was sie gewesen und warum man sie so geheißen. Mädeli hätte gar gerne das gelobte Land und den Tempel sich recht deutlich vorgestellt und versuchte es immer, in der Einbildungskraft das sich zu vergegenwärtigen, aber ich vermochte nicht, den rechten Stoff dazu zu geben, um ein Bild daraus zusammen zu setzen. Wenn ich dann so verstummete und weniger wußte als Bileams Eselin, so sagte mir mein Weibchen: »Zürn doch recht nüt; aber i ha gmeint, e Schuelmeister wüß das alles.» Ich wußte gar nicht, was für ein Geist auf einmal in mein Weib gefahren, und wenn es nicht nach dem Lesen immer aufgeheiterter gewesen wäre, so hätte ich diesen Geist verbannt. Freilich ging es schonend mit mir um und fragte mich immer weniger Dinge, von denen es glauben konnte, daß ich sie nicht wisse. Aber es redete doch noch gerne mit mir über das gelesene und den Sinn desselben, über den ich zu meiner Schande noch gar nicht gedacht hatte und von meinem Weibchen in dessen tiefer Auffassung bedeutend beschämt wurde. Einst sagte es mir nach tiefem Sinnen: »Warum glaubst du, daß die h. Schrift da sei?» »He, daß man daran glaube und folge!» »Su los doch, Peterli: Darum sage ich euch: sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euern Leib, was ihr anziehen werdet; ist nicht das Leben mehr, denn die Speise, und der Leib mehr, denn die Kleidung? Sehet die Vögel des Himmels an. Denn sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlische Vater nähret sie doch; seid ihr denn nicht besser als sie? Wer ist unter euch, der mit Sorgen seiner Länge eine Elle zusetzen möge? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Betrachtet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch sage ich euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eine. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, sollte er nicht vielmehr auch euch kleiden? O ihr Kleingläubigen! Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen und was werden wir trinken? oder: wie werden wir uns kleiden? Denn nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlische Vater weiß, daß ihr das alles bedürfet. Trachtet aber am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dieses alles zugegeben werden. Darum sorget nicht auf den morndrigen Tag; denn der morndrige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe. – Peterli, hesch die Verse gchennt?» fragte mein Weib mich. Ich mußte es bekennen. Da fragte sie wieder: »Aber warum hesch mi nit dra gmahnt und hesch o so mit mr gchummeret?» Ich hätte nicht daran gedacht, mußte ich wieder antworten, und dann könne man nicht alles halten; man habe ja genug zu thun nur mit den Geboten. »Aber, Ma, isch de das nit o gebote u soll me nit na alle Gebote Gottes afa z'lebe, u hei mr de nume probiert, das z'halte u nit so z'chummere u o em liebe Gott öppis z'traue? Emel i nit, u das düecht mi je länger je-n-e größeri Sünd, so em liebe Gott nüt z'vrtraue u nüt z'glaube; u es heißt ja, dr Glaube macht selig, u ghört das nit o zum Glaube, daß dr lieb Gott denen, die er lieb hei, alli Ding zur Seligkeit leiten werdi, u daß mr nit chummere sölli für das, was ersch chunnt? U, na dem Gebot Gottes hei mr gar nüt probiert z'lebe.»

Man könne doch nicht immer an alles denken, war meine verlegene Antwort. >Los, my liebe Ma, i bi ke Schumester u no bluetjung; aber es düecht my, das syg gar e große Fehler, daß me dGschrift ume so uf-em Papier het, u we me se liest, so lat me se uf-em Papier; es düecht mi geng, me sött's so da yche näh i's Herz; da würd me scho dra däiche, we's Zyt wär. Aber me lat Gschrift Gschrift sy u dr Mönsch blybt e Mönsch. I cha je länger je minger so ganzi Kapitel lese so drüber eweg; i mueß mi geng bsinne by allem u möcht's nie meh vergesse, u je meh i sinne cha, dest bas wird's mr; es düecht mi de fry, es heig scho öppis bschosse by mr. Grad jetz ha-n-i so nache gsinnet über die Verse u ha gfunge, mr wüsse doch eigetlich nit, warum mr so chummere, mr heige doch no nie hungerig vom Tisch müeße, syge alli gsund u dr lieb Gott heigis Friede gäh u-n-e liebe Bueb, u mit üsem Chummer chönne mr is grusam versünge, daß er is zeigti, wie's no ganz angers cho chönnt.

