Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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26.

Das Geständniß.

Die Frau des Schlossermeisters Baumann hatte, wie Karl auch gesehen, das Haus verlassen und sich die Straße hinabgewandt; aber Baumann's Furcht, daß sie in Angst und Aufregung beabsichtigen könne, sich ein Leid anzuthun, war unbegründet. Sie folgte allerdings eine kurze Strecke der Straße, die sich dem Fluß und einer darüber führenden Brücke zuzog, drehte dann aber rechts ab in einen Seitenweg hinein, bis sie das Haus des Staatsanwalts Witte erreichte. Aber schon unterwegs zog sie die Blicke der Vorübergehenden auf sich, denn sie schien Niemanden zu sehen, sprach dabei mit sich selber und nickte dazu, während sie sich mit beiden Händen die Ellbogen hielt, als ob sie fröstelte, ununterbrochen mit dem Kopfe.

Erst in dem Hause angelangt, kam sie ordentlich wieder zur Besinnung, denn bis dahin war sie wie in einem Traum fortgeschritten. Sie blieb auf dem Hausflur stehen, strich sich die Haare aus der Stirn, ordnete ihr Tuch etwas besser und sah nach ihrem Kleid, als ob sie irgendwo einen Besuch machen wolle, und stieg dann langsam, aber ohne irgend ein Zögern die Treppe hinauf.

Oben blieb sie stehen. Die eine Thür zeigte allerdings deutlich genug durch ein Schild das Bureau des Staatsanwalts an; aber sie wußte auch, daß dort viele Schreiber saßen, und sie wollte ihn allein sprechen. Ging sie lieber hinüber zu einer der in die Wohnung führenden Thüren? Aber nein, dort mußte sie fürchten, jenem Mädchen zu begegnen, das ihrem Fritz so weh gethan und ihn vielleicht gar zu der schwarzen That getrieben. Lieber zu den fremden Männern in die Stube – dort wurde sie doch nicht verachtet und zurückgestoßen, und ohne sich länger zu besinnen, schritt sie auf die bezeichnete Thür zu und klopfte an.

»Herein!« rief die monotone Stimme des einen der Schreiber, und die Frau stand auf der Schwelle und warf den Blick scheu in dem engen Raum umher.

»Ist der Herr Staatsanwalt zu Hause?«

Der Schreiber deutete, ohne eine weitere Antwort für nöthig zu halten, mit der Feder nach der Stube desselben.

»Ist er allein?«

»Ja, aber er wird nicht viel Zeit haben, er muß bald fort.«

»Ich muß ihn sprechen.«

»Gut, versuchen Sie es – da drinnen ist er« – und wieder kritzelten die Federn über das Papier.

»Frau Baumann?« sagte Witte, als er sie erkannte und sich wohl denken konnte, weshalb sie kam – des gefangenen Sohnes wegen. »Ja, es thut mir leid, aber so schnell geht die Sache nun einmal nicht mit unseren Gerichten. Uebrigens . . .«

»Kann ich ein Paar Worte allein, ganz allein mit Ihnen sprechen, Herr Staatsanwalt?« unterbrach ihn die Frau, indem sie ihn mit ihren großen Augen scharf und doch bittend ansah. »Ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen, aber es darf mich Niemand weiter hören als Sie – und Gott,« setzte sie leise und kaum hörbar hinzu.

»Etwas sehr Wichtiges?« sagte Witte erstaunt.

»Etwas sehr Wichtiges,« wiederholte die Frau, »und Sie werden die Zeit nicht bereuen, die Sie darauf verwenden.«

»Hm!« – Witte sah nach der Uhr; er hatte allerdings nicht viel Zeit, weil er zu einer wichtigen Besprechung auf das Criminalamt mußte. Wäre es aber wirklich etwas Wichtiges gewesen, so konnte er auch einen seiner Schreiber hinaufschicken und die Sache um eine halbe Stunde aufschieben lassen. Frauen hielten nur gewöhnlich eine Menge von Dingen für wichtig, die an sich unbedeutend genug waren – nun, er konnte wenigstens hören, was sie wollte.

Für solche Fälle, die auch gar nicht etwa so selten vorkamen, benutzte er gewöhnlich eine kleine, hinter seinem Arbeitszimmer befindliche Stube, in welcher nur eine Anzahl von Bücher-Regalen mit wenig gebrauchten Büchern und alten Acten und ein Tisch wie ein paar Stühle standen. Das Zimmer sah auf den Hof hinaus und lag so abgeschieden, daß kein darin gesprochenes Wort durch die Wände drang.

Witte stand auf und öffnete die Thür der Schreibstube. »Ich will jetzt nicht gestört werden,« sagte er hinaus; »wenn Jemand in der Zwischenzeit kommen und nach mir fragen sollte, so lassen Sie ihn nicht in mein Zimmer, sondern behalten ihn hier, bis ich selber herauskomme.«

»Sehr wohl, Herr Staatsanwalt.«

»So, Frau Baumann,« sagte dann Witte, indem er die Thür wieder schloß, »haben Sie jetzt die Güte und kommen sie hier mit herein. Da drinnen hört Niemand, was Sie mir zu sagen haben; aber seien Sie so gut und machen Sie es so kurz als möglich, denn meine Zeit ist gemessen, und wenn die Sache nicht wirklich sehr wichtig ist, thäten Sie mir sogar einen Gefallen, wenn Sie lieber heute Nachmittag wieder vorkämen.«

»Es hängt Leben und Tod daran,« sagte die Frau ernst.

