Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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23.

Verschiedene Eindrücke.

In Baumann's Hause, im Stübchen neben der Werkstatt saß die Familie beim Abendbrod; aber der sonstige fröhliche Ton herrschte heute nicht in dem kleinen Kreise. Der Alte selber war ernst oder doch wenigstens nachdenkend und sprach nicht viel, und an wen er eigentlich die Zeit über gedacht hatte, verriethen die wenigen Worte, denen er endlich Laut gab.

»Jetzt kommt er nicht mehr,« sagte er, während er sein leergetrunkenes Glas wieder mit Bier füllte; »es muß schon lange neun Uhr vorbei sein. Er ist jedenfalls nach Hause gegangen und hat sich zu Bett gelegt.«

»Zu Hause ist er nicht, Vater,« meinte Karl; »ich war vorhin drüben bei ihm und wollte mir ein Stück Werkzeug borgen, aber der Schlüssel lag, wie gewöhnlich, wenn er ausgegangen ist, unter der Strohdecke.«

»Er sollte auch etwas Gescheidteres thun, als ihn dahin legen,« sagte die Mutter; »den Platz kennen die Diebe auch, und es ist schrecklich, was in letzter Zeit wieder in Alburg gestohlen wird.«

»Das macht unsere gute Polizei, Mutter,« lachte der Schlosser; »denn wenn sich ein Dieb von der fangen läßt, so verdient er schon seiner Dummheit wegen Strafe.«

Die Frau seufzte, sagte aber nichts weiter, stand dann auf, nahm sich ein Gesangbuch von dem kleinen Bücherbrett und fing an darin still vor sich hinzulesen.

Der alte Schlossermeister war aufgestanden und ging eine Weile im Zimmer auf und ab. Er sah dabei manchmal die Frau an, als ob er sich mit ihr beschäftige – schwieg aber noch immer. Er hatte beide Hände vorn in seinen Hosengurt geschoben und pfiff leise vor sich hin, wie er gewöhnlich that, wenn er in recht tiefen Gedanken war. Die Frau achtete nicht auf ihn – sie las immer weiter, und endlich sah er, als er einmal hinter ihr vorüberging, daß ein im Lampenlichte blitzender Thränentropfen in das aufgeschlagene Buch fiel, ohne daß sie ihn wieder fortgewischt hätte.

»Höre, Karl,« sagte er, indem er vor dem Sohn stehen blieb, »geh jetzt zu Bett, ich habe mit Deiner Mutter noch was zu reden.«

»Ja, Vater,« sagte Karl, »mir ist's auch recht; ich bin müde, und bei Euch scheints heute Abend langweilig zu sein. Die Mutter liest und Du pfeifst, da will ich lieber unter die Decke kriechen; morgen müssen wir doch wieder früh heraus – Gute Nacht mitsammen!«

Karl hatte schon lange das Zimmer verlassen, aber der alte Baumann schwieg noch immer. Er war nur stehen geblieben, pfiff nicht mehr und sah seine Frau an, die noch über das Buch gebeugt saß. Aber sie las auch jetzt nicht; ihr Auge flog darüber hin, und es war fast, als ob sie die Anrede des Mannes mit Zagen erwarte.

»Sag' einmal, Alte, was Dir eigentlich ist,« begann der Schlossermeister, indem er sich mit beiden Händen auf ihre Stuhllehne stützte; »Du kommst mir ordentlich wie verwandelt vor. Du sitzest in Dich gekehrt, Du seufzest, liest in einem Gesangbuch, weinst sogar dabei. Hast Du 'was auf der Seele, wem besser könntest Du es wohl anvertrauen, als mir? Sorgt Dich aber 'was, ei, alle Wetter, dann bin ich auch gerade der Mann, um es Dir abzunehmen! Bist Du krank, Mutter?

