Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Die elende Familie.

In der Lindenstraße, aber ziemlich weit draußen, so daß der Garten mit seiner Rückseite schon an die dort beginnenden Felder stieß, lag das Grundstück des alten Majors a. D. von Halsen, der da mit einer alten Verwandten, die ihm das Hauswesen führte, einem Gärtner, einer Köchin und einem Stubenmädchen wirtschaftete.

Das Haus selber war groß und massiv gebaut und in den oberen Räumen wirklich herrschaftlich eingerichtet, der Garten parkähnlich, mit einem großen Treibhause und dem kostbarsten Obst darin, und der Besitzer galt für reich, aber für einen Sonderling, der sich hier von der Welt vollkommen abzuschließen schien. Er hatte es allerdings sehr gern, wenn ihn Jemand besuchte und eine Stunde mit ihm verplauderte, denn die Langeweile quälte ihn oft fürchterlich; er selber aber machte nie einen Besuch, außer in letzter Zeit häufig bei dem Staatsanwalt Witte, mit dem er besonders viel und heimlich zu verkehren hatte.

Uebrigens fanden sich nur Wenige, die dann und wann das »Lazareth«, welchen Namen das Haus schon in der ganzen Stadt erhalten, betraten, denn es bot sehr wenig Anziehendes, und der Major selber, ohne die geringste gesellschaftliche Tugend, war ein so unliebenswürdiger Gesell, daß man ihm immer lieber aus dem Wege ging, als ihn in seiner Höhle aufsuchte. Es sah auch noch dazu selbst ungemüthlich bei ihm aus.

Schon der Garten war wie ein Nonnenkloster mit einer zehn Fuß hohen und sehr dicken Mauer, in die nicht einmal eine Gitterthür einen Einblick gestattete, umschlossen. Ebenso wurden alle nach der Straße führenden Fenster, wenn nicht das Logis einmal gereinigt werden mußte, fest verhangen gehalten, und das Wohnzimmer des Majors selber, wo er auch seine sämmtlichen Besuche empfing, glich eher der Wohnung eines Tagelöhners oder ärmeren Bürgers, als der eines reichen Mannes aus höheren Ständen.

Die obere Etage war, wie schon erwähnt, sehr elegant eingerichtet, aber nur wenige Menschen hatten sie einmal zufällig zu sehen bekommen und sie wohl kaum je betreten. Das untere Zimmer dagegen, das, mit der Küche dicht daneben, nach dem Garten zu hinausführte, zeigte nicht die geringste Bequemlichkeit, einen alten, mit abgeschabtem Leder überzogenen Lehnstuhl ausgenommen, noch viel weniger Eleganz. Die Wände waren nicht einmal tapeziert, sondern nur gemalt, die Dielen weiß, mit Sand bestreut. Ein großer Tisch aus Tannenholz stand in der Mitte, und zwei hölzerne Rohrstühle und ein vereinzelter aus Kirschbaumholz zierten die Ecken. Auch das Büffet war nichts weiter als ein lackirter Holzschrank, und das Sopha unter dem kleinen, schwarz umrahmten Spiegel so furchtbar hart und zusammengesessen, daß man sich erst dann ausruhte, wenn man wieder davon aufstand.

Als Verzierung befanden sich allerdings drei Lithographien in schwarzen Rahmen im Zimmer, aber sie paßten zu den Bewohnern. Die eine stellte ein Schlachtfeld mit schrecklich Verstümmelten und Todten vor, die andere das Martern und Verbrennen verschiedener Ketzer im Mittelalter, und die dritte jenes bekannte Pferd, an welchem alle nur erdenklichen Pferdekrankheiten mit Nummern angedeutet und darunter auch die Namen genannt werden.

