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Als der Staatsanwalt Witte den düstern, unheimlichen Raum betrat, bemerkte er nur eine Anzahl dunkler Gestalten, die um einen auf dem Boden liegenden Gegenstand geschaart waren und von dem ungewissen Licht der Lampe mehr sichtbar gemacht als beleuchtet wurden. Mit dem Fuße stieß er dabei an einen klirrenden Körper, der am Boden lag, und als er ihn aufhob, fand er, daß es ein Sack mit Geld sei, den der Mörder hier jedenfalls auf der Flucht zurückgelassen. Die erste Person, die er, allerdings zu seinem Erstaunen, erkannte, war der Baron von Wendelsheim; denn er begriff nicht recht, wie dieser Abends noch so spät in die Judengasse kam, wenn ihn nicht auch vielleicht, wie ihn selber, der Zufall hier vorbeigeführt. Aber es war jetzt wahrlich keine Zeit dazu, um solche Betrachtungen anzustellen, und der Staatsanwalt, den gefundenen Beutel auf den Ladentisch stellend, trat näher zu der Gruppe, um vor allen Dingen den Zustand des gefallenen Opfers zu untersuchen.
»Ah, Herr Staatsanwalt,« rief Wendelsheim, als er ihn erkannte, »ein Glück, daß Sie kommen – hier ist ein schändliches Verbrechen verübt worden!«
Auf dem ausgestreckten Körper des alten Mannes lag, anscheinend leblos, eine weibliche Gestalt.
»Was ist das?« sagte Witte. »Sind Beide ermordet worden?«
»Es ist des alten Salomon Frau; sie muß ohnmächtig geworden sein – Ursache genug, wahrhaftig, bei solchem Anblick!«
»Ist der alte Mann todt?«
»Jedenfalls. Er hat zwei furchtbare Wunden am Kopf.«
»Hätten wir nicht besser die Frau fort und in ihre Wohnung geschafft, wo sie die nöthige Pflege finden kann? Nach Polizei ist doch geschickt?«
»Gewiß – faßt an, Ihr Leute, aber vorsichtig, und tragt die arme Frau drüben die Treppe hinauf; ich werde Euch den Weg zeigen – oh, da kommt noch eine Laterne! Ich bin gleich wieder bei Ihnen, Herr Staatsanwalt.«
Es fiel Witte wohl ein, daß der Lieutenant so bekannt in dem Hause schien; aber er achtete doch nicht weiter darauf. In diesem Augenblick, und gerade als die Leute die in der That ohnmächtig gewordene alte Frau nach oben trugen, langte die Polizei an: ein Actuar, zwei Polizisten und zwei Gensdarmen. Der Actuar schien auch die Sache richtig zu behandeln. Der Gefangene, da er doch gebunden war und nicht entwischen konnte, wurde einem der Gensdarmen übergeben und der andere an das Hofthor postirt, um die Neugierigen abzuhalten, denn die Straße war schon mit Menschen angefüllt. Hatte sich doch das Gerücht, daß der alte Salomon ermordet sei, wie ein Lauffeuer durch die ganze Judengasse und den benachbarten Stadttheil verbreitet! Dann wurde der Hof von allen nicht hinein gehörenden Personen gesäubert und nur ein paar noch zur Aufsicht des Gefangenen zurückbehalten, wenn dieser ja einen verzweifelten Fluchtversuch machen sollte. Jetzt verhielt er sich freilich vollkommen ruhig, aber man weiß nicht – solche Leute passen manchmal ihre Zeit ab.
Ebenso bedeutete der Actuar auch alle Solche, welche Näheres über die That anzugeben wüßten oder vermutheten, draußen auf der Straße und in der Nähe zu bleiben, um nachher ihr Zeugniß abzulegen. Dann gingen sie – es waren jetzt nur noch der Actuar, die beiden Polizeidiener, der Staatsanwalt und Lieutenant von Wendelsheim – in den Laden zurück, um die Wunden des alten Mannes selber zu untersuchen. Der Actuar hatte übrigens auch schon nach dem Polizei-Arzt geschickt, der jeden Augenblick eintreffen konnte.