»Nein, Gottfried,« sagte die Frau leise, »ich bin nicht eigentlich krank; aber – ich weiß nicht – es liegt mir etwas so schwer auf dem Herzen wie eine Ahnung – als ob uns etwas recht Schlimmes passiren müsse, und ich weiß doch eigentlich nicht, was.«

»Du lieber Gott, ja,« nickte Baumann, indem er sich jetzt neben sie niedersetzte und ihre Hand nahm, »man hat ja wohl solche Stunden und die Doctoren sagen, es läge im Blut – aber ist's das auch wirklich, Alte? Sieh, wir sind jetzt die langen, langen Jahre mit einander verheirathet – unsere silberne Hochzeit liegt sogar hinter uns – und so glücklich mit einander gewesen, haben so zufrieden mitsammen gelebt und nie, nie ist ein unfreundliches Wort zwischen uns gefallen. Wenn Du 'was hattest, das Dich drückte, sagtest Du's mir – wenn ich 'was hatte, that ich ein Gleiches und sagte es Dir – soll das jetzt anders werden?«

»Nein, Gottfried, nein – es wäre ja furchtbar!« seufzte die Frau und lehnte ihr Haupt an seine Brust; aber ihre Thränen fielen stärker.

»Na, also dann heraus mit der Sprache, Mutter,« sagte Baumann; »es drückt Dich 'was – ich seh's Dir an und wenn ich der Sache nur erst einmal auf den Grund komme, wollen wir auch schon Rath schaffen.«

»Ja, aber was soll ich Dir denn sagen?« klagte die Frau; »ich weiß es ja selber nicht. Nur so ein dumpfes Gefühl liegt mir auf dem Herzen.«

»Hm,« brummte der Schlossermeister, »das ist genau so wie damals, als wir noch nicht lange verheirathet waren und bald nach der Geburt des einen Jungen – war's der Fritz oder Karl? – da machtest Du dieselben Geschichten, und wie lange dauerte das, und wie hab' ich mich damals gesorgt, und nachher war's doch nichts. Nach und nach wurde es besser und alle Deine Ahnungen, wie Du's damals auch nanntest, fielen in den Sand.«

Die Frau nickte leise mit dem Kopf und Baumann fuhr nach einer Weile fort:

»Aber ich weiß schon, wo das herkommt. Deine Schwester, die Heßberger, hat die ganze Zeit den Kopf voll solcher Schrullen, und mit ihrem Kartenlegen und Prophezeien bildet sie sich am Ende selber ein, daß sie 'was wüßte; und ein Wunder wär's nicht, wenn sie so viele Gänse findet, die's ihr glauben – und die hat Dich angesteckt. Mit all' ihren überirdischen Ideen und Einbildungen macht sie die Leute rein verrückt und wenn man die ganze Geschichte bei Lichte besieht, so ist's nichts als Schwindel und blauer Dunst. Mir ist die Verwandtschaft auch schon lange leid und ich war froh, daß Ihr nicht mehr zusammenkamt; heute Nachmittag war sie aber wieder ein paar Stunden da und von der hast Du Dich auch nur beschwatzen lassen.«

»Ach, Gottfried, Du magst einmal die Schwester nicht leiden und sie hat's doch so gut mit mir gemeint!«

»Das ist möglich,« sagte der Schlossermeister kopfschüttelnd, aber, wenn's wirklich so ist, jedenfalls verkehrt angefangen. Mit ihren verdammten Schrullen sollte sie zu Hause bleiben, und der – na, ich will Dir nicht weh thun, Alte, aber unser Schwager – wenn ich den verfluchten Kerl mit seinem »Gelobt sei Jesus Christus« nur sehe, wird mir schon steinübel.«

»Es ist ein seelensguter Mensch,« sagte die Frau, »und er thut meiner Schwester, was er ihr an den Augen absehen kann; er hat freilich seine Eigenheiten und mir wär's auch lieber, wenn er nicht so viel in die Kirche ginge und den lieben Gott immer im Munde hätte. Aber es ist einmal seine schwache Seite und wenn er sonst brav und fleißig ist, so haben wir doch gewiß keine Ursache, uns über ihn zu beklagen.

»Meinetwegen,« brummte der Schlossermeister, »ich habe nichts dagegen; wenn Deine Schwester mit ihm auskommt, mir kann's ja recht sein. Aber mein Mann wär's nicht, und ich weiß auch, daß er mich nicht leiden kann – was ich ihm eben nicht besonders verdenke, denn viel freundliche Worte hat er von mir noch nicht gehört.«

»Du thust ihm gewiß Unrecht, Gottfried.«

»Ich will's ihm wünschen,« brummte der Mann – »aber wir sind ganz von dem abgekommen, was ich Dich vorhin fragte. Also Du kannst mir nicht sagen, was Dir auf dem Herzen liegt, Mutter? Du hast zu mir kein Vertrauen?«