»Leben und Tod? Dann freilich geht das allem Andern vor – bitte, treten Sie näher und nun setzen Sie sich und sagen mir, was Sie zu sagen haben. Sie zittern ja an allen Gliedern – ist etwas vorgefallen?«

»Lassen Sie mir nur einen Moment Zeit, Herr Staatsanwalt,« sagte die Frau, indem sie auf den nächsten Stuhl niedersank – »nur um meine Gedanken zusammen zu bringen – es geht dann auch um so viel schneller. Mir wirbelt der Kopf jetzt noch vom vielen Denken.«

Der Staatsanwalt sah nach der Uhr; es fehlte kaum noch eine Viertelstunde an der bestimmten Zeit, in der er fort mußte. Er wollte aber doch wenigstens erst wissen, um was es sich hier handle und beobachtete deshalb ruhig die Frau, die aber seinem Blick noch auswich und nur einen Anfang zu suchen schien, mit dem sie beginnen könne. Endlich sagte sie:

»Es hilft doch nichts – es ist doch Alles vorbei und ich kann's nicht mehr ändern, also brauche ich auch keine Vorrede mehr zu machen. Erfahren müssen Sie's doch und der liebe Gott mag's mir vergeben.«

»Aber was, liebe Frau?« sagte der Staatsanwalt, der aus den unzusammenhängenden Sätzen nicht klug wurde.

»Sie wissen eigentlich schon Alles,« flüsterte die Frau, »aber nur noch nicht recht – die Müller war schon bei Ihnen und es ist jetzt vor den Gerichten.«

»Die Müller? Welche Müller?«

»Die Müller von Vollmers . . .«

»Aber was hat das mit Ihrem Sohn zu thun?«

»Es ist nicht mein Sohn!« stöhnte die Frau, indem sie sich krampfhaft an der Lehne ihres Stuhles festhielt. »Es ist – der Sohn – des – Baron von Wendelsheim!«

»Alle Teufel!« rief Witte, fast unwillkürlich von seinem Stuhl emporspringend. »Die Sache ist allerdings wichtig – aber warten Sie einen Augenblick. Fassen Sie Muth, liebe Frau Baumann, gestehen Sie nur Alles aufrichtig, und was ich dann für Sie thun kann, das seien Sie versichert, daß ich es thun werde – ich bin gleich wieder bei Ihnen –« und rasch schritt er durch sein Arbeitszimmer der Schreibstube zu.

»Gerber,« sagte er hier, »Sie mögen einmal hinauf auf das Stadtgericht gehen und dort in Nr. II den Justizrath Bertling bitten, mich auf eine halbe Stunde zu entschuldigen – ich kann jetzt nicht fort. Ist frisches Wasser in der Flasche?«

»Ja wohl, Herr Staatsanwalt – eben geholt.«

»Geben Sie mir einmal die Flasche – ich danke Ihnen – ein Glas habe ich selber drüben – ich bin für Niemanden zu sprechen.«

Der Staatsanwalt eilte mit der Flasche und einem Glase zu der Frau Baumann zurück, die sich aber in der Zwischenzeit vollständig erholt und jede Schwäche niedergekämpft hatte. Sie trank allerdings ein Glas Wasser, aber sie schien jetzt vollkommen ruhig und gefaßt. Das Schlimmste war auch eigentlich überstanden, das Geständniß selber abgelegt, das Geheimniß gebrochen und jetzt blieb ihr nur noch übrig, die nöthige Aufklärung über das Einzelne zu geben und das mußte ihr leicht werden, denn sie sprach ja nur die reine, lautere Wahrheit.

»Sie haben mir da vorher, meine liebe Frau Baumann,« begann der Staatsanwalt jetzt – denn er wollte vor allen Dingen die Thatsache constatirt haben – »eine wunderbare Eröffnung gemacht, in der ich Sie noch einmal fragen muß, ob ich Sie auch richtig verstanden habe. Sie sagten nämlich, daß Ihr Sohn – Sie meinten damit den Friedrich Baumann, nicht wahr?«

»Ja, Herr Staatsanwalt.«

»Nicht Ihr Sohn, sondern der des Barons von Wendelsheim wäre. Ist das richtig?«

»Ja, Herr Staatsanwalt.«

»Merkwürdig – und weiß der Baron von Wendelsheim davon?«

»Nein, Herr Staatsanwalt.«

»Er weiß es nicht?« rief der Mann erstaunt.

»Nein, Herr Staatsanwalt.«

»Aber wie ist das um des Himmels willen möglich? Wußte es denn seine verstorbene Frau?«

»Eben so wenig; sie würde sich eher das Herz aus dem Leibe, als ihr eigenes Kind haben nehmen lassen.«

»Dann muß ich Ihnen aber gestehen, daß ich Ihre ganze Angabe nicht begreife, beste Frau, denn wenn beide Eltern nichts davon wissen, sagen Sie mir, wie es dann irgend möglich ist, einen derartigen Tausch – denn darauf hin läuft doch das Ganze hinaus – vorzunehmen?«

»Und doch ist es wahr,« nickte ruhig die Frau. »Wenn Sie mich aber anhören wollen, so werde ich Ihnen Alles erklären – Alles – und dann – möchte ich sterben, um die Schande nicht zu erleben, die mich treffen muß.«

»Ich bin wirklich begierig,« sagte Witte, »denn ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich es nicht begreife.«

»Sie wissen, welche Clausel das Testament hat, das in den nächsten Tagen fällig sein muß,« sagte die Frau.