Der einzige Mensch, der wirklich Näheres über den Ueberfall wußte, stand draußen gebunden unter Gensdarmerie-Bewachung.
Salomon lag auf dem Rücken, den rechten Arm noch wie zum Schutz gegen die wahrscheinlich nach ihm geführten Schläge vorgestreckt. Er war aber mit Blut ordentlich überdeckt, und sein Kopf zeigte, als der Actuar mit der Lampe hinabreichte, zwei klaffende Wunden, aber schon mit geronnenem Blute überklebt, so daß man ihre Tiefe nicht gut erkennen konnte. Die Untersuchung derselben mußte aufgespart werden, bis der Arzt kam.
Wendelsheim fühlte indessen seinen Puls, aber dort war kein Leben erkennbar, und die Hand selbst kalt und krampfhaft geballt; auch ein Heben der allerdings noch warmen Brust ließ sich nicht unterscheiden.
»Armer Salomon,« sagte der Actuar, indem er sich kopfschüttelnd aufrichtete – »schade um ihn, es war ein braver, rechtschaffener Mensch, und verwünscht viel besser als tausend Andere, die sich Christen nennen! Aber wir können jetzt nichts thun, meine Herren, als ihn liegen lassen, bis der Arzt kommt, indessen aber den Laden untersuchen – möglich ja doch, daß wir etwas finden, was der oder die Mörder zurückgelassen haben, um dadurch auf seine Spur zu kommen. Möchte einer von den Herren wohl so freundlich sein und die Lampe nehmen?«
Der Staatsanwalt machte den Actuar jetzt auf den Geldsack aufmerksam, den er an der Thür gefunden; es waren noch Blutspuren daran, und jedenfalls mußte der Mörder gestört [worden] sein, daß er den im Stiche gelassen. Der eiserne Geldschrank stand offen; was daraus geraubt worden, konnte man natürlich nicht wissen. Der Actuar stellte den Beutel wieder in den Schrank und verschloß diesen.
Sie untersuchten jetzt den Boden und fanden dicht vor dem Schrank die ersten Blutspuren. Der Angriff hat dort jedenfalls begonnen und der alte Mann sich wohl gewehrt. Dort machte der Ladentisch eine kleine Biegung, um die herum das Opfer wahrscheinlich nach der Thür flüchten wollte, als es den zweiten Schlag erhielt und zu Boden taumelte.
Eine Waffe oder irgend ein Instrument, mit welchem die Streiche versetzt sein konnten, fand sich nirgends, eben so wenig irgend ein anderer Gegenstand, der einem Fremden gehört haben konnte. Nur ein Taschentuch lag vorn im Laden am Boden, das in der Ecke die mit Roth gezeichneten Buchstaben F. B. trug. Der Actuar steckte es in die Tasche.
Beim Herumleuchten bemerkten sie noch eine geöffnete Schublade, an der aber von außen der Schlüssel steckte; sie enthielt mehrere Gold- und Silbersachen. Es war möglich, daß der oder die Diebe gewußt hatten, wo sich werthvolle Gegenstände befanden, und auch daraus geraubt haben konnten. Das ließ sich vielleicht durch Salomon's Frau constatiren, wenn sie sich von ihrer Ohnmacht wieder erholen würde; heute Abend wohl kaum mehr.
In diesem Augenblick trat der erwartete Polizei-Arzt ein und untersuchte den Körper des Erschlagenen; aber es war hier unten nicht viel zu machen. Er glaubte noch Leben zu erkennen, aber so schwach, daß es jeden Moment schwinden konnte, und wünschte deshalb, denselben hinauf in seine Wohnung geschafft und auf ein Bett gelegt zu haben. Dort sollte dann auch das erste Verhör der Leute stattfinden.
Der Actuar ging jetzt hinaus an das Hofthor, vor dem die Menschen noch immer dichtgedrängt standen, und forderte Einzelne, die Näheres über das Verbrechen anzugeben wüßten, auf, herein zu kommen. Es meldeten sich aber nur zwei oder drei, die »etwas gesehen haben wollten«. Sie wurden herein beordert und dann gleich mit dazu verwandt, um den leblosen Körper des alten Mannes nach oben zu tragen.