»Kein Vertrauen zu Dir, Gottfried?« sagte die Frau herzlich. »Weiß ich denn nicht in den langen, langen Jahren, wie gut und treu und ehrlich Du es mit mir meinst, und hab' ich je Ursache zu einer Klage gegen Dich gehabt? Ach, Gottfried, Du bist der beste Mann, den es auf der Welt nur geben kann, und Alles, was mich niederdrückt und manchmal so weh und traurig stimmt, ist nur das Gefühl – nie solch ein Glück verdient zu haben.«

»Unsinn,« sagte der Schlossermeister halb verlegen; »Du redest gerade, Alte, als ob Du in mich verliebt wärst und mich zum Mann haben wolltest. Ein Glück, daß Niemand da ist, der uns hört; er müßte sonst Wunder glauben, was Du an mir hättest. Aber das weiß ich denn doch besser . . .«

Er horchte auf, denn draußen am Laden wurde gepocht. Die Werkstätte war schon verschlossen, und durch die in die Fensterläden eingeschnittenen herzförmigen Löcher konnte man von außen sehen, daß noch Licht im Zimmer war.

»Holla,« sagte der alte Baumann, »kommt da noch Besuch? Wer ist da?«

»Ich bin's, Meisterchen,« antwortete eine feine Stimme; »machen Sie nur einmal auf.«

»Ja, ich bin's, das kann ein Jeder sagen,« brummte der Schlosser.

»Das muß die Volkert, des Schneiders Frau, sein – unsere Nachbarin,« sagte die Mutter.

»Sind Sie das, Frau Volkert?«

»Ja, Meister; ich habe Ihnen eine wichtige Neuigkeit zu bringen.«

»Das wird 'was Gescheidtes sein, was die alte Schwatzliese noch zu nachtschlafender Zeit herüber jagt,« brummte Baumann leise vor sich hin und setzte dann lauter hinzu: »Na, gehen Sie nur herum an die Werkstätte; ich mache auf.«

Damit verließ er kopfschüttelnd das Zimmer und hob die Barre zurück, die als einziger Verschluß vor der Werkstätte lag. Kaum aber war die Thür weit genug geöffnet, um einem menschlichen Wesen Zutritt zu gestatten, als ein kleines, schmächtiges Frauchen, ohne Crinoline, ohne Hut oder Haube auf, ohne Ueberrock, ohne Schuhe und Strümpfe, nur einfach im Unterrocke, als ob sie eben aus dem Bett aufgesprungen wäre, und ein altes, grün und roth carrirtes Tuch umgebunden, in die Thür hineinschlüpfte und sagte: »Ach, Meister ist denn der Fritz wohl zu Hause?«

»Und deshalb klopften Sie uns heraus, um das zu erfragen?« sagte Baumann eben nicht besonders freundlich. »Warum gehen Sie nicht hinüber, wo er wohnt?«

»Ach, Meister,« sagte die kleine Frau, »ich bin ja nur so von Hause fortgelaufen! Eben wollten wir uns in's Bett legen, denken Sie, da kommt das Fränzchen von Homeiers an's Fenster und klopft und ruft: He, Meister, wißt Ihr's schon, daß sie den alten Salomon in der Judengasse todtgeschlagen und den ganzen Laden ausgeräumt und die eiserne Geldliste weggeschleppt haben?«

»Den alten Salomon?« rief Baumann, stutzig gemacht. »Den Henker auch, Fritz hat ihm ja noch heut Abend vor oder mit Dunkelwerden eine Arbeit hingetragen!«

»Na ja, Meister, der Fritz soll ihn ja auch todtgeschlagen haben, und zwei Polizeidiener haben ihn fortgebracht. Ach, das Unglück!« schrie die kleine Frau und fing bitterlich an zu weinen.

»Was ist das?« rief Frau Baumann, erschreckt aus der Stube herausstürzend. »Was ist mit dem Fritz?«

»Ich weiß nicht,« sagte der alte Baumann, indem er sich mit der Hand an den Kopf faßte, »bin ich verrückt, oder ist die Meisterin verrückt – der Fritz soll den alten Salomon erschlagen – aber Unsinn – es ist zu dumm, wie man auch nur einen Augenblick so 'was denken kann – hahaha, und da kommt die Meisterin im Unterrock und mit bloßen Füßen mitten in der Nacht herübergestürzt! Sie haben jedenfalls geträumt, Frau Volkert!«

»Ach Du lieber Gott,« winselte die Frau, »ich wollte, es wäre so! Aber das Fränzchen hat selber gesehen, daß sie Fritz, mit den Händchen auf den Rücken gebunden, in die Polizei gebracht haben und ein Polizeidiener sagte, er hätte Salomon umgebracht.«

»Wo willst Du hin, Gottfried?« rief seine Frau erschreckt, als er in die Stube ging und dort seinen Rock vom Nagel nahm.

