Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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36.

Bruno.

Staatsanwalt Witte hatte auf den nächsten Morgen Bruno Baumann bitten lassen, zu ihm zu kommen und einiges Geschäftliche mit ihm zu regeln. Es war nöthig, daß er die verschiedenen eingelaufenen Rechnungen wenigstens durchsah, um soviel als möglich eine Uebervortheilung von Seiten der Gläubiger zu vermeiden.

Bruno kam zur bestimmten Zeit und sah in Witte's Hinterstübchen die eingelaufenen Papiere durch, die sich allerdings auf eine ziemlich bedeutende Summe beliefen, aber dennoch die Ziffer noch lange nicht erreichten, die der Staatsanwalt erwartet oder vielmehr gefürchtet hatte.

Bruno war natürlich in einer sehr gedrückten Stimmung, aber doch ernst und gefaßt, und Witte wirklich von der Resignation gerührt, mit der er Alles über sich ergehen ließ.

»Mein lieber junger Freund,« sagte er endlich, als sich jener mit einem kaum unterdrückten Seufzer von seinem Stuhl erhob und die Papiere zurückschob, »lassen Sie den Kopf nicht sinken. Es hat Sie allerdings in der Täuschung aller Ihrer Erwartungen ein harter Schlag getroffen, aber er ist doch nicht so schlimm, als Sie vielleicht jetzt glauben mögen. Daß Friedrich von Wendelsheim alle die Schulden bezahlt, welche sein Vater oder Sie auf den Namen gemacht haben, ist eine Sache, die sich von selbst versteht; denn wäre er an Ihrer Stelle gewesen, so hätte er ebenfalls Schulden machen müssen und – mit einer andern Erziehung – möglicher Weise noch ganz anders gewirthschaftet. Er fühlt aber auch, daß Sie, und noch dazu ganz unverschuldeter Weise, in einem Alter in das Leben hinausgeworfen werden, wo man nicht mehr anfangen kann zu lernen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und hat mich deshalb gestern beauftragt, Ihnen ein Capital von dreißigtausend Thalern auszahlen zu lassen, das Sie also jeder Sorge für Ihre künftige Existenz überhebt und Sie vollkommen frei und unabhängig in die Welt stellt. Sie können jeden Augenblick darüber verfügen.«

Bruno war feuerroth bei dem Anerbieten geworden, und er bedurfte einiger Zeit, ehe er etwas erwidern konnte. Endlich sagte er leise: »Herr Staatsanwalt, der Erbe von Wendelsheim ist ein Ehrenmann, und sagen Sie ihm für sein großmüthiges Anerbieten meinen herzlichsten Dank – wie ich auch Ihnen für die freundliche und zarte Weise danke, mit der Sie es mir mitgetheilt – aber ich kann es nicht annehmen.«

»Den Henker auch,« rief Witte ordentlich erschreckt, »dreißigtausend Thaler wirft man doch bei Gott nicht mit einer Handbewegung aus dem Fenster!«

»Hören Sie mich ruhig an,« sagte Bruno. »Dafür schon, daß er die Schulden bezahlt, die ich, ohne es zu wissen, auf einen fremden Namen gemacht, bin ich ihm dankbar, und nehme das mit Freuden an, weil ich weiß, daß ich an seiner Stelle ebenso gehandelt hätte. Ich muß es auch – nicht meinetwegen, sondern der armen Leute wegen, die ihr Vertrauen auf den alten Namen nicht so theuer bezahlen dürfen. Dadurch zahlt er es theilweise für sich selber ab – weiter darf es nicht gehen. Ich kann kein Almosen von einem Fremden nehmen.«

»Das sind die unglückseligen überspannten Vorurtheile von Ehre, die Ihnen noch aus Ihrem frühern Stande ankleben!« rief der Staatsanwalt.

»Wollte Gott,« sagte Bruno, »jener Stand hätten keine schlimmeren Vorurtheile, wie Sie es nennen, als das innige Gefühl für seine Ehre – es wäre dann Manches besser.«

»Aber Sie sagen, Sie hätten, was die Rechnungen betrifft, das Nämliche an seiner Stelle gethan – hätten Sie nicht ebenso in Betreff einer Summe gehandelt, die dem unschuldig Ausgestoßenen wenigstens den Schmerz der Abhängigkeit erspart?«

»Ich glaube, ja,« sagte Bruno nach einigem Zögern. »Ich glaube, ich würde ihm ein ähnliches Anerbieten gemacht haben; aber ich bin eben so fest überzeugt, daß er es aus den nämlichen Gründen zurückgewiesen hätte, als die sind, welche mich jetzt dazu bestimmen.«