»Darüber beruhigen Sie sich; ich habe mich mit der verwünschten Geschichte so viel und bis jetzt so nutzlos beschäftigt, daß ich den Gegenstand durch und durch und bis in seine kleinsten Einzelheiten kenne.«

»Der Baron von Wendelsheim, wie mir meine Schwester, des Schuhmachers Heßberger Frau, sagte, hatte Angst, daß ihm kein Knabe, sondern ein Mädchen geboren würde, wonach die Erbschaft für ihn verloren gewesen wäre, und meine Schwester ist eine kluge, aber – Gott vergebe es ihr! – eine böse Frau. Der alte Baron zog sie zu Rathe, und sie wußte Rath. Mir sollte damals das erste Kind geboren werden, und sie war täglich um mich. Es ging uns noch knapp – wir mußten uns mühsam durchhelfen, um nur das tägliche Brod zu gewinnen. Baumann war ein junger Mensch, der damals erst anfing selbstständig zu werden; es reichte hier und da nicht aus, und ich sah für das Kind, das ich erwartete, nur bittere Noth und Sorge. Und doch war ich ehrgeizig. Ich wußte, was Baumann für ein geschickter, braver Mann sei, wie er getrost den Ersten an die Seite treten konnte, und wie doch Andere immer wieder durch Protection oder andere Vergünstigung die Arbeit bekamen, die er hätte eben so billig und viel, viel besser und tüchtiger liefern können. Das fraß mir in's Herz – aber das nicht allein, auch eine Sünde, die sich meiner bemächtigt hatte: ich war eitel – ich ärgerte mich, wenn andere Handwerkerfrauen besser und vornehmer gekleidet gingen, als ich, und der böse Feind gewann seine Macht über mich.«

Witte hatte ihr aufmerksam zugehört, und hütete sich wohl, sie auch nur mit einem Wort zu unterbrechen. Die Frau, wie sie da vor ihm saß, sprach jetzt die Wahrheit, und wenn er der Sache je auf den Grund kommen wollte, so konnte er nichts Besseres thun, als sie eben ausreden lassen.

»Meine Schwester,« fuhr die Frau nach einer Pause fort, in der sie still vor sich niedergestarrt hatte, »kannte alle meine schwachen Seiten. Sie versicherte mir, daß ich einen Knaben bekommen würde, und der Knabe würde in Lumpen und Jammer groß und sein ganzes Leben geknechtet und herumgestoßen werden; denn was haben die Armen für Rechte auf der Welt! Aber in meinen Händen läge es, den Knaben, das Kind, für das ich mich schon sorgte und ängstigte, ehe es nur athmete, groß und vornehm zu machen und ihm Alles zuzuwenden, nach dem die Menschen hier auf Erden mit allen Kräften streben und es zu erreichen suchen: Rang und Reichthum. Kurz, sie schlug mir vor, den Knaben, wenn es ein Knabe würde, dem Baron von Wendelsheim zu überlassen, der ihn zu seinem Sohn und Erben heranziehen wollte, während ich dagegen sein eigenes Kind, wenn es ein Mädchen wäre, wie mein eigenes pflegen und warten, aber nie im Leben verrathen sollte, wer seine wirklichen Eltern wären.«

»Lange sträubte ich mich dagegen,« sagte die Frau mit einem tiefen Seufzer. »Der Gedanke war mir zu furchtbar, mein Kind, mein eigenes Kind herzugeben, um es von fremden Eltern erziehen und pflegen zu lassen. Aber der Hochmuthsteufel, der seinen Sitz in meinem Herzen aufgeschlagen, arbeitete auch in mir und ließ nicht Ruhe. Er malte mir vor, welch ein vornehmer, von allen Leuten geachteter Herr mein Knabe werden könnte, für den ich jetzt nur Noth und Armuth vor Augen sah, und – von dem Teufel geblendet, willigte ich endlich ein. Das Geld, was mir die Heßberger noch außerdem versprach, hatte keinen Werth für mich, reizte mich wenigstens nicht, oder machte mir die Sache leichter; nur mein Kind wollte ich groß und vornehm wissen, und stolz auf es sein können, und mich an ihm freuen, und das andere dafür pflegen und groß ziehen mit meinen besten Kräften – Du großer Gott, ich war selber noch jung und leichtsinnig, und hatte ja keine Ahnung, welche furchtbaren Folgen das in der Zukunft haben könnte!«

»Und dann?« fragte Witte, denn das Alles betraf nur Verabredungen, und Vorsätze und hatte nicht den geringsten Werth für ihn.