»Zum Fritz hinüber, Alte, und sehen, ob er zu Hause ist, und wenn er nicht da ist, auf die Polizei; ich werde sonst verrückt, wenn ich mich mit dem Unsinn im Kopf die Nacht schlafen legen soll.«

Die Frau erwiderte nichts; stumm und schweigend stand sie mit gefalteten Händen und starrte vor sich aus den Boden nieder. Baumann aber, der nicht mit Unrecht fürchtete, daß des Schneiders Frau, wenn sie allein hier blieb, noch ein Unheil mit ihrer Zunge anrichten könne, sagte, gegen diese gewandt; »Und Sie kommen mit, Meisterin; Sie können sich ja auch auf den Tod in Ihren dünnen Kleidern erkälten, denn die Nächte werden schon frisch. Das ist jedenfalls ein leeres Geschwätz von dem Franz, und wir wollen der Sache bald auf den Grund kommen.«

»Ach Gott, ja,« sagte die Frau, »Sie haben Recht; mein alter Rheumatismus plagt mich so immer. Na, gute Nacht, Frau Baumann! Machen Sie sich nur keine Sorge – ach, Du lieber Himmel, mir ist der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren!«

Und damit schlüpfte sie wieder wie ein Aal und auch nicht viel breiter, zu der Thür hinaus, die der Meister für sie offen hielt.

Baumann verließ sie aber nicht, bis er sich erst fest überzeugt hatte, daß sie wirklich wieder nach Hause zurückgekehrt sei; dann erst wandte er sich und schritt nach der nicht fernen Wohnung seines Sohnes hinüber. Fritz war aber in der That noch nicht zu Hause und jetzt wirklich beunruhigt, ging er direct auf die Polizei. Es fiel ihm allerdings nicht im Traum ein, auch nur ein Wort von dem zu glauben, was das alte Weib geschwatzt, denn daß sein Fritz keinen Menschen – noch dazu einen alten, schwachen Mann – umbringen würde, wußte er gut genug; aber er wollte sich wenigstens die Gewißheit holen, daß es eine Lüge gewesen und dann der Schneidersfrau morgen früh schon seine Meinung sagen. Das hatte auch noch gefehlt, daß sie der Kathrine heut Abend solch einen Schreck in die Glieder jagte!

Auf der Polizei fand er nur die gerade die Wache habenden Diener der Gerechtigkeit und er erschrak allerdings, als diese ihm bestätigten, daß der alte Jude Salomon heut Abend mit einbrechender Dunkelheit – eigentlich noch in der Dämmerung – überfallen und erschlagen sei; auch ein des Mordes verdächtiger Mann sei verhaftet worden; wie der aber hieß, konnten sie nicht sagen. Sie hatten seinen Namen nicht gehört und waren nicht da gewesen, als er eingebracht wurde.

Baumann verlangte jetzt, ihn zu sehen; aber das ging natürlich nicht an. Erstlich durfte überhaupt Niemand zu ihm, bis es der Untersuchungsrichter erlaubte, und dann wäre es auch jetzt zu spät gewesen. Um zehn Uhr Nachts konnte man keinen Besuch mehr zu einem Gefangenen lassen.

Aber wenn sie sich nur wenigstens erkundigen wollten, wie er hieß und wer er sei.

Das ginge auch nicht – sie dürften hier nicht von ihrem Posten, um gleich bei der Hand zu sein, wenn etwas vorfiele, und der Gefängnißwärter schliefe schon lange. Der revidire seine Zellen regelmäßig jeden Abend um neun Uhr und läge mit dem Schlage halb zehn Uhr im Bett. Er solle Morgen früh wieder vorkommen, dann könne er den Namen erfahren.