»Aber lieber, bester Herr . . .«

»Lassen Sie uns enden. Ich trage das drückende Gefühl, ihm zu Dank verpflichtet zu sein, schon jetzt mit mir fort, wenn er es auch selber gesucht hat auf freundliche Art zu mildern, indem er Sie zum Vermittler machte. Ich werde morgen die Stadt verlassen, um nie mehr hierher zurückzukehren, und nur noch zwei schwere Wege stehen mir bevor.«

»Haben Sie Ihre Eltern noch nicht besucht?«

»Nein, ich bin jetzt im Begriff dorthin zu gehen – erlauben Sie vielleicht, daß ich mich vorher bei Ihrer Familie verabschiede, die mir immer so viel Freundlichkeit bewiesen?«

»Hm – ja – gewiß!« rief Witte rasch, und dann die Thür öffnend, rief er hinaus: »Gehe einmal einer von Ihnen hinüber zu meiner Frau und sage ihr, der Herr Lieutenant Bau –, der Herr Lieutenant von Wendelsheim wünsche ihr seine Aufwartung – seinen Abschiedsbesuch zu machen!«

»Es paßt Alles nicht mehr, lieber Staatsanwalt,« lächelte Bruno wehmüthig, als er die Thür wieder schloß, »weder der Lieutenant, noch der Name. Ich bin der schlichte Bruno Baumann geworden, und wenn mir der Name auch noch eben so unbequem ist, wie mir die ungewohnten Civilkleider sitzen, so werde ich mich doch mit der Zeit hineinfinden müssen.«

»Ich kann mir's denken,« nickte der Staatsanwalt, horchte aber doch dabei unruhig nach der Thür – er hatte so eine Ahnung. Jetzt hörte er Jemanden kommen, und der junge Schreiber steckte gleich darauf den Kopf in's Zimmer und sagte:

»Frau Staatsanwalt läßt unendlich bedauern: sie hat Kopfschmerzen, und Fräulein Ottilie sind noch nicht angekleidet.«

Der Staatsanwalt nickte still vor sich hin – genau so, wie er erwartet. Bruno sah ihn an und seufzte:

»Die Damen haben Recht,« sagte er; »ich hätte mir die Abweisung ersparen können. Aber Sie dürfen es mir nicht so übel nehmen, lieber Herr – man findet sich ja nicht so rasch in die neuen Verhältnisse.«

Witte war aufgestanden und lief einmal durch's Zimmer; jetzt blieb er vor Bruno stehen, streckte ihm die Hand entgegen und sagte herzlich:

»Wir bleiben Freunde – was auch kommen möge, und wenn Sie je im Leben Rath oder Hülfe brauchen, Baumann, so kommen Sie zu mir, und – Sie sollen Ihren Mann an mir finden . . .«

»Staatsanwalt Witte zu Hause?« hörten sie draußen eine Stimme – es war Fritz, der im nächsten Augenblick in der Thür stand. Als er Bruno bemerkte, strecke er ihm herzlich die Hand entgegen: »Ich habe mich lange danach gesehnt, Sie zu treffen, Bruno.«

»Auch ich freue mich,« sagte Bruno zurückhaltend, »um Ihnen meinen Dank für das – Geschehene auszusprechen, Herr Baron . . .«

»Herr Baron,« rief Fritz unwillig – »und das von Ihnen? Eben so gut wie es mir unmöglich ist, Sie mit dem Namen zu nennen, den ich so lange getragen habe, so wenig dürfen Sie sich dabei Gewalt anthun! Wir sind Leidensgefährten, alte, langjährige Leidensgefährten, die sich zum ersten Mal im Leben in jener stürmischen Nacht im Park von Wendelsheim begegneten und, selber willenlos, in fremde Bahnen geworfen wurden. Wie feindlich auch damals die Welt gegen uns auftrat – wir selber müssen Freunde bleiben, und dazu biete ich Ihnen die Hand. Aber dann auch kein Baron mehr, sondern Fritz und Bruno und ein herzliches Du, wie es solchen Unglücksbrüdern ziemt.«

Bruno preßte die ihm dargereichte Hand herzlich, und der Staatsanwalt rief: »Aber er will das Geld nicht nehmen . . .«

»Kein Wort mehr darüber,« bat aber Bruno – »alles Andere nehme ich an, vor Allem am liebsten Deinen Brudergruß, Fritz, und damit Du siehst, daß ich auf Deine Liebe zähle, trete ich gleich vor Dich mit einer Bitte . . .