»Dann,« fuhr die Frau fort, »dann schenkte mir Gott einen Knaben, ein liebes, herziges, gesundes Kind, und ich herzte und küßte ihn, und hatte alle meine Pläne und Hoffnungen vergessen, denn ich dachte es mir nicht mehr möglich, daß ich ihn je wieder freiwillig hergeben und aus meinen Armen lassen könnte. Unglücklicher Weise traf es sich aber gerade damals, daß mein Mann verreisen mußte. Er hatte auf dem Gut in Vollmers ein eisernes Gitter aufzustellen.«

»In Vollmers?«

»Ja – wozu er drei oder vier Tage brauchte und auch dort natürlich übernachtete, um am nächsten Morgen gleich wieder mit Tagesgrauen anfangen zu können.«

»Und Ihr Mann wußte von der ganzen Verabredung nichts? Sie hatten nie mit ihm darüber gesprochen, ihn nie um seinen Rath gefragt?«

»Nie. Ich hätte es nicht gewagt, denn er wäre schon bei dem bloßen Gedanken außer sich gerathen, und kannte auch die Menschen besser als ich. Er mochte meinen Schwager nicht leiden, den er für einen Heuchler hielt, und verdachte mir sogar den Umgang mit der Schwester, obgleich er zu gut war, ihn mir ganz zu verbieten – oh, wäre ich ihm gefolgt!«

»Und wie wurde es weiter?« fragte der Staatsanwalt, um sie von dieser Abschweifung zurück zu bringen.

»An demselben Abend,« erzählte die Frau – »es wurde eben Dämmerung und ich war mit meinem Kinde allein – kam plötzlich meine Schwester zu mir. Sie trug einen weiten, dunkeln Mantel und war in großer Eile. Sie sagte mir, daß die Baronin von Wendelsheim draußen ein Mädchen geboren habe und daß sie hinausgerufen wäre, um ihr beizustehen, und jetzt sei der Moment, um das Glück zu ergreifen und festzuhalten. Ich bat und beschwor sie, von ihrem Plan abzustehen; ich sagte ihr, daß ich mich von dem herzigen Knaben nicht trennen könne, daß ich sterben würde. Sie lachte darüber und meinte, mein Knabe solle ein großer und vornehmer Herr werden, und um das zu erreichen, brauche ich nichts zu thun, als viel Geld zu nehmen und still zu sein. Eine Entdeckung war auch nicht zu fürchten; sie allein hatte mir in meinen Nöthen beigestanden und Niemanden weiter dazu gerufen, mein Mann wußte noch nicht einmal, daß uns ein Kind geschenkt sei, und sollte es erst bei seiner Rückkehr erfahren. Sie ließ mir auch gar keine Zeit zum Ueberlegen, und schwach und erschöpft, wie ich mich fühlte, konnte ich ihr nicht einmal Widerstand leisten. Ich weinte und bat nur; aber sie fragte mich, ob ich nicht glaube, daß sie, als meine Schwester, es gut mit mir und dem Kinde meine und mir zu etwas rathen würde, was nicht zu unserem Besten wäre. Dann nahm sie das Kind, schloß die Thür von außen, daß Niemand zu mir konnte, und kam nicht wieder.«

»Welch' furchtbare Zeit habe ich an dem Abend erlebt!« fuhr sie endlich nach einer Pause fort, während ihr der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirn stand und der Staatsanwalt noch immer mit dem Kopfe schüttelte, denn er sah keinen Faden durch das Ganze. Wo war das Mädchen geblieben, das die Baronin geboren haben sollte? – »Welche furchtbare, entsetzliche Zeit!« fuhr die Frau fort. »Ich könnte keine Worte finden, und wenn ich Jahre danach suchte. Stunde nach Stunde verging, und ich weinte nach meinem Kind, während draußen der Sturm die großen Tropfen gegen das Fenster peitschte und der Wind durch den Schornstein heulte. Wie lange ich so gelegen, weiß ich auch nicht: ich muß ohnmächtig geworden und wieder zu mir gekommen sein, ohne daß mir Jemand beistand. Da hörte ich plötzlich einen Schlüssel im Schloß herumdrehen, und nicht meine Schwester, aber mein Schwager trat zu mir herein. Sein Mantel troff von Wasser, aber zitternd, vor Freude zitternd, streckte ich die Arme nach ihm aus, denn ich hörte ein Kind darunter wimmern.

»Mein Kind, mein Kind!« rief ich ihm entgegen. »Oh Schwager, bringt Ihr mir mein Kind zurück!«

»Da habt Ihr's,« sagte der Mann mit einem lästerlichen Fluch. »Ist das ein Wetter, um einen Menschen darin hinaus zu jagen? Es war nichts – die Frau Baronin hat selber einen Knaben geboren – da habt Ihr das Eurige wieder, wir können's nicht gebrauchen.«

»Mit Jubel ergriff ich es und drückte es in meine Arme; aber ich wollte es auch sehen. Es war dunkel im Zimmer, dunkle Nacht. Neben meinem Bett stand ein Feuerzeug; ich machte Licht und entzündete die Lampe. Heßberger blieb neben meinem Bett stehen und hob mein liebes, schon verloren gegebenes Kind gegen das Licht; aber ein furchtbarer Schmerz zuckte mir durch die Brust.