Nicht einmal Gardinen zeigten die Fenster, ein paar zerwaschene Lappen ausgenommen, die oben darüber angebracht waren und weit eher aussahen, als ob sie dort zum Trocknen aufgehangen wären. Ueberhaupt das ganze Zimmer machte den Eindruck der Dürftigkeit, und doch schien sich der alte Major wunderlicher Weise nur gerade hier wohl und zufrieden zu fühlen, wenn er das überhaupt je gethan hätte. Er gehörte aber leider zu jenen Menschen, die eigentlich die größte und jede Ursache gehabt hätten, gegen Gott dankbar zu sein, aber sich dabei allein für schlecht und nichtswürdig behandelt hielten, und nun schon darüber, weil sie keine gegründete Ursache zur Klage auffinden konnten, ärgerlich und verdrießlich durch das Leben stöhnten.

Eine Verwandte von ihm, die verwittwete Frau von Bleßheim, lebte mit in dem nämlichen Hause, und ein besser zusammenpassendes Paar hätte es auf der Welt nicht geben können. Das mußte sie auch allein bewogen haben, dieses »Lazareth« zu ihrem Aufenthaltsort zu wählen, wo sie angeblich dem Major die Wirthschaft führte, in Wirklichkeit aber nur mit ihm stöhnte und ächzte.

Sie war allerdings schon ziemlich hoch in den Jahren und von kränklichem Körper, und würde mit dem Vermögen, das sie besaß, recht gut und bequem haben leben können, aber sie mochte nicht allein sein. Sie fühlte das dringende Bedürfnis nicht allein bedauert zu werden, sondern auch Jemanden zu haben, den sie bedauern konnte, dem es wenigstens nicht besser ging, als ihr selber. Das Lamentiren gehörte mit zu ihrem Leben, ja bildete fast ihre einzige Unterhaltung, und da sie gefunden, daß sie gesunden Leuten damit endlich lästig fiel und unerträglich wurde, so war der alte Major ihre letzte Zuflucht geworden. Bei ihm konnte sie in ihrer Leidenschaft grünen und blühen und fand sogar in der Dienerschaft Mitleidende.

Der Major saß auf seinem gewöhnlichen Platz, dem alten Lehn- und Sorgenstuhl, hielt das Morgenblatt, seine einzige Lectüre, in der Hand und stöhnte. Ihm gegenüber, an einem in die Ecke geklebten dreieckigen Schranke, stand Frau von Bleßheim und nahm einiges Geschirr heraus.

»Ach Du mein großer Gott,« seufzte sie dabei vor sich hin, »o Du mein lieber Himmel!«

»Ah–h!« stöhnte der Major aus seiner Ecke. »Aber was hast Du nur heute, Rosamunde? Was fehlt Dir denn?«

»Mir? Ach Du großer Gott, und das fragst Du auch noch!« lautete die Antwort. »Alle Glieder sind mir wie zerschlagen, und mein Herz klopft mir so furchtbar, daß ich es ordentlich an den Rippen fühle!«

»Ach, was Du auch immer hast,« ächzte der Major, »ewig winseln und lamentiren! Was soll ich denn da sagen, wie mir zu Muthe ist?«

»Ich wollte nur, ich wäre so gesund wie Du!« seufzte die gnädige Frau.

»Oh Du meine Güte, versündige Dich nicht,« rief der Major und ließ vor Erstaunen über den entsetzlichen Wunsch die Zeitung sinken. »Sitz' ich denn hier nicht in dem verdammten alten Stuhl mit allen Fehlern und Leiden behaftet, wie das Pferd da drüben an der Wand, und es fehlte weiter nichts, als daß ich numerirt würde über den ganzen Leib, um sie nachher auf einer Tabelle neben einander zu haben! Du so gesund wie ich, wünschest Du Dir – es ist rein zum Todtschießen, wenn man nur so etwas mit anhören muß!«

Die alte Dame schwieg und stöhnte nur leise weiter, als die Köchin, mit einem dicken weißen Tuch um die Backen – denn sie hatte ewig Zahnschmerzen – in's Zimmer trat, um die Schüsseln heraus zu holen. Diese faßte sie unter den linken Arm, mit der Rechten hielt sie die Backe.