»Oh wie gern, wenn ich sie erfüllen kann!«

»Begleite mich zu den Eltern – ich war noch nicht dort und fürchte den ersten Schritt in meines Vaters Haus.«

»Armer Bruno,« sagte Fritz mit tiefem Gefühl – »so komm; wir wollen gehen, und unterwegs erzählst Du mir Deine Pläne für Dein künftiges Leben – ich Dir die meinigen.«

Die Straße hinab gingen die beiden jungen Leute Arm in Arm, und wer ihnen unterwegs begegnete und sie erkannte, blieb stehen und sah ihnen nach; und Bruno erzählte dem neugewonnenen Freund, daß er beabsichtige, morgen nach Hamburg und von da nach Amerika zu gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen, Fritz dagegen sagte ihm von der Veränderung auf Schloß Wendelsheim, dem trostlosen Zustand des Vaters, der Bestrafung der Tante und seiner glücklichen Liebe, bis sie die alte Werkstätte Baumann's erreichten und unwillkürlich an der Schwelle stehen blieben.

»Wie manche glückliche Stunde habe ich hier verlebt,« sagte Fritz weich, »und darin, Bruno, bist Du weit glücklicher als ich, denn Du findest brave, wackere Eltern, deren Liebe ich Dir die langen Jahre gestohlen – oh, wenn Du mir nur verstatten wolltest, das im kleinsten Theile wieder gut zu machen!«

»Laß es sein, Fritz,« sagte Bruno trübe; »es war uns Beiden nicht verstattet, am Herzen der eigenen Mutter zu ruhen – aber es ist vorbei. Dir war es zum Heil – mir, dem es zum Glück gereichen sollte, wurde es zum Verderben. Also vorwärts – es hilft nichts mehr, zurück zu schauen.«

In der Schlosserwerkstatt gingen die Hämmer fleißig, wie in alter Zeit; aber es wurde nicht dabei gepfiffen und gesungen wie in alter Zeit. Ein trüber Geist lag auf dem alten Hause. Nicht das Unglück – das würde diese Herzen einander nicht entfremdet haben –, nein, die Sünde war hindurch geschritten und hatte ihre dunkeln Spuren hinterlassen. Ein böser Geist war eingezogen – das Mißtrauen, und das Unglück hatte sich an einer Stätte unter Thränen und Seufzern behaglich eingerichtet, wo sonst nur das Glück, wenn auch mit harter Arbeit, seinen Wohnsitz aufgeschlagen.

Der alte Baumann stand am Amboß wie gewöhnlich und formte mit kundiger und geschickter Hand seine Arbeit; neben ihm arbeitete Karl mit den Lehrlingen, und als Fritz zuerst in der Thür erschien, warf Karl seinen Hammer hin, sprang auf ihn zu und reichte ihm treuherzig die rußige Hand. Auch dem Vater zuckte es einmal im Arme, als ob er ein Gleiches thun wolle. Da bemerkte er den eigenen Sohn, der hinter dem Pflegesohn die Schwelle betrat, und er schlug in dem Augenblick auf die dünne, rothglühende Stange, die er in der Zange hielt, mit solcher Gewalt ein, daß er sie zu Fasern breit auseinander schmetterte.

Fritz ging auf ihn zu: »Vater, hast Du keinen Gruß für Deine Söhne?«

»Meine Söhne, Herr Baron?« sagte der alte Mann. »Ich hatte einen, aber, . . .«

Er kam nicht weiter. Fritz hing an seinem Halse und küßte ihn. »Hab' ich das verdient,« rief er dabei, »daß Du mich Baron nennst?«

»Nein, zum Teufel, nein!« rief der alte Mann, den Hammer zu Boden schleudernd und den Pflegesohn umarmend. »Sei mir nicht böse, Fritz, es – fuhr mir nur so heraus, und ich – meinte den – Andern,« setzte er scheu hinzu.

»Und hat er es verdient, Vater?« sagte Fritz vorwurfsvoll »Haben sie ihm da draußen in dem öden Schloß nicht seine ganze Jugend gestohlen? Und wo er Alles verloren, willst Du ihm selbst das vorenthalten, was ihm allein noch gehört – das Herz des Vaters und der Mutter?«

»Und der Mutter,« sagte der Alte düster – »die ihn verkauft hat – wohl bekomm' die Liebe . . .«

»Vater, reich' ihm Deine Hand; er ist gut und brav geblieben trotz alledem, und wir Beide sind Brüder geworden. Wolltest Du Dich von ihm lossagen? – Hast Du selbst ein Recht dazu?«

»Vater,« sagte Bruno leise und streckte ihm die Hand entgegen.