Der arme Baumann ging wie in einem Traum nach Hause. Der alte Salomon war in der Dämmerung ermordet worden, wie die Leute bestätigten und das genau um die Zeit, in welcher Fritz bei ihm gewesen sein mußte. Daß er die That nicht verübt, verstand sich von selbst – aber welch unglückseliger Zufall hatte hier gewirkt!

Er ging noch einmal bei Fritzens Wohnung vor; doch das Haus war jetzt verschlossen, oben bei ihm aber auch kein Licht – er konnte noch nicht zurück sein – und jetzt daheim – welche Sorge würde sich wieder die Frau machen, und war das am Ende die Ahnung, die sie den ganzen Tag gequält hatte? Jedenfalls würde sie es sich einreden. Das verdammte alte Weib, daß die auch noch in der Nacht mit ihrer Hiobspost herüberkommen mußte!

Er bekam auch in der That einen schweren Stand mit seiner Frau, denn diese war so außer sich, daß sie sich selber nur immer anklagte, als ob sie an dem Allen schuld sei. Sie war furchtbar aufgeregt und Baumann dankte seinem Gott, als er sie endlich dazu brachte, zu Bett zu gehen. Der nächste Morgen fand sie dann ruhiger und mußte ihnen ja überdies auch Gewißheit des Geschehenen bringen. Das Uebrige fand sich Alles von selber.

Der Staatsanwalt Witte war, als er Salomon's Haus verließ, noch ein Stück Weges mit seinen beiden Begleitern zusammen gegangen; dann bog er ab, seiner eigenen Wohnung zu, und schritt sehr nachdenkend und in eben nicht besonders freudiger Stimmung weiter. Es war auch in der That Manches, was ihm durch den Kopf ging, und er überlegte sich dabei hauptsächlich, ob es wohl der Mühe verlohnt hätte, daß er sich mit solchem Eifer der Sache der Frau Müller angenommen. Was gingen ihn der Major oder der Rath Frühbach an und die Familie Wendelsheim? Er nickte, während er ging, immer nachdenkend vor sich hin; aber nicht etwa als Bestätigung eines früher gefaßten Verdachtes, sondern nur im Geist die verschiedenen übereinstimmenden Punkte der neugemachten Entdeckung constatirend.

So erreichte er sein Haus, wo ihn die Familie zum Thee erwartete, denn mit der heutigen Expedition von Briefen war es zu spät geworden und die Schreiber hatten auch schon lange das Bureau geschlossen und den Schlüssel drüben bei der Frau Staatsanwalt abgeliefert.

Er legte draußen Hut und Stock ab und betrat das Zimmer; aber die Frau Staatsanwalt konnte ihr Erstaunen über sein spätes Kommen nicht unterdrücken, denn es gab eigentlich kaum einen pünktlicheren Mann auf der ganzen Welt, als ihren Gatten.

»Liebes Herz,« sagte dieser auf ihre deshalb gemachte Bemerkung, »ich wäre pünktlich gekommen, wenn mich nicht ein ganz außergewöhnlicher Fall abgehalten hätte. Ich passirte ein Haus, in dem unmittelbar vorher ein Raubmord verübt worden, und mußte der Untersuchung beiwohnen.«

»Ein Raubmord – bei wem?« riefen beide Damen zugleich aus.

»Ihr kennt die Leute nicht, Kinder; in der Judengasse beim alten Salomon. Der Mann ist erschlagen und jedenfalls beraubt worden.«

»Das ist ja entsetzlich! Und hat man die Mörder gefaßt?«

»Man hat allerdings Jemanden gefaßt und abgeführt, aber vor der Hand nur auf einen Verdacht hin – einen Bekannten von uns, den jungen Fritz Baumann.«

»Den Fritz Baumann? Das habe ich mir gedacht,« rief die Frau Staatsanwalt, mit der rechten Hand in die linke schlagend, »daß der noch einmal zu solch einem Ende kommen würde. Das war vorauszusehen, denn die Unverschämtheit, die der Mensch hat . . .«

»Oh Du großer Gott,« sagte Ottilie, »das wäre ja schrecklich – die armen Eltern!«

»Hm,« brummte der Staatsanwalt, »ich hatte mir vorgenommen, bei dem alten Baumann einzusprechen, habe es aber unterwegs schändlich vergessen. Nun, eine unangenehme Nachricht erfährt man nie zu spät.«

»Also der hat ihn todtgeschlagen?« fragte die Frau weiter, die eine grimme Genugthuung darin fühlte, den Menschen gedemüthigt und bestraft zu sehen, der es gewagt hatte, zu ihrer Tochter den Blick zu erheben.