»Ist der Christian noch nicht wieder da, Liese?« fragte der Major, ohne von ihren Schmerzen weitere Notiz zu nehmen. »Der bleibt auch wieder eine Ewigkeit! Kein Mensch kommt hierher, um Einen im Elend zu besuchen; nur amüsiren wollen sich die Leute, tanzen und vergnügt sein, ja wohl, aber an einen armen Mitmenschen denken sie eben so wenig wie an ihr einstiges Seelenheil!«

»Der Christian kann auch selber nicht fort,« sagte die Liese mürrisch. »Der Rheumatismus ist ihm in der Nacht wieder in's Kreuz geschlagen, er geht so krumm wie eine Tischbürste.«

»Ach, der hat auch immer was!« stöhnte der Major.

»Ja wohl,« sagte die Liese; »es soll auch schon gar Niemand weiter krank sein, wie Sie ganz allein. Wenn ich nur den Jammer hier im Hause nicht mehr mit ansehen müßte!«

»Na, meinethalben kann Sie gehen,« fuhr da der Major auf, »ich halte Sie nicht, wenn Sie's hier gar so schlecht hat! Ich will Niemanden zwingen, bei einem armen und kranken Manne zu bleiben; ich kann mich auch allein in eine Ecke auf's Stroh legen und verrecken, wen kümmert's – keinem Teufel würde ein Auge darum naß werden! Ach du lieber Gott, ist das ein Elend auf der Welt!«

Die Köchin, der schon seit zwanzig Jahren alle Tage wenigstens zweimal der Dienst gekündigt wurde, verließ brummend das Zimmer, und die beiden Verwandten waren wieder eine Zeit lang allein, bis die Thür endlich aufging und der lang erwartete Christian hereintrat.

Christian paßte vollkommen in die Gesellschaft. Er lahmte vollständig, trug einen dicken, wollenen und sehr bunt gestopften Strumpf um den Hals und hielt den Oberkörper ganz gebückt oder vielmehr krumm und nach der rechten Seite hinübergezogen.

»Na, Christian,« sagte der Major, indem er den Kopf nach ihm hindrehte, »wie seht Ihr wieder aus – wie ein wahres Jammerbild! Geht nachher nur hinaus und stellt Euch in die Erbsen, denn weiter werdet Ihr doch wohl keine Arbeit thun können!«

»Ja, Sie spotten noch,« sagte Christian; »wenn Sie das Kreuz hätten . . .«

»Und ich tausche augenblicklich!« rief der Major, schon von dem Gedanken entrüstet, daß Jemand ein schlimmeres Kreuz haben sollte, als er selber. »Wenn Euch aber nur ein Finger weh thut, dann möchtet Ihr Euch gleich in Baumwolle einwickeln! War der Staatsanwalt zu Hause, und kommt er? Ich kann ja nicht ausgehen!«

»Ja, er käme gleich,« knurrte der Mann, »und ich glaubte, er wäre schon da; er ging mit mir zur Thüre hinaus, und ich bin nur den Weg hierher gekrochen, ich konnte nicht mehr fort – da ist er auch schon.«

Draußen ging in der That die Saalthür auf, und es pochte gleich darauf an; aber es war nicht der Erwartete, sondern ein alter Freund des Majors, der »Rath Frühbach«, wie er in der Stadt genannt wurde, der mit einem sonoren: »Nun, mein lieber Herr Major, wie geht's heute Morgen?« den Hut schon von draußen in der Hand, in das Eß-, Wohn- und Empfangszimmer eintrat.