»Du hast Recht, Fritz,« sagte der alte Mann, sich zornig mit dem obern, aufgekrämpten Theile des Aermels die Stirn wischend; »Scham, Schande und Zorn haben mich ungerecht gegen Dich – gegen ihn gemacht. Komm, Unglückssohn,« fuhr er fort, ihm die Arme entgegenstreckend – »komm, sei mir nicht böse und vergiß den Empfang – Du bist ja unschuldig, und Gott mag es denen verzeihen, die so sündhaft, so schmählich sündhaft an Dir gehandelt haben!«

»Mein Vater!« rief Bruno, und beide Männer hielten sich in heißer Umarmung fest umschlossen.

»Und das ist Karl?« sagte Bruno, als er sich endlich wieder aus seinen Armen wand und dem derben Burschen die Hand entgegenstreckte.

»Ja, Bruno,« sagte dieser treuherzig, »und will auch einen Kuß haben – schwarz bist Du nun doch einmal auf der einen Seite, 's ist auch hübsch von Dir, daß Dich der Titel nicht stolz gemacht hat, und wir wollen schon gute Brüderschaft halten.«

»Und wo ist die Mutter?«

Die Brauen des Schlossermeisters zogen sich wieder finster zusammen, und nur mit dem Daumen über die Schulter deutend, sagte er: »Dort hinten – in der Küche.«

»Und darf ich zu ihr?«

»Ich führe Dich hin, Bruno!« rief Fritz, seine Hand ergreifend und ihn mit sich fortziehend.

Und dort draußen saß sie verlassen und allein, verbannt aus den Räumen, in denen sie sonst mit sorgender Hand gewirthschaftet, und nun, als ihr Sohn, um den sie das Alles verschuldet und geduldet, zu ihr trat und sie mit dem süßen, kaum gekannten Namen Mutter! rief, da flog sie empor, da schlang sie die Arme um seinen Nacken und preßte ihn an sich, als ob sie ihn nie im Leben wieder lassen wolle.

Fritz hatte sich zurückgezogen, um dieses erste Begegnen nicht zu stören, und schritt zurück zum Vater. – »Vater, zürnst Du der Mutter noch?«

»Nein,« sagte der Mann finster; »weshalb auch – ich habe nichts mehr mit ihr zu thun.«

»Nichts mit ihr zu thun?«

»Nein – nicht mehr – in nächster Woche werden wir geschieden.«

»Vater!« rief Fritz erschreckt, »um Gottes willen nein – das darf ja nicht sein! Hat denn die arme Mutter nicht schon so viel ertragen?«

»Viel ertragen?« sagte der Mann finster. »Sie hat erst angefangen, und mir indeß mein ganzes Leben vergiftet – Du weißt, wie glücklich wir zusammen gelebt haben,« fuhr er bewegt fort, »wie nie ein böses Wort unter uns gefallen. Ich habe die Frau auf Händen getragen, immer und immer, und nie glauben wollen, daß es eine bessere Ehe auf Erden geben könne, als die unsere. Das ist jetzt Alles vorbei; denn nicht allein, daß sie mich einmal betrogen hat – das hätte ich ihr vielleicht verziehen –, aber sie hat den Betrug beinahe ein Menschenalter durch fortgeführt. Jedes freundliche Lächeln, das ich von ihr in der langen Zeit gesehen, war gelogen – jeder Kuß, jeder Händedruck ein Betrug, und wie das mein Herz mit Gift und Galle erfüllt hat, da es endlich einmal zu einem Ausbruch kam und kommen mußte, kann ich Dir nicht sagen. Ich habe mir selber über das Gefühl Vorwürfe gemacht,« fuhr er rasch fort, als er sah, daß Fritz etwas entgegnen wollte; »ich weiß, daß es nicht christlich ist; ich habe mir selber gesagt, sie ist Dir die langen Jahre eine treue Gattin, Deinen Kindern eine gute Mutter gewesen, und der eine Fehltritt war schlimm, aber der liebe Gott wird ihr schließlich verzeihen, so thu Du es auch – es ging nicht. Ich weiß, daß ich mich selber damit unglücklich mache, mein ganzes Leben lang, aber ich kann's nicht ändern. Ich habe es nicht verdient, aber ich muß es tragen und – werd's auch mit der Zeit tragen lernen.«

»Und der Mutter willst Du die Kinder, den Kindern die Mutter nehmen?«

»Sie hat das Nämliche gethan,« sagte der alte Mann finster; »sie mag jetzt büßen, was sie damals verbrach. Rede mir nichts weiter davon, Fritz – Du kennst mich zur Genüge und weißt, daß Widerspruch mich nur eher in meinen Vorsätzen befestigt, aber nie im Leben davon abbringen kann. Da sieh,« fuhr er fort, indem er die Thür des kleinen Wohnzimmers neben der Werkstätte aufstieß – »da haus' ich jetzt, das ist meine Heimath, wenn ich des Abends von der Arbeit so müde bin, daß ich die Knochen nicht mehr rühren kann – da steht jetzt mein Bett, und dort schlaf' ich allein – wie ein alter Junggeselle, der ich wieder geworden bin.«