»Liebe Therese, Du urtheilst viel zu rasch,« entgegnete Witte: »ich habe Dir gesagt, daß er nur auf einen Verdacht hin eingezogen ist, weil er dort betroffen wurde und Blut an den Kleidern hatte. Das Alles erklärt sich aber vielleicht sehr natürlich und ich persönlich glaube auch nicht einmal an seine Schuld.«

»Der hat's gethan,« rief die Frau Staatsanwalt pathetisch, »der hat es heilig gethan, denn nun er bei uns abgefallen ist – und das wär' ihm gerade ein warmes Nest gewesen, wo er sich hätte hineinsetzen können – trieb ihn der Ehrgeiz rasch ein reicher Mann zu werden, um uns zu zeigen, was er könnte, und dazu war ihm kein Mittel zu schlecht; lehr' Du mich, Menschen kennen!«

Ottilie schwieg. Was die Mutter sagte, hatte eine Wahrscheinlichkeit für sich, aber widerstrebte doch ihren Gefühlen, es zu glauben. Sie konnte sich nicht die Möglichkeit denken, daß der immer so schüchterne Mensch ein solches Verbrechen begehen mochte; aber im Herzen war sie jetzt doppelt froh, seine Bewerbung zurückgewiesen zu haben, und schon der Gedanke daran ihr entsetzlich.

»Höre, Therese,« sagte der Staatsanwalt mit großer Ruhe, indem er sich am Tisch niederließ und den für ihn eingeschenkten Thee nahm, »auf Deine Menschenkenntniß möchte ich doch nicht zu viel bauen. Was hältst Du zum Beispiel vom Lieutenant von Wendelsheim?«

»Das ist ein durchaus braver, solider Mensch,« sagte die Frau mit Würde, »ehrlich und rechtschaffen, und wenn der einmal käme, statt des hergelaufenen Vagabonden, und um Ottiliens Hand anhielte, mit Freuden gäbe ich meinen Segen – ein solches Vertrauen setze ich in ihn.«

»Hm – so?« sagte der Staatsanwalt, seinen Thee langsam umrührend und in die Tasse sehend.

Aber Ottilie war aufmerksam geworden: der Vater hatte noch etwas auf dem Herzen, das sah sie ihm an – hing es mit Bruno von Wendelsheim zusammen? Er ließ sie indeß nicht lange in Zweifel.

»Der Herr Lieutenant von Wendelsheim,« sagte er, »war heut Abend ebenfalls zugegen und befand sich merkwürdiger Weise, gerade während der Raubmord im Hause des alten Salomon verübt wurde, oben bei den Damen.«

»Bei welchen Damen?« sagte die Frau Staatsanwalt, hoch aufhorchend.

»Nun, bei den Damen vom Hause, der Frau und Tochter des alten Juden, und ich muß gestehen, daß ich in meinem ganzen Leben kein wirklich schöneres Mädchen gesehen habe, als diese moderne Rebekka ist.«

»Das ist nicht wahr,« sagte die Frau Staatsanwalt mit großer Bestimmtheit, »und nur wieder eine von Deinen Erfindungen, um mich zu ärgern.«

»Wenn Du das so bestimmt weißt,« erwiderte Witte, »so brauchen wir auch nichts weiter darüber zu reden. Bitte, Ottilie, reiche mir doch einmal das Brod herüber.«

Der Staatsanwalt machte eine Kunstpause, denn er wußte recht gut, daß es seine Ehehälfte jetzt nicht dabei bewenden ließ; aber das so sehr bestimmt ausgesprochene »Das ist nicht wahr« hatte ihn geärgert, und er wollte sie dafür wenigstens dem Zwang einer neuen Anrede unterwerfen.

Die Frau Staatsanwalt ließ es aber ebenfalls an sich kommen, und da Ottilie natürlich keine Frage in dieser delicaten Angelegenheit wagte, so wurde eine ganze Weile nichts gehört, als das Klappern der Messer und Gabeln und das Klirren der Löffel in den Tassen. Endlich aber hielt es die Frau nicht länger aus – ihr Mann war mit seiner Schweigsamkeit in einer so wichtigen Angelegenheit geradezu zum Verzweifeln. Mußte sie denn als Mutter nicht darum wissen?