Der Lieutenant, der zurückgekehrt war, übernahm wieder die Leitung, und während er langsam mit der Lampe voranging, verschloß der Actuar zuerst die Ladenthür und ließ dann noch einen Augenblick den Zug halten, um zuerst einen Streifen Papier über das Schloß zu siegeln, damit Niemand den Platz betrete, bevor morgen, mit Tageslicht, eine genaue Untersuchung desselben stattgefunden hätte.
Wie still und friedlich, wie wohnlich, ja fast patriarchalisch hatte sonst die Behausung des alten Salomon ausgesehen, und wie traurig verändert lag sie heute! Fremde, rauhe Gestalten drängten die Treppe hinauf, und Tod und blutige Verwüstung schienen ihre Fährten in das Heiligthum eingedrückt zu haben. Es war auch fast, als ob die alte Dienerin des Hauses, die oben an der Treppe mit verweinten Augen stand, den vielen Fremden den Eintritt wehren wollte – aber brachten sie nicht ihren armen Herrn? Und dann sah sie auch die gefürchteten rothen Kragen der Polizei, gegen die sie am wenigsten gewagt haben würde, einen Widerstand zu leisten.
Jetzt hatten die Träger den obern Rand der Treppe erreicht, und Witte, der dicht hinter ihnen folgte, sah staunend auf, als ein bildschönes Mädchen, die schwarzen Locken gelöst, das Antlitz marmorbleich, auf die Träger zustürzte und im ersten Moment sich auf den alten Mann werfen wollte. Aber fast gewaltsam hielt sie sich zurück, ihre großen dunklen Augen hingen an dem Gräßlichen, ihre kleine weiße Hand war fest auf dem Herzen geballt; aber sie sagte kein Wort, durch keine Bewegung hinderte sie den Fortgang der Leute, und das Licht aus der Hand der Magd nehmend, winkte sie ihnen nur, ihr zu folgen.
»Alle Wetter, wer ist das?« flüsterte der Actuar dem neben ihm stehenden Staatsanwalt zu. »Das war ja ein bildschönes Mädchen, und der Lieutenant scheint hier sehr bekannt im Hause zu sein!«
»Wahrscheinlich die Tochter des alten Salomon,« nickte der Staatsanwalt, der die letzte Bemerkung ebenfalls gemacht hatte; »ich weiß, daß er eine Tochter hat, habe sie aber noch nie vorher gesehen.«
»Mir ist nie etwas Schöneres vorgekommen . . .«
»Es muß in der That außergewöhnlich sein, wenn sich selbst die Polizei davon ergriffen fühlt,« bemerkte der Staatsanwalt trocken – »aber da sind wir. Wie elegant das hier aussieht! Ich hätte wahrlich nicht gedacht, im Judenviertel solch ein Haus zu finden, besonders wenn man die alten, rauchgeschwärzten Gebäude von außen ansieht!«
Die Träger folgten ihrer bleichen Führerin in ein Seitenzimmer, wie es schien, das eigentliche Schlafgemach des alten Mannes, neben dem der Arzt noch immer herging und seinen Kopf unterstützte. Dort winkte sie, ihn auf das Bett zu legen.
»Möchten Sie nicht vielleicht eine Decke unterlegen,« bemerkte der Arzt, als er das schneeweiße Linnen sah, »wir werden Alles mit Blut beflecken.«
»Nein,« hauchte die Tochter. – Es war das erste Wort, das sie sprach. – »Oh, sagen Sie mir um Gottes willen, ob er todt ist?«
»Ich glaube nicht, mein Fräulein,« erwiderte der Arzt, teilnehmend dem ungeheuern Schmerz gegenüber, der in den Worten lag. »Ich kann Ihnen freilich für nichts stehen, denn ich habe die Wunden noch nicht untersucht, aber noch scheint Leben in ihm zu sein, wenn auch vielleicht nur ein Funken. Es soll gewiß Alles geschehen, was in menschlichen Kräften steht, um ihn, wenn irgend möglich, zu retten. Machen Sie sich aber auf das Schlimmste gefaßt; das Resultat kann kein Mensch vorher bestimmen.«
»Hat sich Ihre Frau Mutter wieder erholt?« fragte der Staatsanwalt jetzt, der ihr unwillkürlich näher getreten war. »Der plötzliche Schreck machte eine Ohnmacht ja natürlich.«
»Ich danke Ihnen,« sagte Rebekka leise, »sie ist wieder erwacht – oh, dieser entsetzliche Abend!«
»Und haben Sie keine Vermuthung, wer der Thäter sein könne?« fragte der Actuar wieder.