»Und die Mutter?«

»Hat das Schlafzimmer neben der Küche, wo sie mit der Else ist, bis – die Scheidung einmal geregelt ist. Es dauert immer so lange, ehe man's fertig bringt, und der Staatsanwalt Witte wollte erst gar nicht dran. Jetzt hat er mir versprochen, es zu beeilen. Er weiß auch am besten mit allen Wegen und Formen, die man bei solchen Sachen zu beobachten hat, Bescheid und hat mir zugestehen müssen, daß dieser Fall hinreichenden Grund zur Scheidung gäbe.«

»Und was werden die Leute in Alburg sagen?«

»Gerade damit die nichts sagen können, laß ich mich scheiden,« trotzte der Alte. »Glaubst Du denn, daß auch nur ein Dienstmädchen durch die Stadt liefe, das nicht stehen bliebe und uns nachsähe, wenn ich wieder mit Deiner – Pflegemutter ausginge? Nein, wahrhaftig nicht – wir wären das Gespött und der Klatsch der ganzen Stadt, und so lange ich das noch vermeiden kann, werde ich mich ihm gewiß nicht muthwillig aussetzen. – Aber, was ich Dich fragen wollte, Fritz: was gedenkt der – Herr Lieutenant jetzt zu thun?«

»Vater!«

»Gut – der Bruno also, wenn Dir das besser klingt. Was hat er gelernt, womit er sich hier sein Brod verdienen würde? Denn daß er bei mir als Lehrling in die Werkstatt eintreten möchte – was das Natürlichste wäre – kann ich mir doch nicht denken.«

»Er will nach Amerika, Vater.«

»Nach Amerika!« sagte der Alte still vor sich hin, mit dem Kopf nickend. »Der Gedanke ist nicht so unrecht, und ich – ich wollte, ich wäre auch drüben, denn hier in Deutschland werde ich doch nicht mehr froh. Hol's der Teufel,« setzte er hinzu, indem er seinen Hammer wieder aufgriff und eine neue Eisenstange in's Feuer schob, »ich wollte, ich wäre todt und läg' draußen unter dem kühlen Rasen, um nur einmal eine Weile ausschlafen zu können von all' dem Grübeln und Denken, das einem die Stirn bald auseinander reißt! Aber da kommt der Bruno wieder – nimm ihn mit fort, Fritz – mir ist jetzt so wunderlich zu Muthe – ich muß meinen Ingrimm erst eine Weile an dem Eisen auslassen, nachher wird's besser – nimm ihn mit fort.«

Fritz kannte den Vater zu gut, um nicht zu wissen, daß er Recht hatte. In solcher Zeit war es am besten, ihn allein zu lassen; sein ruhiger Verstand und sein gutes Herz arbeiteten sich dann vielleicht wieder an die Oberfläche; wurde er aber von außen gestört, so loderte der heimlich genährte Aerger auch oft lichterloh empor, und man verdarb jedenfalls weit mehr, als man nützte. Sobald Bruno deshalb die Werkstatt wieder betrat, nahm er ihn unter den Arm und führte ihn der Thür zu.

»Wir kommen wieder, Vater,« rief er dem Alten zu, »Bruno hat noch Einiges zu besorgen, und ich auch – auf Wiedersehen – Adieu, Karl!« Ein Wink für Bruno, und dieser folgte ihm vor die Thür, wo ihm Fritz die Ursache ihres raschen Abschieds mit wenigen Worten erklärte. »Und wo willst Du jetzt hin?«

»Den schwersten Gang von allen thun,« sagte Bruno leise. »Aber frage mich nicht, wenigstens nicht jetzt – morgen sollst Du Alles wissen, morgen seh' ich Dich auch noch, um Abschied von Dir zu nehmen. Du kommst doch in die Stadt? Ich möchte Wendelsheim nicht wieder betreten . . .«

»Gewiß – und Du willst wirklich fort?«

»Ich muß. Glaubst Du, daß ich es hier ertragen könnte zu leben, wo ich jede Stunde einem früheren Kameraden begegnen und dann die kalten oder gar höhnischen Blicke ansehen müßte? Nein – nur über dem Meer drüben giebt es noch eine Heilung für mich. Und jetzt lebe wohl, denn den Weg, den ich heute zu gehen habe, muß ich allein gehen.«

Er hatte sich von dem Arm des jungen Mannes losgemacht und schritt langsam und schweren Herzens die Straße nieder. Aber es mußte sein und er sich jetzt, wie er von Stand und Reichthum losgerissen worden, auch noch von dem Letzten losreißen, was ihm geblieben – von seiner Liebe.