»Was hatte denn aber der Herr Baron von Wendelsheim in dem Hause des Juden zu thun?« brach sie endlich das Schweigen. »Das ist doch nicht Sache des Militärs, sondern nur der Polizei.«

»Ich glaube auch nicht, daß er in militärischen Angelegenheiten dort vorgesprochen hat,« sagte Witte trocken.

»Und was wollte er sonst da? Witte, Du bist heute in einer Laune, um eine Heilige die Geduld verlieren zu machen!«

»Dann sei so gut und unterbrich mich künftig nicht, wenn ich Dir etwas erzähle, mit Deinem kategorischen ›Das ist nicht wahr‹. Wenn ich einmal eine Behauptung aufstelle, so kannst Du Dich auch fest darauf verlassen, daß sie wahr ist, und so sage ich Dir denn noch einmal: der Lieutenant von Wendelsheim war während der Katastrophe oben bei den Damen vom Hause, bei der Frau und Tochter des alten Salomon.«

»Aber was, um Gottes willen, hatte er dort zu thun? War er vielleicht aus Versehen in ein falsches Haus gekommen?«

»In der Judengasse? Sehr wahrscheinlich,« nickte ihr Gatte. »Uebrigens kann das nicht das erste Mal gewesen sein, daß er dort ›aus Versehen‹ hinaufgerathen ist, denn er wußte außerordentlich gut Bescheid im Hause und leuchtete den Leuten, die sich dort nicht zurecht zu finden wußten, voran.«

»Der Baron von Wendelsheim?«

»Ist sehr intim in der Familie, die Versicherung kann ich Dir geben, Therese,« sagte der Staatsanwalt ernst, indem er ihr einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, »und Deine Menschenkenntniß hat Dich dieses Mal, was etwa andere Voraussetzungen betreffen sollte, wie mir scheint, im Stich gelassen.«

»Und ist die Tochter wirklich so schön?« fragte Ottilie, die einen recht wehen Stich im Herzen fühlte, obgleich sie sich die größte Mühe gab, gleichgültig bei der Frage auszusehen.

»Ich habe nicht übertrieben,« versetzte der Vater. »Sie war allerdings in der Angst und Aufregung des Moments todtenblaß, aber dennoch nehme ich mein Wort nicht zurück ich habe noch nie in meinem Leben ein so vollkommen schönes und dabei in jeder Bewegung edles Wesen gesehen, als jenes Mädchen.«

»Und das wird es auch gewesen sein, was ihn dort hingeführt hat,« sagte die Mutter, aber doch unruhig auf ihrem Stuhl herumrückend; »das hübsche Gesicht hat ihn angelockt. Aber ein Baron kann doch wahrhaftig im Leben nicht daran denken, ein Judenmädchen zu heirathen.«

Witte warf ihr einen strengen Blick zu. »Liebe Frau,« sagte er mit scharfer Betonung, »sobald Du vermuthest, daß er überhaupt bewogen werden könnte, sein Ahnenschild zu vergessen, so wäre das immer nur ein Schritt weiter. Nach den Verpflichtungen aber, die er, allem Anschein nach, in jener Familie eingegangen ist, hoffe ich, daß er unser Haus nicht mehr betreten wird. Du hast mich doch verstanden, Mutter?«

»Du gehst zu weit, Dietrich,« sagte die Frau unruhig; »man muß doch Jemanden hören, ehe man ihn verurtheilen darf, und Dir brauch' ich das wohl nicht einmal zu sagen.«

»Nein, aber in manchen Dingen genügt es auch, wenn man Jemanden sieht, anstatt ihn zu hören,« sagte der Staatsanwalt, »und ich kann Dir versichern, daß ich nach dem, was ich heut Abend gesehen habe, vollkommen befriedigt bin. Uebrigens ist das Thema kein so angenehmes, um zu lange dabei zu verweilen; ich habe auch noch zu arbeiten. Gute Nacht, Kinder, schlaft wohl! Ihr könnt mir wohl noch eine Flasche frisches Wasser in meine Stube schicken.«

Damit ging er zur Thür hinaus und ließ seine Frau wenigstens in einem unsagbaren Zustand von Bestürzung zurück, da ihr in diesem Augenblick eine ganze Colonie von Luftschlössern und Phantasiebauten durch und über einander gepoltert waren.