»Keine,« hauchte das junge Mädchen, traurig mit dem Kopf schüttelnd; »mein Vater war ja so gut und brav, er hat keinem Menschen je ein Leid gethan – sie haben ihn nur berauben wollen.«
»Und wissen Sie nicht, ob in letzter Zeit vielleicht irgend Jemand häufiger als sonst in den Laden gekommen wäre?«
»Ich betrete den Laden nie oder doch nur so selten, daß ich es nicht weiß. Selbst die Mutter kommt nicht hinunter.«
»Hm – nun, wie steht es, Doctor?«
»Dürfte ich um etwas lauwarmes Wasser und einen Schwamm bitten?«
Es wurde rasch gebracht, und der Arzt ging jetzt daran, die Wunde sorgsam auszuwaschen und zu untersuchen.
Wendelsheim hatte indessen leise mit Rebekka gesprochen und sie gebeten, das Zimmer zu verlassen. Er selber glaubte fest, daß der alte Mann todt sei, und wollte ihr wenigstens den Schmerz der unmittelbaren Entdeckung ersparen. Rebekka weigerte sich aber; sie wollte das Entsetzliche selber hören – sie war gefaßt, wie sie sagte, und fürchtete keine Schwäche.
Staatsanwalt Witte beobachtete beide scharf, während sie mit einander sprachen, und es hätte auch wahrlich nicht des Auges eines Juristen bedurft, um zu sehen, mit wie liebevoller Theilnahme des Barons Blick an den Zügen des Mädchens hing, wie vertrauend, wie gut sie zu ihm aufsah. Der Actuar glaubte aber seine Zeit indessen nicht unnütz versäumen zu dürfen, und sich im Zimmer umschauend, bemerkte er bald einen Tisch, auf welchem ein Schreibzeug stand – Papier wie alles Nöthige führte er überdies bei sich –, und er befahl jetzt, den Gefangenen herauf zu führen, und ließ die Leute, die sich als Zeugen gemeldet hatten, ebenfalls an die Thür treten. Um das Verhör kümmerte sich der Arzt nicht, der sich nur immer mit dem Verwundeten beschäftigte, während ihm Rebekka hülfreiche Hand dabei leistete. Wohl schnürte es ihr das Herz zusammen, und sie mußte sich ordentlich Gewalt anthun, um nicht in Klagen auszubrechen, als sie die furchtbaren Wunden sah, die des Mörders Waffe dem Vater geschlagen; aber kein Laut kam über die Lippen, und mit sorgsamer, nicht einmal zitternder Hand wusch sie das Blut von dem theuern Haupt und küßte dann die bleiche, kalte Stirn.
Fritz Baumann wurde jetzt hereingeführt, und mit Entsetzen hingen des Mädchens Blicke an dem edeln, aber jetzt bleichen Antlitz des jungen Mannes. Das war der Mörder? Oh, um Gott, was hatte er ihm gethan, daß er die blutige Faust gegen den armen schwachen, alten Mann erheben sollte?
»Wer sind Sie und wie heißen Sie?« fragte der Actuar, der sich an einem Tisch festgesetzt hatte und die Sache amtsmäßig zu betreiben begann.