Seine Bahn war schnurstracks dem Hause Salomon's zu, das er jetzt seit Wochen, seit er das Furchtbare erfahren, nicht mehr betreten. Er mußte noch einmal dorthin, um Abschied zu nehmen und Rebekka ihr Wort zurück zu geben. Ja, einmal hatte er mit Stolz geglaubt, die Geliebte zu sich emporheben, sie mit Rang und Glanz umgeben zu können und keck dabei den Vorurtheilen seines Standes zu trotzen – das war vorbei. Er, der arme, pfenniglose Wanderer, der Sohn eines armen Handwerkers, konnte nicht mehr um die Tochter des reichen Juden freien, ja, Salomon selber würde sich geweigert haben, sie ihm zu geben und dem Kind mit ihm in die Fremde hinausziehen zu lassen. Also vorwärts! Mit seinem Entschluß war er im Reinen, und jetzt galt es nur, dem Schweren noch das Schwerste beizufügen; dann war Alles überstanden.

Wie in einem Traum schritt er heute durch die Judengasse, wie in einem wüsten, bösen Traum; er hob die Augen nicht vom Boden, und nur das Summen, Schreien und Toben, das Lachen und Kreischen der Kinder hörte er, als er hindurchschritt, wie aus weiter Ferne.

Jetzt hatte er Salomon's Laden erreicht und sah zu seinem Erstaunen den Alten emsig beschäftigt, einen Theil seiner Sachen zu ordnen, einen andern einzupacken, und viele Kisten standen schon theils zugenagelt, theils noch offen in dem Raum umher. Der alte Mann war auch nicht allein; seit jenem Mordanfall hatte er den dunkeln Laden nie wieder allein betreten und immer zwei Leute bei sich, damit, wenn er Einen fortschicken mußte, wenigstens Einer bei ihm blieb. Diese halfen ihm jetzt beim Packen. Kaum aber hörte er einen fremden Schritt und erkannte, sich danach umdrehend, Bruno, als er, erschreckt emporfahrend, ausrief:

»Gott der Gerechte, der Herr Baron! Ist er doch endlich gekommen, und wie ist mir geworden die Zeit so lang in der langen Weile!«

»Lieber Salomon . . .«

»Warten Sie einen Augenblick, Herr Baron – Ihr Beiden,« wandte er sich dann an die Arbeiter, »hört für heute auf; werden wir doch nicht fertig in einem Tag oder in einer Woche. Macht mir den Laden zu vorn und zieht mir den Schlüssel hübsch ab – und das Hofthor auch; wir werden gleich hinaufgehen, Herr Baron, kann Ihnen dann auch Ihre Quittung geben über Alles. Vor einer Stunde war der Mann hier, hat mir das ganze Geld gebracht, Capital und Zinsen, bei Heller und Pfennig. Ein nobler Herr, ein sehr nobler Herr, der Herr Staatsanwalt Witte – hätte aber wahrhaftig eine solche Eile nicht gehabt. Ich konnte warten, und würde auch mit Geduld gewartet haben – noch so lang.«

»Ihr wißt Alles, was vorgegangen ist, Salomon?«

»Soll ich nicht wissen, was die ganze Stadt weiß,« sagte der alte Mann; »die Kinder sprechen davon auf der Straße und die Mädchen am Brunnen. Es war ein trauriger Fall für die Frau Mutter. Soll ich leben – ich begreif's nicht – sind jetzt auf einmal in die Verwandtschaft gekommen – Ihr Herr Onkel hat mir den Hieb über den Kopf gegeben . . .«

»Lassen wir das, Salomon,« sagte Bruno mit einem schweren Seufzer, denn es war ihm furchtbar, das Entsetzliche gerade in diesem Augenblick noch einmal durchzuleben. »Ich freue mich, daß das Geld von dem jetzigen Erben so gewissenhaft ausgezahlt ist – ich selber wäre es nicht im Stande gewesen.«

»Ein Kunststück,« sagte der alte Mann, »wenn man eine halbe Million so mit einem Schlag verliert – vor dem Mund weg.«

»Das also drückt mich wenigstens nicht mehr,« fuhr Bruno fort, »und nur noch Eins bleibt mir zu thun übrig, Salomon – Euch erstlich für alles Liebe und Gute zu danken, was Ihr mir gethan, und dann – Abschied zu nehmen von Euch und Eurer Familie – von Rebekka.«