»Das ist es ja nicht!« schrie ich, von Angst und Schrecken erfüllt. »Das ist es ja nicht! Oh, glaubt Ihr, daß ich mein Kind nicht wiederkennen würde?«

»Da wurde er ängstlich und bat mich, nicht so zu schreien, die Wände waren dünn, und die Nachbaren könnten am Ende die Worte verstehen. Seine Frau würde am nächsten Morgen selber herüberkommen und mir Alles erklären; nur bis dahin solle ich ruhig sein und das arme Würmchen pflegen, das ohndies schon halb erstarrt vor Kälte wäre. Und Gott sei es geklagt, er hatte Recht! Der Mantel war in dem furchtbaren Wetter naß geworden; das arme, neugeborene Kind hatte kaum noch Leben in sich, als er es zu mir in's Bett legte, und ich konnte ihm ja nicht böse sein. Ich küßt' es und herzt' es, als ob es mein eigenes wäre, und nie die langen, langen Jahre hindurch durfte es sich beklagen, daß ihm eine Mutter gefehlt hätte.«

»Aber, beste Frau Baumann,« sagte der Staatsanwalt, der sie ruhig hatte ausreden lassen, jedoch die Hauptsache noch immer vermißte, obschon ein dunkler Verdacht über das Geschehene in ihm aufstieg – »ich verstehe das noch immer nicht; denn wenn die Frau Baronin wirklich einen Knaben und kein Mädchen . . .«

»Hören Sie nur weiter,« sagte die Frau, »ich bin gleich zu Ende. Am nächsten Morgen kam meine Schwester zu mir und wollte mir ebenfalls einreden, das sei mein Kind, was ich in den Armen halte; aber sie konnte das Mutterherz nicht täuschen, und wie sie denn endlich einsah, daß all' ihr Reden nichts half, da lenkte sie ein und meinte, sie habe mich das nur glauben machen wollen, damit ich mich um so leichter beruhigen solle. Aber jetzt mußte sie mir die ganze Geschichte erzählen, oder ich drohte ihr, Alles meinem Mann zu sagen, und den fürchtete sie; so erfuhr ich denn Alles. Der Baron hatte mit ihr vorher heimlich abgemacht, das Kind, wenn es ein Mädchen sein sollte, gleich nach der Geburt gegen einen Knaben einzutauschen, und ihr dafür nicht allein reichen Lohn für sich, sondern auch für die Mutter des andern Kindes versprochen. Alle Vorbereitungen waren dazu auch getroffen gewesen, und meine Schwester hatte es so einzurichten gewußt, daß sie oben in der Wohnstube nur eine Person um sich hatte, auf die sie sich fest und sicher verlassen konnte.«

»Wer war das?« fragte Witte, mit einer Idee an die Madame Müller.

»Sie ist lange todt,« sagte die Frau; »eine arme Verwandte von uns, die bei Heßberger im Hause wohnte oder dort vielmehr diente. Sie zog aber fort von hier nach Amerika, und wie meine Schwester mir später erzählte, ist sie dort am gelben Fieber gestorben.«

»Und die war mit oben im Schlosse?«

»Ja; meine Schwester hatte auch im Schlosse, wie sie mir gestand, sehr leichte Arbeit, denn weniger der Baron als des Barons Schwester, das gnädige Fräulein von Wendelsheim selber, schien die Verabredung mit ihr getroffen zu haben und unterstützte sie so vollständig in der Ausführung, daß sie völlig freie Hand behielt. Mein Schwager Heßberger wartete mit meinem Knaben in einem kleinen Gartenhäuschen, in dem ein Ofen stand und das ordentlich erwärmt war, weil man ja doch die Zeit nicht genau bestimmen konnte, und die Frau Baronin bekam ihr eigenes Kind gar nicht zu sehen. Meine Schwester erschrak wohl, als sie sah, daß es auch ein Knabe sei; aber der Gewinn, den sie durch den Tausch erwartete, blendete sie – kein Mensch im Schlosse, weder der Baron, noch das gnädige Fräulein erfuhren je, daß ihnen ein Erbe geschenkt worden. Meine Schwester trug das Neugeborene gleich fort, und als sie mit meinem Kind zurückkam, legten sie den Knaben der Frau Baronin in's Bett, die ihn dann herzte und küßte und Freudenthränen über ihr Glück vergoß.

»Am nächsten Morgen erst kam die Amme, die jetzige Müller aus Vollmers, die aber natürlich nichts von dem Tausch wissen konnte. Aber andere Menschen mußten doch Verdacht geschöpft haben, denn es wurde in der nächsten Zeit viel davon gesprochen, und manche Leute haben sich wohl Mühe gegeben, um hinter die Wahrheit zu kommen. Aber die Heßberger, obgleich damals noch ein junges Weibsen, war ihnen Allen zu schlau, und an mich dachte Niemand; denn wer hätte sich auch denken können, daß der Baron den eigenen Knaben weggegeben, um einen anderen dafür einzutauschen? Im Anfang weinte ich auch viel und der Betrug schnitt mir in die Seele; aber die Schwester wußte mir Alles so golden hinzustellen, und wie ich jetzt viel Geld kriegen und reich und mein Sohn ein vornehmer Herr werden würde, und als mein Mann nach Hause kam, mit keiner Ahnung des Geschehenen, und mit dem Knaben auf dem Arm jubelnd in der Stube umhersprang, da wußte ich, daß er ihn eben so lieb haben würde, als ob es sein eigenes Kind gewesen wäre, und schwieg.«