Vor meines Weibchens einfachem, verständigem Sinn stund ich wie ein Schulknabe, und ich gedachte an die Worte des Herrn: daß den Unmündigen geoffenbaret sei, was den Weisen verborgen geblieben; daß: was kein Verstand der Verständigen sieht, das ahnet in Einfalt ein kindlich Gemüt.

Was dasselbe hier ausgesprochen, war nicht bloß ein frommer Anflug, die Äußerung einer guten Stunde, so gleichsam ein Riß in den täglich um ein gereiztes oder schwaches oder sinnliches Gemüt waltenden Nebel, sondern es war und blieb tiefer Ernst, der im Ringen gegen den Kummer sich zeigte.

Meine Frau hatte auch gelesen, daß niemand werde gekrönt werden, es sei denn, er kämpfe recht, und so kämpfte sie auch. Sie kämpfte gegen die Stimmung, die in ihrem Zustande so leicht kömmt und bei unserer Lage um so entschuldbarer war, kämpfte treulich und nicht ohne Segen, und wenn sie wanken wollte, so las sie die schöne Stelle noch einmal und erhob an ihr ihr Gemüt. Sie erfuhr es, daß, wer an das Wort nicht nur glaubt, sondern es auch in sich aufnimmt, sein Haus auf einen Felsen gebaut hat und nicht mehr jedem Wind der Laune, jeder Strömung des Gemütes preisgegeben ist.

So ward sie von ihrer schweren Stunde ereilt und gebar glücklich und leicht ein Mädchen. Es war ein schönes, wunderbares Kind. Es hatte große, tiefblaue Augen und einen unbeschreiblichen Blick in denselben. Es sah einen so milde, so verständig und bedeutungsvoll an, daß es einem ordentlich schaurig um die Brust ward. Man kam unwillkürlich auf den Gedanken, das Kind bringe seine Augen mit aus einer höhern Welt, bringe Grüße mit von oben und Bewußtsein. Die Weiber sagten: so ein schönes Kind hätten sie nie gesehen. Die Mutter wiegte es andächtig auf den Armen, und wer gesehen hätte, wie beide einander in die Augen sahen, würde es nie vergessen. Es war, als ob zwei Engel einander wieder gefunden hätten und als ob die Geister durch die Augen ihrer sterblichen Hülle sich entbinden und eins werden wollten. Die Mutter lächelte so innig und glücklich auf das Kind herab, das Kind sah so sinnig und warm zu ihr auf; es war ordentlich, als ob man gesehen hätte, wie die Blicke sich fänden und umfaßten. Wie wir uns doch des Kindleins freuten! Es war, als ob es unser erstes wäre und aller Kummer war vergessen. Sogar unser alter Papa hatte seine Freude daran und behauptete: es gleiche akurat seiner verstorbenen Frau.

Am dritten Tage begann es unruhig zu werden und ließ gar ängstliche und wimmernde Töne hören, wie wenn es jemand riefe in großer Angst und Not. Ein Kind ruft der Mutter nie umsonst. Wenn sie es nahm, schien es ruhiger zu werden; doch kam etwas Leidendes in seinen Blick, das nicht mehr verschwinden wollte. Wenn es die Mutter ansah, schien es, als möchte es ihr gar gerne klagen ein tiefes Weh; wir dachten nicht, daß es ihr klagen wollte, so bald schon von einer lieben Mutter weg zu müssen. Zuckende Schauer fuhren schnell und gewaltsam durch den kleinen Körper, es verbarg uns oft den Stern seiner Augen, damit wir seinen Schmerz und Kampf nicht sehen, uns daran gewöhnen möchten, in ihm unsern Stern wieder schwinden zu sehen. Eine fremde Gewalt schien sich über ihns zu legen und mit gewaltigem Druck das kaum erwachte Leben niederringen zu wollen. Ohne Erbarmen wurde gerungen; des armen Kindes Lippen wurden blau und der Schaum stand auf denselben. Eine Nachbarin, die wir in unserer Angst herbei gerufen, sagte uns ganz trocken: mit dem sei es vorbei, da helfe alles nichts mehr, es habe die drückenden Giechteni. Und damit ging sie weg, sich entschuldigend, sie habe den Schweinen ob und es würde anbrännten, wenn sie nicht ginge.