»Mein Name ist Friedrich Baumann,« lautete die eben nicht sehr freundlich gegebene Antwort; »ich bin Mechanikus in hiesiger Stadt.«
»Schon einmal vor Gericht gestanden?«
»Nein.«
»Was hatten Sie heut Abend noch nach Dunkelwerden hier im Gehöft und im Laden des alten Salomon zu thun?«
»Ich habe ein Werk zurückgebracht, das ich für ihn reparirt hatte, fand aber den Laden schon verschlossen und sah nur eben noch in der Dämmerung, daß ein Officier vor mir den Hof betrat. Da ich demnach vermuthete, den alten Salomon noch im Laden zu finden, folgte ich ihm und fand auch die Ladenthür nur angelehnt und Licht im Innern. Wie ich aber den Platz eben betreten wollte, sprang eine dunkle Gestalt gegen mich an und flog zum Hofe hinaus. Ich hielt das Werk, das jetzt unten auf dem Tisch steht, noch in der Hand und war auch in dem Moment zu überrascht, um dem Flüchtling gleich zu folgen, that aber dann, was ich für den Augenblick thun konnte. Im Laden sah ich den unglücklichen alten Mann am Boden liegen, und das Schlimmste fürchtend, sprang ich hinaus, fand die Hausthür verschlossen, klopfte dort scharf an und sprang dann vor das Thor, um Hülfe herbei zu holen, als ich von diesen Männern gefaßt und gehalten und selber des Mordes beschuldigt wurde.«
»Und wie kommt das Blut an Ihre Hände und Kleider?«
»Ich wollte den Erschlagenen aufrichten, fand aber bald, daß das unmöglich sei.«
»Ist dies Ihr Tuch? Es trägt die Buchstaben F. B.«
»Ja; ich hatte es über das Werk gedeckt, und es mag im Hof heruntergefallen sein.«
»Es lag im Laden.«
»Auch das ist möglich.«
»Was für ein Werk war das, welches Sie brachten?«
»Ein mechanisches Kunstwerk, das ich reparirt hatte.«
»An der Thür lag ein Sack mit Geld; wie ist er dahin gekommen?«
»Das weiß ich nicht; ich habe ihn nicht gesehen.«
»Haben Sie etwas fallen hören, als jene dunkle Gestalt, wie Sie sagen, aus der Thür sprang?«
»Nein – ich erinnere mich wenigstens nicht; ich war zu sehr überrascht.«
Der Actuar ließ ihn bei Seite treten und fragte jetzt die verschiedenen Leute aus, was sie über den Fall wüßten. Das war allerdings sehr wenig. Einige wollten einen Hülferuf gehört haben und waren herbeigelaufen; Andere, die sie laufen sahen, schlossen sich ihnen an.
»Wer hatte um Hülfe gerufen?« fragte der Actuar.
»Ich selber,« erwiderte Baumann, »wie ich jene dunkle Gestalt davonspringen sah. Ich hoffte, dadurch ihm Begegnende aufmerksam zu machen.«
»Und weshalb liefen Sie nicht gleich selber hinter ihm drein? Ich dächte, Sie wären jung und stark genug dazu.«
»Ich hatte das Werk unter dem Arm – es kam Alles so schnell – ich wußte ja auch damals noch nicht, ob wirklich ein Verbrechen verübt sei, ja im ersten Augenblick war es mir sogar, als ob der Laufende der alte Salomon selber sei.«
»Sehr wahrscheinlich,« lächelte der Actuar verächtlich. »Und weshalb liefen Sie da selber davon?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht gelaufen bin,« erwiderte Baumann finster; »ich wollte auf die Straße springen, um Leute herbei zu rufen, als diese mich faßten und natürlich den Verbrecher entwischen ließen.«
»Also Sie leugnen, weiter etwas von der That zu wissen?«
»Ich habe Ihnen Alles gesagt, was ich weiß, und bedauere, wenn Ihnen das nicht genügt.«
»Schön. Gensdarmen, führen Sie den Gefangenen in das Polizeigebäude in Untersuchungshaft – er soll eingeschlossen werden – ich komme gleich selber nach! Lassen Sie ihn unterwegs nicht entspringen, und daß er mit Niemandem verkehrt oder sich unterhält! Er wird auch vorher genau untersucht, ob er keine Waffen oder sonst etwas Verdächtiges bei sich trägt! Sind ihm die Hände noch fest auf dem Rücken gebunden?«
»Die kriegt er nicht los, Herr Actuar.«
»Gut – fort mit ihm; wir brauchen ihn heute nicht weiter.«
»Aber Sie können mich doch wahrhaftig nicht auf einen so wahnsinnigen Verdacht hin einkerkern wollen!« rief Baumann, bei dem der Zorn auch jetzt die Oberhand gewann. »Stehen denn hier nicht Männer, die mich kennen? Herr Staatsanwalt Witte, Herr Lieutenant von Wendelsheim, können Sie glauben, daß ich eines solchen Verbrechens auch nur fähig wäre?«
»Nein, das glaube ich nicht,« sagte Witte.