»Also versteh' ich daraus,« sagte der Staatsanwalt, dessen klares und durchdringendes Auge fest, aber nicht unfreundlich auf der Frau haftete, »daß der Baron von Wendelsheim, oder mehr noch seine Schwester, ohne Vorwissen der Mutter einen Tausch des Kindes beabsichtigten, falls es ein Mädchen sei, und daß Ihre Schwester, trotzdem daß dem Baron ein Knabe geboren wurde, den Tausch ausführte und den Baron wie dessen Schwester glauben ließ, es sei eben ein Mädchen gewesen, nur um sich die ausgestellte Belohnung zu sichern.«

»So war es,« nickte die Frau still vor sich hin – »so war es.«

»Und hat sich der Baron selber später nie um sein wirkliches Kind bekümmert, nie es sehen wollen?«

»Doch,« nickte die Frau. »Da ich immer Angst hatte, daß das Verbrechen trotzdem an den Tag kommen könnte, beruhigte mich meine Schwester, indem sie mir alle getroffenen Vorsichtsmaßregeln erzählte. Auf einem Dorfe in der Nachbarschaft war wenige Tage nachher ein acht Tage altes Mädchen gestorben – dessen Todtenschein verschaffte sich meine Schwester und brachte ihn dem Baron, der von da an glaubte, sein eigenes Kind sei todt, und auch nie wieder seit der ganzen Zeit danach gefragt hat.«

»Das ist eine durchtriebene Person,« nickte der alte Anwalt vor sich hin. »Und welchen Lohn erhielten Sie dafür?«

»Ach, viel, viel Geld!« seufzte die Frau. »Mein Theil betrug, wie mir die Schwester sagte, dreitausend Thaler, und sie wußte das ebenfalls so einzurichten, daß mein Mann – ein gutes, ehrliches Herz außerdem – glauben mußte, es sei eine Erbschaft, die ich erhoben. Aber insofern habe ich wenigstens gut gemacht, was ich konnte, und Alles, was in unseren Kräften stand und was wir besonders mit Hülfe jener Summe ersparen konnten, auf die Erziehung des Pflegekindes verwandt. Fritz hat gewiß seine Mutter nie so vermißt, wie ich nach meinem eigenen Kind gejammert habe. Aber jetzt kann es nichts mehr helfen. Die Sache ist allerdings schon vor den Gerichten, und wenn sie den alten Baron und das gnädige Fräulein vorfordern, so müssen die wohl bekennen, doch sie können den Fritz damit nicht mehr retten, denn das dauert zu lange und die Zeit verfliegt – er soll den Mord schon bekannt haben und ist zum Tode verurtheilt; aber er darf nicht sterben. Mit dem Sohn des Schlossermeisters Baumann machen sie wenig Umstände, das weiß ich. Die Volkert hat ganz Recht: was liegt an solch' einem armen Menschen und daran, was ihn dazu getrieben! Anders wird es aber, wenn sie erfahren, daß es ein Baron von Wendelsheim, der Erbe von so vielem Geld ist, den sie im Gefängnis halten, und den werden, den dürfen sie nicht tödten.«

»So,« sagte die Frau, indem sie mühsam nach Athem rang, »jetzt haben Sie Alles gehört, was ich verbrochen, was mich hierhergetrieben. Ich weiß, daß ich damit Schmach und Schande auf mein eigenes Haupt lade; ich weiß, daß mein eigener Sohn, den ich reich und vornehm machen wollte, arm und niedrig wird, wie wir selber sind; ich weiß, daß ich Unglück über uns bringe, aber Blut – Blut soll nicht vergossen werden, nicht meinethalben – nicht meinethalben. Ich habe Sünde genug auf dem Gewissen, aber ich will kein Blut darauf haben – um des Himmels willen kein Blut!«

Die Frau war erschöpft in ihrem Stuhl zusammengebrochen und Witte sprang empor, denn er fürchtete, daß sie zu Boden fallen könnte; aber es war nicht körperliche Schwäche, sondern allein vollständige geistige Ermattung gewesen, die sie erfaßte, und dagegen glaubte er ein Mittel zu wissen. Er hatte in seiner Stube eine Flasche mit gutem Rum stehen; den holte er vor, goß ihr einen Theil davon unter das noch übrig gebliebene Wasser und hieß sie das trinken. Die Frau nahm es auch und that einen Schluck; aber sie war geistige Getränke nicht gewohnt und setzte es, innerlich schaudernd, wieder ab. Der Staatsanwalt dagegen schenkte sich ebenfalls ein Glas ein; er fühlte sich so aufgeregt, daß er etwas Derartiges bedurfte; erst in der Stube ein paar Mal auf und ab gehend, blieb er endlich wieder vor der Frau Baumann stehen.

»Und Ihr Sohn,« sagte er, »oder der Baron Friedrich von Wendelsheim, der er eigentlich ist, hat noch keine Ahnung von seinem Stande?«

Die Frau schüttelte mit dem Kopf.

»Und der Lieutenant eben so wenig?«

»Kein Mensch weiß etwas davon, als Heßbergers und ich – und jetzt Sie.«

»Hm,« sagte der Staatsanwalt, »das ist bei Gott eine wunderbare Geschichte und wird . . .« Er brach kurz ab, rieb sich mit der flachen Hand den Kopf und setzte seinen unterbrochenen Spaziergang fort.