Da bebte meine Frau zusammen, daß sie sich niedersetzen mußte mit dem Kinde, das sie auf ihren Armen hielt. »Ach Gott, das wird öppe nit sy. Er wird is nit so hert welle strafe; bet doch, bet, daß Er uns das Kind lasse.» Ich nahm unser Gebetbuch und setzte mich an die düstere Lampe. Ich fing halb weinend an zu lesen, ein Krankengebet, und las recht andächtig, »Ach, nit so, Peter, nit so», sagte sie, »das bschüßt nüt; da heißt's nüt vo üsem Ching; bet doch recht vo ihm u daß Er is es löyh.» Ich blätterte ein ander Gebet auf und las noch andächtiger. »Ach das hilft ja o nüt; bet doch selber, bet us dr selber, was dr z'Sinn chunt, aber doch recht vo üsem Ching.» Ich stund auf von meiner Lampe, das Herz voll Angst, Angst über das Kind, Angst vor dem Beten; denn so hatte ich ja nie gebetet, für mich selber aus mir selber. Da fiel mein Weib in ihrer Seelenangst auf die Kniee und rief zu Gott: »Ach Vater, lah-n-is das Ching, nimm's nit wieder; es soll nüsti dys blybe, es soll üses Engeli u dys Engeli blybe u üsem Heiland wey mr's bringe-n-alli Tag, bis es nimme vo-n-ihm laht. Mr wey's ja uf de Hände trage u wey dr alli Tag danke drfür, u wey nimme Chummer ha u de näh, wie du's lasch cho; aber das Ching, das Ching, nimm mr's nit, das lah-n-is, dr tusig Gottswille!» Brünstig sah sie nach oben, die Thränen flossen strömend über sie nieder und das Kind hielt sie auf den Armen, ans Herz gedrückt. Da zuckte es auf einmal an ihrem Herzen, und wie sie niedersah, reckte es sich noch einmal aus; dann ward's stille, öffnete noch einmal seine Äugelein der Mutter zu; ein Lächeln flog über sein Gesichtchen, dann schlossen sich langsam die Äuglein wieder. Das Lächeln schien zu einem Engelein verkörpert von seinem Gesichtchen sich aufzuschwingen, und mit ihm war sein Geist entwichen. Sein Körperlein regte sich nimmer wieder, seine Äugelein blieben geschlossen für immer.

Vorwurfsvoll sah die Mutter zum Himmel auf; der Krampf, der des Kindes Herz verlassen, schien ihr Herz zu erfassen. Heftig schluchzend beugte sie sich über die kleine Leiche, forschend nach Atem. Als sie keinen fand, wankte sie dem Bette zu, legte dort nieder die Leiche, sich darüber, und wurde von Schmerz und Jammer so erschüttert, daß das Bett mit ihr bebte. Auch mich hielt das Weh um diesen Tod wie mit eisernen Klammern umspannt; allein der Zustand meines Weibes weckte mich aus meiner Betäubung. Ich versuchte zu reden mit ihm; der Krampf im Herzen duldete keine Antwort und ich fürchtete jeden Augenblick, daß es ersticken würde. Endlich gelang es mir, es auf das Bett zu legen, mit Wasser den Krampf zu lösen. Aber die Leiche, die ich in ihr Bettlein tragen wollte, ließ es nicht aus seinen Armen, und so legte es sich stille zurück und winkte mir, stille zu sein und mit Reden es nicht zu quälen. So saß ich dann in der dunkeln Kammer zwischen meinem lebenden und meinem toten Kinde, gedachte bald des toten, bald des lebendigen, und wie mir sein möchte, wenn der Todesengel mir auch dieses entführen würde. Dann mußte ich es betrachten, ob es noch lebe, noch den Atem ziehe; dann traten mir die Thränen aufs neue in die Augen, und Leid und Angst sprudelten mächtiger im Herzen auf. Und der Knabe schlief so süß und hold, die Ärmchen über seinem Kopfe zusammengebogen, und fröhliche Träume riefen flüchtige Lächeln auf seine blühenden Wangen. Vom Jammer der Mutter hatte er nichts gehört, das Leid des Vaters sah er nicht; der Stern des Schmerzens und des Kummers, gebracht durch der Erde Vergänglichkeit, war noch nicht aufgegangen über seinem Haupte, leuchtete noch nicht in seinen Schlaf hinein.