»Ich ebenfalls nicht,« fiel Wendelsheim ein.
»Meine Herren,« sagte der Actuar, »es thut mir leid, in dieser Sache auf Ihren Glauben keine Rücksicht nehmen zu können. Die Person hier ist unter verdächtigen Umständen angetroffen, und wir müssen uns ihrer jedenfalls so lange versichert halten, bis wir vollgültige Beweise ihrer Unschuld finden.«
»Aber ich habe den Hof nicht drei Minuten nach dem Lieutenant von Wendelsheim betreten – kaum zwei, wenn so viel – ich sah ihn in den Hof gehen.«
»Haben Sie etwas von dem Herrn bemerkt, Herr Baron?«
»Ich muß gestehen, daß ich mich gar nicht umgesehen,« sagte der Lieutenant. »Ich erinnere mich, Jemanden in der Straße bemerkt zu haben, als ich in den Hof einbog, aber es war schon dunkel und ich achtete nicht darauf.«
»Und wie lange vor der Entdeckung des Mordes waren Sie im Hause?«
»Allerdings nur wenige Momente; als ich den Hülferuf hörte, hatte ich eben erst das Zimmer betreten.«
»So? Na, das wird Alles die spätere Untersuchung ergeben. Also paßt mir gut auf ihn auf! Schultze mag lieber noch mitgehen, falls etwas vorfallen sollte oder vielleicht einige seiner Spießgesellen Miene machten, ihn zu befreien.«
»Mein lieber Herr Baumann,« sagte der Staatsanwalt jetzt zu dem Gefangenen, »fügen Sie sich vor der Hand in das Unvermeidliche, denn Ihre vorläufige Haft muß allerdings stattfinden; aber ich hoffe und bin fest davon überzeugt, daß Sie genügende Beweise Ihrer Unschuld beibringen werden. Ihre Haft wird in dem Fall nicht lange dauern, und ich ersuche Sie, Herr Actuar, dem Gefangenen jede Bequemlichkeit zu gestatten, welche die Gefängnißordnung erlaubt – auf meine Verantwortung und Garantie. Sorgen Sie dafür, Freund,« wandte er sich dann an den Gensdarmen, »daß das richtig bestellt und ausgeführt wird.«
Während die Leute den jungen Mann abführten, beugte sich Witte zu dem Actuar über und flüsterte ihm etwas zu, womit dieser nicht recht einverstanden schien, denn er wiegte ein paar Mal den Kopf hin und her, schrieb auch noch erst Einiges nieder. Dann wandte er sich plötzlich an den Lieutenant und sagte: »Und dürfte ich mir wohl erlauben, Herr Baron, Sie zu fragen, was Sie so spät, oder vielmehr so früh in's Haus geführt hat, da Sie doch schon hier waren, ehe der Lärm entstand, und eigentlich an dem Laden müssen vorübergegangen sein, während der Mord im Innern verübt wurde? Haben Sie nichts gehört?«
»Keinen Laut,« sagte Wendelsheim, von der Frage eben nicht erbaut, die Gegenwart des Staatsanwalts genirte ihn. »Als ich vorüberging, war Alles dunkel. Ob die Ladenthür angelehnt oder geschlossen war, weiß ich nicht einmal; ich habe mich nicht danach umgesehen, auch nicht das geringste Geräusch darin gehört, und glaubte deshalb, der alte Salomon befände sich oben in seiner Stube.«
»Und wie Sie oben in's Zimmer traten, hörten Sie den Hülferuf?«
»Ja.«
»War Jemand in dem Zimmer?«
»Allerdings, die Frau des alten Mannes und das Fräulein da.«
»Sie wollten den alten Mann sprechen?«
»Ich wollte der Familie, mit der ich befreundet bin,« sagte Wendelsheim ernst, aber entschieden, »eine Trauernachricht mittheilen, die mich heute betroffen hat – den Tod meines Bruders.«
»Der junge Baron Benno ist gestorben?« rief Witte rasch. »Ach, das thut mir wirklich recht leid um Sie Alle!«
»Ja,« sagte Wendelsheim leise, »es war ein schwerer Verlust, obgleich wir Alle schon lange darauf vorbereitet sein mußten.«
»In so jugendlichem Alter! Wie alt war Ihr Herr Bruder?«
»Noch nicht achtzehn Jahre.«
»Er lebt! Er lebt!« jubelte da plötzlich Rebekka, die neben dem Bett des Vaters gekniet und ihr Ohr an sein Herz gelegt hatte – was kümmerten sie die Fragen des Beamten!