Rath Frühbach war einer von den Menschen, die der liebe Gott nur auf die Erde gesetzt hat, um sich hier zu amüsiren, aber etwa in der Art, wie eine Stechfliege, die sich von dem Blute ihrer Mitgeschöpfe nährt und sich dabei äußerst wohl befindet. Allerdings war er nicht blutgieriger Art, wenn er auch daheim über seinem Schreibtische einen Cavallerie-Säbel und eine Doppelflinte hängen hatte; aber er benutzte die beiden letzteren so wenig wie den ersteren, und seine einzige sichtbare Beschäftigung auf der Welt war: seinen linken Arm auf dem Rücken spazieren zu tragen und Geschichten oder vielmehr Anekdoten ohne Pointe zu erzählen. Von denen stak er aber bis zum Rande voll, und man brauchte ihn nur anzutupfen, so entlud sich schon das Eine oder Andere über den nächsten, besten Unglücklichen, ja, sie kamen sogar ohne Antupfen, er schwitzte sie ordentlich aus und konnte in dieser Eigenschaft, besonders beschäftigten Leuten, furchtbar werden. Dazu kam, daß er sehr laut, aber sehr langsam sprach – er hatte immer Zeit –, und wo er einmal ein Opfer fand, konnte man sich auch darauf verlassen, daß er es festhielt und zu würdigen verstand. Leicht war er nie im Leben abzuschütteln. »Herr Rath« wurde er in der ganzen Stadt genannt, und seine Frau im natürlichen Weltlauf »Frau Räthin«, was sie den Dienstboten gleich beim Anzuge selber sagte. Was für ein Rath er aber sei, konnte niemand erfahren oder herausbekommen, und da der Mann das Interesse auch wirklich nicht besonders in Anspruch nahm, so bemühte sich Niemand deshalb. »Herr Rath« war außerdem kürzer als »Herr Frühbach.«

Wie er nach Alburg kam, hatte er den Major, den er von Schwerin aus kannte, wohl dann und wann gesprochen, aber selten aufgesucht. Dessen Haus bot zu wenig Genüsse, und er war in der Stadt noch nicht bekannt, also auch nicht gefürchtet. Wie er sich aber erst einmal entwickelte, einzelne Spaziergänger überfiel und sich an sie hing, ja Leuten, die ihm vertrauensvoll genaht, sogar auf's Zimmer rückte und ihnen so lange Geschichten erzählte, bis sie verzweiflungsvoll in Rock und Stiefeln fuhren und einen wichtigen Ausgang vorschützten, da fing es ihm an schwerer zu werden, Opfer für seine Anekdoten zu finden, und nun fiel ihm der alte Major als passendes Lamm in die Hände. Damit war denn auch Beiden geholfen, denn der Major wollte nur erzählen hören, was auch immer, blieb sich gleich, ja er wußte oft nicht einmal, von was gesprochen wurde. Frühbach dagegen wünschte sich nur mitzutheilen, und die alte Dame ging dann um Beide herum und seufzte oder machte draußen der Liese Umschläge auf ihren Backen. Ein Topf mit Kamillen kochte wenigstens permanent das ganze Jahr und Winter und Sommer auf dem häuslichen Herde des Majors.

»Ah, mein lieber Rath,« sagte der Major, doch einigermaßen enttäuscht, »ja, wie soll's gehen – wie es einem armen kranken Menschen gehen kann, dem der Tod schon im Nacken sitzt. Ich athme eben noch, das ist etwa Alles, was ich von mir rühmen kann.«

»Bei Athmen,« sagte der Rath, indem er seinen Stock und Hut, wie gewohnt, in die Ecke stellte, »fällt mir . . . – ach, ergebenster Diener, Frau von Bleßheim, freue mich, Sie so wohl zu sehen!«