»Wissen Sie, liebe Frau,« sagte er endlich, als er nochmals stehen blieb, »daß wir mit der Sache in ein wahres Wespennest hineingerathen, denn wenn die Heßberger'schen Eheleute leugnen – und daß thun sie jedenfalls –, so glaubt uns nachher kein Mensch ein Wort von der ganzen Bescheerung. Es sind vierundzwanzig Jahre darüber hingegangen und der alte Baron – und sein Satan von einer Schwester erst recht – werden sich hüten, auch nur eine einzige der angeführten Thatsachen zuzugeben. Sie werden es für blanke Lüge und Verleumdung erklären.«

»Ich habe die Wahrheit gesprochen,« sagte die Frau feierlich, »so mir Gott in meiner letzten Stunde beistehen soll!«

»Ich glaube es Ihnen, liebe Frau, ich glaube es Ihnen, jede Silbe, und ich durchschaue auch jetzt das Ganze gut genug, aber Beweise – wo kriegen wir Beweise her? Die müssen wir schaffen, ehe wir nur damit herauskommen können, oder wir verderben Alles.«

»Und indessen tödten sie mir den Sohn, den ich genährt und erzogen und so lieb habe wie den eigenen!« rief die Frau in Angst und Aufregung.

»Wen? Den Fritz Baumann?«

»Hat er denn nicht gestanden und soll er nicht schon übermorgen hingerichtet werden?«

»Unsinn,« sagte der Staatsanwalt mürrisch, »altes Weibergeschwätz in der Stadt. So schnell geht die Sache nicht, und wenn er den alten Mann wirklich überfallen hätte, was ich aber nicht einmal glaube. Nein,« setzte er hinzu, als ihn die Frau zweifelnd anstarrte, »machen Sie sich deshalb keine Sorgen; Sie haben deren schon außerdem genug. Er sitzt allerdings noch im Gefängniß, und möglich, daß er auch noch ein paar Wochen dort bleiben muß, denn die Herren Richter haben darüber ihre eigenen Ansichten, aber weiter wird ihm nichts geschehen – verlassen Sie sich auf mich.«

»Aber die Volkert hat mir doch gesagt,« stammelte die Unglückliche ganz verstört – denn jetzt erst kam ihr der Gedanke, daß vielleicht das ganze Geständniß unnöthig gewesen wäre – »daß er bekannt hätte und am Freitag hingerichtet werden solle.«

Der Staatsanwalt mochte vielleicht ahnen, was in ihrer Seele vorging, und es lag ihm selber daran, das Gefühl jetzt nicht in ihr aufkommen zu lassen. »Ich weiß nicht, woher die Frau Volkert ihre Nachrichten schöpft,« sagte er deshalb, »kenne die Dame auch nicht und glaube nicht, daß der junge Mann sich zu dem Verbrechen bekannt hat. Wäre es aber auch wirklich der Fall, so beruhigen Sie sich vollständig über eine so rasche Ausführung der Strafe. Das geschieht nicht und kann nach unseren Gesetzen gar nicht geschehen, da selbst einem jeden Verbrecher, und sei er der schwerste, der Weg zur Gnade des Königs noch immer offen steht. In diesem Fall aber und im Besitz des Geheimnisses, das Sie mir eben mitgetheilt, würde ich selber die nöthigen Schritte thun, um eine über ihn verhängte Strafe hinaus zu schieben, und deshalb brauchen Sie sich keine Sorge zu machen – Ihr Fritz soll nicht sterben.«

Die Frau faltete die Hände. »Dann mag nachher mit mir geschehen, was da will,« sagte sie leise. »Und wenn ich das Furchtbare nun erst noch meinem braven Mann gestanden und seine Verzeihung erfleht habe, dann glaube ich auch, daß mir der liebe Gott die Sünde vergeben wird. Die Menschen mögen mich dann strafen – ich habe es verdient und will es gern ertragen.«

»Ihrem Mann wollen Sie es gestehen?« sagte der Staatsanwalt. »Hm – ja . . .«

»Und muß ich denn nicht?« fragte die Frau erstaunt. »Oh, wenn ich es vor langen, langen Jahren gethan hätte, es wäre vieles Elend abgewandt!«

»Die Sache ist nur die,« meinte Witte verlegen, »daß wir damit eigentlich nicht unter die Leute treten dürfen, bis wir nähere Beweise dafür bringen können. Haben Sie kein Zeichen, an dem Sie Ihr eigenes Kind fest bestimmen können, kein Maal oder sonst etwas?«

Die Frau schüttelte mit dem Kopf. »Nein,« sagte sie, »kein anderes Zeichen als das Herz der Mutter. Er kennt mich ja auch selber nicht,« setzte sie traurig hinzu; »wie oft habe ich mich ihm in den Weg gestellt, um ihm in die guten, treuen Augen – ganz wie sie sein Vater hat – zu schauen! Er kannte mich nicht einmal, sah mich kaum, dankte nur manchmal vornehm oder auch gar nicht und ging vorüber, und mir hätte das Herz dann in der Brust zerspringen mögen, daß ich's mit beiden Händen halten mußte.«