»Es ist allerdings noch Leben vorhanden,« nickte der Arzt, »und die Wunden – wenn nicht im Innern der Hirnschale mehr Unheil angerichtet ist, als man von außen beurtheilen kann – sehen auch nicht gerade zu bösartig aus, wenigstens nicht so, um Ihnen jede Hoffnung zu rauben.«
»Er lebt, Doctor?« rief aber auch jetzt der Actuar. »Das allerdings würde die Untersuchung sehr erleichtern, wenn wir erst seine Aussage bekommen könnten!«
»Aber doch nicht heut Abend, Herr Actuar,« sagte der Arzt ruhig. »Ich muß überhaupt die Herren bitten, dieses Zimmer jetzt zu verlassen, damit der Verwundete kein Geräusch mehr hört und, wenn er ja schneller, als ich vermuthe, seine Besinnung wieder erhält, nicht erschrickt – ich stehe sonst für nichts.«
»Oh, er lebt! er lebt!« jauchzte Rebekka leise vor sich hin, und wie ihrer selbst unbewußt, lehnte sie ihre Hand auf den Arm des jungen Officiers und schaute mit strahlendem Antlitz zu ihm auf.
Der alte Staatsanwalt nickte still vor sich mit dem Kopf, aber der Arzt drang jetzt entschieden auf Räumung des Zimmers. Der Kranke mußte Ruhe bekommen, und nur die Tochter sollte bei ihm bleiben. Er selber versprach aber, vor Mitternacht noch einmal nachzusehen, wie es ginge – er hatte noch einige Krankenbesuche zu machen und durfte die nicht vernachlässigen.
Der Lieutenant von Wendelsheim zögerte, mitzugehen. Der Staatsanwalt faßte ihn aber am Arm und sagte: »Kommen Sie einen Moment mit uns in ein anderes Zimmer oder auf den Hof, Herr Lieutenant. Ich habe den Herren einen Vorschlag zu machen, bei dem ich Sie ebenfalls betheiligt wünsche; Sie können ja nachher immer wieder zurückgehen.«
»Einen Vorschlag? Welchen?« fragte der Actuar.
»Bitte – unten; hier nichts weiter. Mein liebes Fräulein,« wandte er sich dann an Rebekka, »fassen Sie guten Muth; vielleicht und hoffentlich wird das Schwerste noch von Ihnen abgewandt. Seien Sie aber versichert, daß wir den innigsten Antheil an Ihrem Schicksal nehmen, und was geschehen kann, jene verruchten Buben, welche die That verübt, zur Strafe zu bringen, soll gewiß geschehen.«
»Aber jener junge Mensch hat meinen Vater doch gewiß nicht geschlagen,« sagte Rebekka mit tiefer Wehmuth im Ton.
»Ich bin fest davon überzeugt, daß er es nicht gethan hat,« bestätigte der Staatsanwalt; »doch wird das die Untersuchung bald ergeben.«
»Und bedenken Sie, daß Sie heute den Laden nicht mehr betreten dürfen,« sagte der Actuar, »er ist versiegelt.«
»Gott soll mich behüten, daß ich den Schreckensort in der Nacht betrete!« sagte das Mädchen zurückschaudernd.
»Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie,« drängte der Arzt. »Der Kranke regt sich – ich mache Sie sonst für die Folgen verantwortlich.« – und die drei Männer vor sich her schiebend, verließ er mit ihnen das Gemach.
»Und was wollten Sie uns sagen, Herr Staatsanwalt?« fragte der Gerichtsbeamte, als sie unten im Hof zusammenstanden, während der eine Polizeidiener noch draußen am Hofthor Wache hielt. Die alte Magd war mitgegangen, um hinter ihnen das Thor zuzuschließen.