»Wohl? Ach Du lieber Gott, ich kann die Glieder kaum fortschleppen!«

»Fällt mir eine komische Geschichte ein,« fuhr der Rath fort, ohne auf den Krankheitszustand der Dame weitere Rücksicht zu nehmen. »Denken Sie, ich sitze eines Abends noch spät an meinem Schreibtische und arbeite, und meine Frau war schon zu Bett gegangen, denn sie ist kein Freund vom langen Aufbleiben. Auf einmal, wie ich horche, um die Uhr draußen schlagen zu hören – wir haben eine Schwarzwälder Uhr, die immer auf dem Gange hängt, weil es für das Mädchen in der Küche bequem ist, wenn sie sehen kann, welche Zeit es ist –, da athmete 'was im Zimmer und zwar lang und schwer. Nun sehen Sie, Herr Major, ich bin wahrhaftig nicht ängstlicher Natur und habe ja auch immer meine Waffen über dem Schreibtisch hängen, wenn ja einmal etwas vorfallen sollte, aber im ersten Augenblicke lief mir's doch ordentlich kalt über den Leib, und mein erster Gedanke war: Da hat sich ein Kerl hereingeschlichen und liegt unter dem Sopha. Ich nicht faul, meinen Säbel von der Wand und mit der Lampe unter das Sopha geleuchtet; aber es lag nichts darunter. Ich sehe mich im ganzen Zimmer um, und es war eigentlich nirgends mehr ein Raum, wo sich ein Mensch hätte verstecken können. Auf einmal höre ich etwas klopfen, und zwar von meinem Schreibtisch her, und wie ich mich jetzt dorthin drehe, was ist da? Mein Hund, der verwünschte Jagdhund, der sich hereingeschlichen haben muß, ohne daß ich ihn bemerkte, und der jetzt ganz vergnügt, weil ich aufstand, mit dem Schwanze wedelte und dabei gegen den Schreibtisch schlug.«

»Ja,« sagte der Major, der indessen die ganze Zeit an den Staatsanwalt gedacht und ob der noch nicht käme, »er wird wahrscheinlich noch beschäftigt gewesen sein.«

»Gott bewahre,« versicherte der Rath, »er hatte geschlafen und ich das Athmen gehört, und weil er unter dem Schreibtische lag, klang es so curios, als ob es von dem Sopha herkäme.«

»Wie geht es denn Ihrer Frau Gemahlin?« sagte die gnädige Frau.

»Ah, ich danke Ihnen, Frau von Bleßheim, recht gut! Es ist merkwürdig, wie sich die Frau auf den Füßen hält, und immer thätig, immer auf dem Zeuge, und doch den vielen Aerger dabei! Ich versichere Ihnen, mit den Dienstboten ist gar nicht mehr auszukommen, wir haben nun in diesem Jahr schon das fünfte Mädchen . . .«

»Da kommt er,« sagte der Major, der indessen draußen einen Schritt gehört hatte. Gleich darauf klopfte es auch wieder, und auf ein rasches »Herein!« trat der Staatsanwalt in's Zimmer.

»Guten Morgen, Major, guten Morgen, gnädige Frau! Ah, da ist ja auch der Herr Rath Frühbach! Wie geht's, Rath?«

»Oh, ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt, so ziemlich! Ich erzähle eben der gnädigen Frau . . .«

»Nun, lieber Major, Sie hatten mich rufen lassen, ich habe eben nicht viel Zeit und noch einen Termin abzuhalten, den ich nicht gern versäumen möchte . . .«

»Wie es mir beinahe einmal gegangen ist,« sagte der unverbesserliche Rath Frühbach. »Denken Sie, ich hatte in einer wichtigen Angelegenheit – es betraf das Vermögen einer Wittwe in Schwerin, deren Mann nach Konstantinopel gegangen und an der Cholera gestorben war, und die Stadt hatte die Sache zu besorgen – einen Termin angesetzt bekommen, um elf Uhr Morgens, und es verstand sich von selbst, daß ich den einhalten mußte, wenn ich das Ganze auch nur aus Gefälligkeit that. Ich ziehe mich also an, und da es noch ein wenig früh war, schlenderte ich langsam über die Promenade dem Rathhause zu. Unterwegs treffe ich aber den früheren Minister von Bassefeld, einen alten Freund von mir, und ich bleibe natürlich stehen; wir kommen in's Plaudern und erzählen uns so einige interessante Sachen aus früheren Zeiten. Wie ich aber noch so dastehe, schlägt es ja wahrhaftig elf, und ich hatte noch reichlich zehn Minuten zu gehen. Ich sage Ihnen, so rasch bin ich in meinem ganzen Leben nicht ausgeschritten! Der Minister lachte ordentlich, wie er mich fortlaufen sah, aber ich kam doch noch eben zur rechten Zeit auf's Amt.«

Witte hatte wie auf Kohlen gestanden und wiegte sich immer von einem Fuß auf den andern.