»Arme Frau . . .«

»Ja wohl, arme Frau – oh, was ich geduldet und getragen habe die ewige lange Zeit, und immer allein, immer allein, mit keiner Seele, der ich mich anvertrauen durfte – ich könnt's nicht sagen. Jetzt zum ersten Mal fühl' ich mich leichter, jetzt zum ersten Mal ist mir, als ob ich wieder Frieden finden könnte. Aber mein armer Bruno,« setzte sie seufzend hinzu, »wie wird er es tragen? Muß er nicht seiner eigenen Mutter fluchen, daß sie ihm allen Glanz der Erde zeigte, nur um ihn dann wieder heraus zu reißen und zu einem der Niedrigsten zu machen?«

»Das ist wirklich eine verzweifelte Geschichte,« murmelte der Staatsanwalt, dem indessen eine ganze Menge von Dingen durch den Kopf fuhren. Nicht allein Herr Bruno von Wendelsheim würde nämlich erstaunt über den Wechsel der Verhältnisse sein, sondern auch seine eigene Frau. Aber was half ihm das Alles? Beweise brauchte er, weiter nichts als Beweise; denn daß das Zeugniß einer einzigen alten Frau nicht ausreichen würde, um besonders in einer so wichtigen und bedeutenden Erbschaftssache die ganze Erbfolge umzustoßen, konnte er sich nicht verhehlen. War es ja doch, wie das Gericht einwenden würde, ihr eigener Sohn, dem sie durch ein solches Geständniß das riesige Erbe zuwenden wollte, und daß man das nicht so ruhig hinnahm, ließ sich denken. Und was der Major dazu sagen würde? Recht hatte er freilich gehabt, daß damals nicht Alles redlich zugegangen, wenn es bei ihm auch blos Verdacht, nie Gewißheit gewesen; aber ihm half es trotzdem nichts, wie die Sachen standen. Und seine eigene Frau? Er kratzte sich mit der rechten Hand hinten am Kopf und lief noch immer mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab. Außerdem konnte er der Frau nicht verdenken, jetzt, da sie ihm das schwere Geheimniß eröffnet, auch ihr Herz gegen ihren Mann auszuschütten, und daß sie da einen harten Stand bekam, ließ sich denken. Aber ihm setzte sie damit ebenfalls das Messer an die Kehle, denn wenn jetzt etwas in der Sache geschehen sollte, mußte es rasch geschehen; er wußte nur nicht, wie.

Mitten im Herumlaufen fiel ihm sein Justizrath ein. Hilf Himmel, wie rasch die halbe Stunde vorüber war! Er mußte jetzt fort, denn es betraf einen wichtigen Fall, der nothwendig eine vorherige Besprechung erforderte, und die Zeit war jetzt schon beinahe abgelaufen.

»Liebe Frau Baumann,« sagte er deshalb, »ich muß fort, ich kann nicht länger ausbleiben. Gehen Sie indessen nach Hause und überlegen Sie sich die Sache noch einmal ordentlich unterwegs. Treibt Sie Ihr Herz, mit Ihrem Mann offen darüber zu sprechen – ich kann's Ihnen nicht verdenken –, so thun Sie es, aber bitten Sie ihn, mit keinem Menschen weiter darüber zu reden, bis ich ihn selber gesehen habe. Ich komme dann, wenn die Sitzung vorüber ist, bei Ihnen vor. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Ja, Herr Staatsanwalt,« sagte die Frau leise, »denn ich glaube, daß Sie es gut mit uns meinen.«

»Sie können sich darauf verlassen, liebe Frau.«

»Und der Fritz? – Es geschieht ihm gewiß nichts Böses, wenn wir nicht gleich erzählen, daß er vornehmer Leute Kind ist?«

»Es geschieht ihm nichts, die Versicherung kann ich Ihnen geben. Ich werde dafür sorgen, daß er in keine Gefahr kommt, und wenn irgend eine Aenderung in der Untersuchung eintreten sollte, so komme ich augenblicklich zu Ihnen oder schicke nach Ihnen und lasse es Sie wissen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt, ich danke Ihnen recht von Herzen – auch für die freundlichen Worte, die Sie zu mir gesprochen. Ich hatte schon geglaubt und gefürchtet, alle Menschen, die mein Vergehen erführen, müßten mich von jetzt an nur hassen und verabscheuen, und ich trage doch nicht die größte Schuld – oh, ich allein hätte es nie, nie gethan!«

»Seien Sie ohne Sorge, Frau Baumann,« sagte der alte Herr, der aber jetzt etwas ungeduldig wurde. »Ich habe Sie nun kennen gelernt, und ich glaube, ich durchschaue das Ganze. Wir wollen sehen, wie sich Alles zum Besten wenden läßt, und in spätestens zwei oder drei Stunden bin ich bei Ihnen.«

Damit ging er nach der Thür zu und nahm drin in seinem Zimmer Hut und Stock. Frau Baumann folgte ihm, und mit gesenktem Haupte schritt sie zwischen den Schreibern hin, die sich indeß die Köpfe zerbrochen hatten, was die Frau so Wichtiges mit ihrem Chef zu sprechen hatte, daß er einen besondern Boten auf das Amt hinaufschickte, um eine Verhandlung aufzuschieben, und diese jetzt beinahe sogar versäumte. Aber sie erfuhren nichts. Der Staatsanwalt lief, ohne selbst seiner Frau Adieu zu sagen, die Treppe hinunter, um noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein, und langsam – oh, wie waren ihr die Füße so schwer geworden, als sie diesmal ihrer Heimath entgegenschritt – folgte ihm die Frau.



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