»Ich habe,« sagte der Staatsanwalt, »schon oben meine Ueberzeugung ausgesprochen, daß der junge Baumann unschuldig ist; ich wiederhole das jetzt, und die Untersuchung wird es bestätigen. Wir wissen aber noch gar nicht, ob der alte Salomon den oder die Menschen, die ihn überfallen haben, erkannt hat, wenn er wirklich wieder zum Bewußtsein kommt, denn derartige Schufte schwärzen gewöhnlich ihre Gesichter oder brauchen andere Kunstgriffe. Wir müssen sie also in den ersten Tagen sicher machen, daß sie nichts zu fürchten haben, und das geschieht am besten durch das Gerücht von des alten Salomon's Tode. Die Stadt braucht's vor der Hand nicht anders zu wissen, als daß der alte Mann wirklich erschlagen oder seinen Wunden erlegen sei, und meinetwegen auch, daß man den Mörder gefangen und eingezogen habe; ein falscher Verdacht schadet dem Namen des jungen Baumann, wenn er denn doch einmal abgeführt ist und gefangen gehalten wird, auch nicht mehr, und bekommen wir nachher die wirklichen Thäter heraus, so wollen wir ihn schon wieder weiß waschen.«
»Ich begreife nicht, was Sie damit bezwecken wollen,« sagte der Actuar.
»Ich halte es auch für das Beste,« meinte der Arzt. »Die Verbrecher lassen sich dadurch möglicher Weise verleiten, mit ihrem Gelde groß zu thun oder mehr zu verzehren, als ihre Bekannten an ihnen gewohnt sind – wie viele Diebstähle und Raubmorde sind schon dadurch an's Tageslicht gekommen!«
»Gut, ich habe nichts dagegen,« nickte der Actuar. »Wir können jedenfalls den Versuch machen, werden aber nichts dadurch erreichen, denn wenn nach drei Tagen die Beerdigung des alten Mannes nicht erfolgt, so wird man doch augenblicklich wissen, daß er nicht gestorben ist.«
»Drei Tage sind eine lange Zeit,« sagte der Staatsanwalt; »wir wollen wenigstens die uns gegebene Frist nach besten Kräften benutzen, und Sie, Herr Lieutenant, bitte ich, im eigenen Interesse der Familie, wenn Sie dieselbe wiedersehen sollten, sie zu bitten, Alles zu thun, um das Gerücht aufrecht zu erhalten. Aber jetzt guten Abend, meine Herren! Es ist spät geworden, und ich muß nach Hause, oder gehen wir einen Weg?«
»Jedenfalls anfangs,« sagte der Arzt; »aber das Volk muß dort von dem Thor fort, daß sie keinen Lärm machen.«
»Ueberlassen Sie das mir, ich werde sie wegbringen,« sagte Witte.
Sie hatten jetzt den Thorweg erreicht und traten hinaus.
»Nun, wie steht's oben?« fragten zahlreiche Stimmen. »Wie geht's dem alten Manne?«
»Geht nach Hause, Leute,« sagte der Staatsanwalt, »und stört die arme Familie nicht in ihrer Trauer – der alte Salomon ist todt.«
»Gott der Gerechte, und so ein Mann – waih geschrieen!« tönte es von allen Seiten. »Und die Mörder?«
»Werden ihrer Strafe nicht entgehen, verlaßt Euch darauf; eine so nichtswürdige That soll nicht ungeahndet hingehen.«
»Was ist da mehr,« sagte ein alter Israelit, der daneben stand; »werden sie ihm auch nicht viel thun – war es doch blos ein Jud', der alte Salomon!«
»Er war ein Mensch, und wer Menschenblut vergießt, deß Blut soll wieder vergossen werden. Aber jetzt geht nach Hause – Ihr seht, das Thor ist geschlossen, und Ihr könnt durch unnöthigen Lärm nur noch die Familie beunruhigen, die so schon Schmerz und Sorge genug hat.«
Das half. »Ja wohl, ja wohl!« riefen die Meisten, und wenige Minuten später war die Straße menschenleer.