Und so saß ich stille die Nacht hindurch; nur ein leises Schluchzen, nur tiefe Seufzer hörte ich von meinem Weibe, und wenn ich fragte nach seinem Wohl, so drückte es mir leise die Hand und winkte mir, ruhig zu sein. Der Morgen begann zu dämmern; schüchtern wagten nach und nach die Lichtstrahlen sich hinein in unser Stübchen; und als ob sie voll Mitleids wären, zogen sie nur allgemach und leise den Schleier der Nacht von der Scene des Todes und des Jammers. Wüst und in Unordnung trat das Stübchen ins Licht. Blaß und bleich fanden mich die Morgenstrahlen halb schlafend auf dem Stuhle; aus dem Bette begrüßte sie ein andächtiges Auge, und gefaltete Hände hoben sich dem Lichte entgegen, und auf der Wiege glänzte der erste Sonnenstrahl und brach sich golden in den Locken meines lebendigen Kindes. Da fuhr ich auf aus trübem Traume und wollte in die Küche hinaus, etwas warmes zu machen, für uns beide so nötig nach der durchseufzten Nacht. Aber Mädeli hielt mich fest, bat, ich möchte noch nicht weggehen; es hätte mir etwas zu sagen.

Nicht beschreiben könne es mir, erzählte es, wie es ihm gewesen sei, als es das Kind tot am Herzen gehabt. Zum ersten Mal in seinem Leben sei ihm die Quelle des Gebetes aufgesprungen im Herzen, und habe so heiß und glühend dem Vater im Himmel sich ergossen. Es habe eine Kraft im Herzen gefühlt, daß es geglaubt hätte, wenn es um ein Königreich bitten würde, so müßte der Vater im Himmel es ihm geben; auch gar kein Zweifel sei in ihm aufgekommen, daß Er ihm nicht das Leben des Kindes schenken werde.