Der Lieutenant von Wendelsheim – ihr Lieutenant, den sie sich selber, wie sie glaubte, sorgfältig herangezogen, den sie für ihre Tochter ausgesucht und bestimmt, und kein erlaubtes Mittel unversucht gelassen hatte, um ihn heranzuziehen, in der Judenfamilie! Und die Schmach und Schande, wenn sie an die Frau Appellationsgerichtsräthin dachte, die sie zu ihrer Vertrauten in allen Herzensangelegenheiten gemacht, und die Frau konnte nicht schweigen, das wußte sie aus Erfahrung!

Ottilie war aufgestanden und zum Fenster getreten; das Herz schien ihr zum Zerspringen voll, aber sie wagte nicht, ein Wort zu äußern, und an dem Fenster klopfte sie in Gedanken eine Melodie und schlug dann leise mit der rechten Fußspitze den Tact, erschrak aber ordentlich und hörte auf, als ihr einfiel, daß das gerade die letzte Française sei, die sie mit dem Verräther getanzt hatte.

Aber war denn die Sache wirklich so schlimm? Die Frau Staatsanwalt konnte es sich noch nicht denken, aber darüber auch freilich mit der Tochter keine Rücksprache halten. Wer wußte denn, ob er nicht nur ganz flüchtig durch die Schönheit jenes Mädchens geblendet gewesen und gar nicht daran dachte, eine ernste Neigung für sie zu fühlen! Er hatte in der letzten Zeit viel Geld gebraucht – die Erbschaft wurde erst in den nächsten Wochen ausgezahlt; der alte Salomon lieh aber Geld auf Zinsen, und was war natürlicher, als daß er sich, um den guten Willen des Vaters zu erwerben, ein klein wenig hatte um die Tochter bemühen müssen. Wenn sie nur Jemanden gewußt hätte, der ihr darüber nähere Auskunft geben konnte!

Und der Lieutenant sollte das Haus nicht wieder betreten? Lächerlich! Wer hätte es ihm denn verbieten wollen? Sie gewiß nicht – und ihr Mann? Ja, er gab manchmal, wenn ihn der »Hausherrndünkel« überlief, wie es die Frau Staatsanwalt nannte, solche Befehle; aber ob sie jedesmal ausgeführt wurden, war eine andere Sache. Sie selber erinnerte sich wenigstens zahlreicher Beispiele, wo ganz entschieden befohlene Anordnungen in das genaue Gegentheil umgeschlagen waren. Möglich, daß es auch diesmal der Fall sein konnte.

Anders traf Ottilie die Nachricht; sie war wirklich nicht allein im innersten Herzen, sondern auch in ihrem Stolz und Ehrgeiz verwundet, und selbst die Rückerinnerung an Vergangenes bot ihr keinen Trost. Sie hatte geglaubt, daß Bruno sie liebe; aber sie mußte sich jetzt selber gestehen, daß er ihr nie Gelegenheit geboten habe, es bestimmt zu wissen. Er war immer freundlich und artig gegen sie gewesen – aber nie mehr. Er hatte ihr Schmeicheleien gesagt, ja – aber nicht anders als all' die gewöhnlichen schalen Redensarten lauten, mit denen junge Herren nur zu häufig eine Unterhaltung führen. Wenn sie denen aber eine andere Auslegung gegeben, war das nicht ihre Schuld gewesen? Und sie hätte jetzt weinen, bitterlich weinen mögen, wenn sie daran dachte, daß sie nur einen Augenblick den »Falschen« für werth gehalten, ihm mehr zu sein als eine flüchtige Ballbekanntschaft.

Das Thema eignete sich aber heut Abend für beide Theile nicht zur Unterhaltung, und wenn auch Ottilie mit ihrem Urtheil über den Baron von Wendelsheim viel mehr im Klaren war als ihre Mutter, die noch immer nach verschiedenen Seiten hin einen Anhalt suchte, so fühlte sich doch weder Mutter noch Tochter dazu aufgelegt, die Sache augenblicklich weiter zu erörtern.

Ottilie ging noch zum Flügel, phantasirte anfangs etwas schwermüthig, und ging dann wie zum Trotz in Strauß'sche Walzer über. Die Mutter dagegen saß still brütend in einer Ecke, hörte gar nicht auf das Spiel und fing langsam an, die eingestürzten Schlösser wieder aufzubauen.



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