»Abschied – wie haißt?« sagte der alte Mann, der aber in vortrefflicher Stimmung zu sein schien. »Sie wollen doch nicht fort von Alburg, Herr Baron?«

»Und weshalb nennt Ihr mich noch immer Baron?«

»Gott der Gerechte, wenn ich Ihnen jetzt auf einmal sagte, ich heiße nicht Salomon, ich heiße Isaak – würden Sie nicht immer zu mir sagen: Wie geht's, Salomon? und nicht: Wie geht's, Isaak? – Es liegt einmal auf der Zunge, und wenn man spricht, fährt's heraus.«

»Aber ich bin kein Baron mehr und – bin es nie gewesen.«

»Wenn das das größte Unglück wäre, was Sie betroffen hat, man könnt's ertragen. Aber wo wollen Sie hin, daß Sie kommen, um Abschied zu nehmen?«

»Nach Amerika, Salomon,« sagte Bruno entschlossen. »Ich bin jetzt arm, habe nichts mehr, und muß mir nun selber eine Existenz zu gründen suchen. Früher wäre ich stolz darauf gewesen, Rebekka die Meine nennen zu können – jetzt bin ich hergekommen, um ihr das mir gegebene Wort zurück zu bringen; ich darf ihr Schicksal nicht an das eines Heimathlosen binden. So laßt mich noch einmal zu ihr hinaufgehen – es ist das letzte Mal –, noch einmal ihr in das gute Auge schauen und ihre Hand drücken, dann bin ich frei und werde Euch nicht mehr lästig fallen.«

»Was das für a Red' ist,« sagte der alte Mann, »lästig fallen! Der Herr Baron – wollt' ich sagen: Herr Baumann – wissen recht gut, daß Sie uns nicht lästig gefallen sind. Aber wir wollen hinaufgehen; der Laden ist zu – muß nur einmal nachsehen, ob das nichtsnutzige Volk seine Schuldigkeit gethan. So, Alles in Ordnung; jetzt werd' ich hier zuschließen, und nun kommen Sie, Herr Baron – wollt' ich sagen: Herr Baumann –, daß wir noch einmal zur Rebekka gehen, ehe Sie reisen nach Amerika – und das viele salzige Wasser dazwischen – das wird eine Reise werden!«

Bruno erinnerte sich gar nicht, den alten Mann je so gesprächig gesehen zu haben, wie heute; aber das eigene Herz war ihm zu schwer, um viel darauf zu achten. Wie schwer wurden ihm die Füße, als er jetzt die Treppe hinaufstieg, die er sonst so oft mit wenigen Sätzen überflogen – fast so schwer als damals, da er Rebekka bitten wollte, sein Ehrenwort einzulösen, und doch die Bitte dann nicht über die Lippen brachte. Heute mußte er reden, hier half kein Zögern mehr, denn die Würfel waren gefallen, und Salomon schien ja auch seine Reise nach Amerika ganz in der Ordnung zu finden. Was blieb einem armen, aus seiner Carrière gerissenen Menschen überhaupt anders übrig, als das Vaterland zu meiden und in einer neuen Welt ein neues Leben zu beginnen!

Jetzt waren sie oben. Salomon öffnete mit seinem kleinen Schlüssel die äußere Saalthür, schloß sie dann wieder und hing die Kette vor. Dann aber lachte er und rief: »Rebekkche, Rebekkche! Wir haben ihn gefangen – hier ist er!«

Drinnen in der Stube ertönte ein Freudenschrei, die Thür flog auf und Rebekka weinend, jauchzend in Bruno's Arme.

»So,« rief der alte Mann, »das wird ein ordentlicher Abschied, fangen gleich damit an! Soll ich leben und gesund sein, wenn ich's mir nicht gedacht habe!«

Und jubelnd zog das junge, blühende Mädchen den Geliebten in die Stube hinein, und an seinem Halse weinte und lachte sie, daß er so lange, so ewig lange fortgeblieben, und dankte ihm, daß er jetzt wiedergekehrt wäre und die Sorge von ihrer Seele genommen hätte. Bruno wollte sprechen, aber er kam gar nicht zu Worte. Mit ihren Küssen erstickte sie das Schwere, das er zu sagen hatte, und doch nur schwerer wurde es ja gerade durch dieses Zögern, durch diese Liebkosungen, die ihm das Glück, das er im Begriff war, von sich zu stoßen, nur wieder mit all' seinem unwiderstehlichen Zauber um die Seele flochten.