Und als es ausgebetet hätte, sei das Kind verschieden! Da wäre es ihm gewesen, als ob eine glühende Hand das Herz aus seinem Leibe reiße, oder als ob tausend Berge auf einmal über seiner Brust zusammenstürzten, als ob ein ungeheurer Schlund bodenlos in ewiger Finsternis es verschlinge. Sein Glaube hätte es verlassen; es ist kein Gott, habe es in seinem Herzen gedonnert, ein ewiges Nichts hätte es in unnennbarer Schrecknis angegähnt, und an die Leiche hatte es sich angeklammert, um eine Leiche zu werden, um das Bewußtsein zu verlieren, daß der Mensch doch nichts anders sei als eine werdende Leiche, ob ihm kein Gott, vor ihm keine lebendige Ewigkeit, nur ein ewiges unersättlich Grab. »Es kann sich niemand die fürchterliche Empfindung denken, wenn man in Liebe und Vertrauen an den Vater im Himmel sich angeklammert zu haben glaubt und nun plötzlich ergriffen wird vom Wahnsinn: es ist kein Gott, und jeder Pulsschlag uns zuruft: es ist kein Gott, dein Glaube ist eitel! Ich wußte auch eine Zeitlang nicht, ob ich lebe oder gestorben sei,» sagte es. Lange habe es nichts denken können, sondern nur gewimmert und geweebert in unendlichem Schmerz. Allmählich sei ihm die Besinnungskraft wiedergekommen, aber lange habe die seinen Gott nicht wieder gefunden. Wie ein Ertrinkender hätte es an allen Zweigen sich halten wollen; aber alle seien ihm in der Hand geblieben, fort und fort hätte es ihm in den Ohren gesummset: wenn ein Gott wäre, er hätte dich gehört; wenn die Bibel Wahrheit wäre, dein Kind lebte noch; heißt es nicht: Wer bittet, dem wird gegeben werden, wer anklopfet, dem wird aufgethan werben; heißt es nicht, daß man nicht zweifeln müsse, wenn man empfangen wolle, und hast du gezweifelt? Und immer tiefer sei es gesunken ins Elend, und schwarze, kalte, gräßliche Verzweiflung hatte ihre graulichen Netze immer dichter um seine Seele gewoben. Der Leib war dem Tode nahe, die Seele verlor das klare Bewußtsein und rang zwischen Traum und Ohnmacht. Da sei ihm gewesen, als ob in dieser schwarzen Nacht ein klein Lichtlein heraufkäme, nur schwach glimmend, nur wenig Licht spendend, und in dieses Lichtleins Schein sah es seines Kindes Lächeln wieder, das über dessen Gesichte schwebte, als es von uns schied. Es sei ihm aber gewesen, als ob das Kind wieder lebendig wäre und sein Lächeln hold und gläubig jemand zuwende. Und da sei aus der Dunkelheit eine Gestalt heraufgekommen, mild und lieblich anzuschauen; dieser habe das Kind seine Armchen entgegengebreitet. Da habe diese Gestalt das Kindlein auf ihre Arme genommen und die Hand auf dessen Haupt gelegt. Das Gesichtchen des Kindes habe sich ganz verklärt; es sei ihr gewesen, als ob Flügel wehten an seinen Schultern, und seine Augen habe es ihr wieder zugewandt gar freudig und hell erglänzend wie Karfunkelsteine. Auf einmal hätte Mädeli erkannt, daß es der Heiland sei, der ihr Kind halte und segne; und wie es das gedacht, hätte er den Finger gegen ihns aufgehoben, als ob er sagen wolle: Weib, wenn du Glauben hättest! und in der Hand hätte es die Nägelmale gesehen und auf einmal daran gedacht, daß auch er in großer Leidensnot gewesen und gebetet habe: Vater, ist's möglich, so gehe der Kelch vor mir vorüber, doch nicht mein Wille sondern dein Wille geschehe; und daß der Leidenskelch nicht vor ihm vorübergegangen sei, daß er ihn habe austrinken müssen bis zum letzten Tropfen, daß er dann aber auch auferstanden sei am dritten Tage zum Zeichen: daß ein Vater im Himmel sei, der höre und den Gehorsam segne. So wie es das dachte, sei das Licht größer geworden und glühend wie die Sonne, und die beiden Gestalten seien immer schöner und himmlischer geworden und hätten es immer holdseliger angesehen. Es sei ihm gewesen, als ob ganze Strahlen der Liebe aus ihren Augen in sein Herz führen, und in einem Glanze, den seine Augen nicht hatten ertragen mögen, seien der Heiland und das Kind verschwunden. Da hätte sich der Krampf in seinem Herzen wohl gelöst und einen Augenblick hätte es geglaubt, auch es sei im Himmel. Aber bald, als es dunkel geworden, seien die Nebel des Zweifels wieder über seine Seele gezogen, hätten die Erscheinung verdächtigt, und wie wenn böse Geister um sein Bette wären, die es höhnten und auslachten um seines Aberglaubens willen, sei es gewesen. Es sei ein ganz wunderlicher Zustand gewesen. Wie im Traum seien ihm allerlei Gestalten erschienen, und doch hatte es denken können und streiten mit dem Bösen. Die bösen Geister waren fast mächtig geworden über ihns, und ihr Hohngelächter habe sich wieder glühend in sein Herz gewühlt. Da hätte es aber gerungen gegen diese Anfechtung. Wohl sei die Erscheinung verschwunden gewesen und nicht wiedergekehrt; aber wie an einem Rettungsanker habe es sich an dem Worte festgehalten: Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Und je mächtiger die Zweifel aufwogten, je eindringlicher die bösen Geister lachten und höhnten, desto fester habe es sich an diesem Worte gehalten, desto inbrünstiger sie selbst gebetet und immer zweimal: doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Da seien ihm zuletzt diese Worte recht eigentlich ins Herz gewachsen und seien zu einer Rute geworden, vor welcher Zweifel und Geister geflohen wären, und aus ihr sei dann Balsam geflossen ins geängstigte Herz und der Glaube neu geworden: Es ist doch ein Gott und ein guter Vater, der hört seiner Kinder Flehn. Aber da sei es gar weich und demütig geworden und habe nun erkannt, wie sehr es gesündiget an Gott, wie sündlich gebetet. Es habe das Leben des Kindes nicht Gottes Willen anheim gestellt, wie der Heiland sein Leiden, sondern es von Gott gefordert. Habe nicht gedacht, daß seine Weisheit und Güte am besten wisse, was fromme, was sein müsse, und der kurzsichtige Mensch froh sein solle, daß der liebe Gott nach seiner Weisheit abschlägt und gewährt und nicht nach des Menschen kurzen Gedanken. Und daß es dann vom Glauben gefallen und in der Prüfung so schlecht bestanden sei, das habe ihm wieder so Angst gemacht und dazu sei noch der Gedanke gekommen: hätte es nicht so gebetet, sondern gläubiger und vertrauensvoller, das Kind lebte noch; der Herr habe es ihm zur Strafe sterben lassen; oder wäre es nicht so verzagt geworden, so hätte er es vielleicht aus dem Scheintod wieder erweckt, und jetzt müsse es nur leiden, was seine Sünden verdient. Das habe ihm auch wieder so weh gethan und immer mit dem Gedanken habe es gekämpft: der liebe Gott strafe doch hart, es hätte doch ja recht innig gebeten, und wenn Mutterliebe und Mutterangst zudringlich würden in ihren Bitten, so sollte er ihnen um ihrer Schwäche und ihrer Liebe willen es verzeihn. Aber auch gegen diesen Gedanken habe es hart gestritten und ihn nicht auskommen lassen, wollte die Schuld auf sich nehmen, die Strafe mit Geduld ertragen, beten: Herr, stets strafst du gelinder, als es der Mensch verdient.