Der Vater und die Mutter standen dabei. Da streckte Bruno endlich die Hand nach ihm aus und bat den alten Mann: »Sprecht Ihr mit ihr, Salomon – ich kann es ja nicht, Ihr wißt Alles – oh, bitte, sagt ihr, was mich hergeführt!«

»Gut,« nickte Salomon vergnügt, »werd' ich sprechen, und nun, Rebekkche, wirst Du zuhören, was Dir der Herr Baron – wollt' ich sagen: der Herr Baumann – mitzutheilen hat. Als er aber ist gekommen, um Abschied zu nehmen, weil er nach Amerika will, muß er gerathen sein in ein falsches Haus, denn da wir auch nach Amerika gehen und die Reise also zusammen machen, braucht man nicht zu nehmen Abschied – es ist kein Verstand darin . . .«

»Aber, Salomon . . .«

»Außerdem will er zurückgeben dem Rebekkche ihr Wort, was sie ihm hat gegeben als Baron – wie heißt? Hat sie ihn dabei genannt Baron oder Bruno, bei seinem Vornamen? Nun, den Bruno hat er doch behalten, muß er nicht auch behalten das Wort?«

»Aber, Salomon . . .«

»Und als er ist nicht mehr Erbe von eine halbe Million – mit Abzug der Kosten –, ist er auch nicht mehr Baron, und die Sache wird sich heben. Dem Baron hatte ich mein Jawort gegeben –, ja, aber mit wie schwerem Herzen – der Himmel weiß es, denn ich sah nichts als Unglück darin für mein Kind – Demüthigung und Thränen und Zank in der Familie, wo soll sein einig und Ein Herz und Eine Seele! Jetzt hat er abgeschüttelt den Baron, und nun ist er der einfache Bruno Baumann, der Sohn von'm braven Mann, dem Schlosser Baumann, und als das Rebekkche an ihm hängt mit ihrem ganzen Herzen und sich zu Tode härmen würde, wenn sie ihn sollt' verlieren, und als er bewiesen hat, daß er ist ein braver Mann wie sein Vater, der alte Schlosser Baumann, und kein Baron – soll ich leben, mir geht der Odem aus – so wollen wir machen kurzen Proceß und sagen: der Gott unserer Väter segne den Bund Eurer Herzen – seid glücklich und macht uns alte Leute auch glücklich in Eurem Glück!«

»Aber, Salomon,« rief Bruno, betäubt von der auf ihn einstürmenden Seligkeit, »ich bin arm, blutarm, und nicht im Stande, eine Frau zu ernähren!«

»Wie haißt?« sagte Salomon. »Sie sind jung und geschickt und ein Meister auf dem Instrument – Amerika ist ein freies Land – glauben Sie, daß sich in einem freien Land ein junger, geschickter Mensch nicht durchbringen kann mit seiner Frau? Und sollt es wo fehlen, hat der alte Salomon nicht Geld genug und nur ein einziges Kind, was er will glücklich machen, wenn's in seinen Kräften steht?«

»Und Ihr wollt Alle fort?«

»Alle,« sagte der alte Mann jetzt plötzlich ernst; »es ist kein Boden hier für uns, und seit dem letzten Raubanfall hab' ich das Vertrauen zu der Stadt verloren, in der ich heimisch war. Ich kann den Laden nicht mehr betreten ohne Furcht und Grauen, ich sehe immer den kleinen Mann hereinkommen, und seine häßlichen, stechenden Augen. Wir gehen mit dem nächsten Schiff. Viel von meinen Sachen hab' ich schon hier verkauft – Manches billig, Manches theuer – viel nehm' ich mit. Als es ist ein neues Land, brauchen sie Antiquitäten; der alte Salomon kommt nicht zu kurz. Sie aber, Herr Baron – wollt' ich sagen: Herr Baumann –, Sie meinen jetzt, Sie wollen dem Rebekkche ihr Wort zurückgeben, und ich soll mein Kind mit nach Amerika nehmen und soll sehen, wie es sich abhärmt und grämt und weint, blos weil Sie nicht mehr sind Baron – hat sie das um Sie verdient?«

»Rebekka,« rief Bruno in jauchzender Seligkeit, »ist es wahr, Mädchen? Du stößt den armen, schlichten Sohn eines Handwerkers nicht zurück? Du willst Dein Geschick an das seine ketten?«

»Dein bin ich, Bruno!« rief das schöne Mädchen, in Glück und Liebe erglühend und ihn fest umschlingend. »Dein für immer, Dein in Freud' und Leid – bis in den Tod!«

»Rebekka – meine Rebekka!«

»Gott der Gerechte, was ein Abschied!« sagte Salomon.



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