Es habe dann seinem Gott recht innige Gelübde gebracht, nie an ihm mehr zu zweifeln und seiner gütigen Leitung: ihm alles anheim zu stellen und nicht mehr so zu kummern; immer das Gute zu betrachten, was Er gebe, und nicht dem nachzusinnen, was drücke ans des Menschen sinnlichem Gemüte.

Das alles habe es dem lieben Gott sagen können, wie es mir es sage; das Herz sei ihm aufgegangen, es wisse nicht wie; es hatte zu den meisten Menschen nicht so reden können und dürfen. Da sei aber auch eine unbeschreibliche Tröstung über ihns gekommen; es hätte so recht tief im Herzen empfunden, daß der liebe Gott es lieb habe und ihm helfen werde. Es sei auch mehr und mehr überzeugt geworden, daß der Tod seines Kindes nicht eine Strafe für ihns gewesen, sondern vielmehr ein Ruf zu Gott. Der liebe Gott habe seine Schwäche erkannt und wie es ihm noch fremd und ferne sei; da hätte er Mitleid mit ihm gehabt und eins seiner tausend Engelein zu ihm gesandt, um ihns näher zu rufen zu seinem Throne. Und dieses Engelein habe Kindesgestalt angenommen und nur die himmlischen Augen behalten, und mit diesen habe das Engelein die Mutter angezogen, festgehalten und nicht losgelassen, bis sie zusammen in des Vaters Schoß gekommen. Und weil es ein Engelein gewesen, so hätte es wieder sterben müssen leiblich und nicht auf der Welt bleiben können. Daß das Sterben es auch gefreut und daß es wohl gewußt, es habe die Mutter gerettet, das habe man ja an seinem Lächeln gesehen. Und da der liebe Gott so hoch es gewürdigt, durch einen eigenen Engel es zu rufen, so wolle es ihm geheiligt bleiben; und es glaube es, es könn's.

So ward mein Weibchen durch den Tod eines Kindes geheiligt; es war ihm zum Engelein geworden, das ihm sein klein Händchen bot über die hohe Schwelle, welche den irdischen Sinn von Gott trennt; aber das Engelein zog mit Engelskraft und die Mutter überschritt die Schwelle und wandelte nun in Gott, d. h. sie reinigte sich ihm zu einem heiligen Tempel und erfüllte jede Pflicht in seinem Namen und liebte alle mit seiner Liebe und verdammte niemand, sondern überließ das Gericht dem, der gesagt hat: Ich will vergelten.

So that ein totes Kind an seiner Mutter. Mütter, so können und wollen euch alle toten Kinder thun; denn es waren alles Engelein, gesandt, euch zu Gott zu führen, euch zu sühnen mit ihm, euch nicht zu entfremden der Welt, sondern euch auch mit ihr zu sühnen. Aber leider verstehen nicht alle die Stimme der Engel.

Aber auch die lebendigen Kinder sind Engel Gottes, gesandt die Eltern zu heiligen, zu erheben, zu schützen und zu bewahren. Und zum Danke dafür, was thun viele Eltern an den Kindern?

Doch noch viele Engel gehen durch die Welt. Die Feuerflammen sind Engel des Herrn und auch die Wasserströme; Bettler sendet der Herr aus und ruft uns durch sie bald zur Weisheit, bald zur Barmherzigkeit. Steine legt uns der Herr in die Wege und läßt den Thau fallen zu unsern Füßen; alle sind Engel Gottes. Durch sie geht des Herrn Stimme für und für an unser Herz, und er erscheint uns in jedem Busche, in jeder Quelle, die aus den Felsen springt. Ach, wer doch Augen hatte, ihn allenthalben zu sehen! Ach, wer doch Ohren hatte, ihn allenthalben zu hören!


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