»Könnten wir denn nicht vielleicht hinauf in eins der Zimmer oder in den Garten gehen,« sagte er jetzt, »um unsere Sache abzumachen? Ich habe nicht lange Zeit, Major . . .«

»Ah, Sie wollen etwas miteinander besprechen,« sagte der Rath, »ja, dann will ich Sie lieber allein lassen. Apropos, Herr Major, haben Sie denn die Apfelwein-Cur begonnen, die ich Ihnen das letzte Mal anrieth? Sie glauben gar nicht, wie segensreich das auf die Eingeweide wirkt. Ich fühle mich immer ungeheuer erleichtert danach und bin auch überzeugt, daß es eine Umwandlung im ganzen Blut hervorbringt . . .«

»Also was war es, Major?« rief der Staatsanwalt, der ungeduldig wurde und schon nach der Uhr sah. »Ich muß wahrhaftig wieder fort, wenn Sie nicht reden!«

»Rechtshändel,« sagte Frühbach, indem er nach seinem Hut und Stock ging, »müssen unter vier Augen abgemacht werden, und ein Dritter ist dabei das fünfte Rad am Wagen. Also adieu, lieber Herr Major – leben Sie recht wohl, Frau von Bleßheim! Bald hätt' ich auch noch vergessen, daß ich Sie von meiner Frau grüßen sollte, und wenn ich wiederkomme, bringe ich Ihnen auch das Recept zu den Umschlägen mit; heute habe ich wirklich nicht daran gedacht. Solche Recepte sollte man übrigens immer bei sich führen, denn man weiß nie, wie man Jemandem damit helfen kann. So ging es mir einmal, da fuhr ich von Schwerin nach Wasmuhlen – damals hatten wir noch keine Eisenbahn – (der Staatsanwalt lief, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab und sah nach der Decke hinauf), »und in Wasmuhlen, gleich im ersten Hause, wo ich abstieg, lag eine Frau, die ich recht gut von früher her kannte, und hatte furchtbare Krämpfe, und kein Arzt war aufzutreiben. Aber glücklicher Weise trug ich ein ganz vortreffliches Recept für solche Fälle, das mir der berühmte Schönlein, ein alter Jugendfreund von mir, einmal gegeben, bei mir in der Brieftasche, ging gleich selber in die Apotheke, ließ es zubereiten, und die Krämpfe verloren sich. Aber die Herren haben zu thun – also guten Morgen allerseits! Wenn ich Zeit habe, komme ich vielleicht morgen einmal wieder vor und sehe nach, wie es geht. Fangen Sie nur mit dem Aepfelwein an, Major.«

»Herr Du mein Gott,« rief der Staatsanwalt, als der Rath kaum die Thür hinter sich zugedrückt hatte, »ist das ein langweiliger Peter! Der Mensch bringt Einen ja rein zur Verzweiflung! Ich begreife nicht, wie Sie den, zu allen Ihren übrigen Leiden, auch noch ertragen können, Major!«

»Du lieber Gott,« sagte dieser, »es ist ein seelenguter Mensch und vertreibt mir manchmal eine Stunde die Zeit.«

»Schlägt sie todt, ja,« nickte Witte; »aber nun heraus mit der Sprache, denn ich habe wirklich wenig Zeit.«

»Also vor allen Dingen,« sagte der Major, »haben Sie den Schlosser Baumann gesprochen?«

»Ja, aber Ihre Nachricht, so weit es die Familie betrifft, war vollkommen unbegründet. Schlosser Baumann, außerdem ein anerkannt rechtlicher Mann, der nie zu einer Schurkerei die Hand bieten würde, wohnt noch in dem nämlichen Hause, das er von seinem Vater ererbte, und hat dort hinein vor etwa sechsundzwanzig Jahren geheiratet. In derselben Kirche, in der er getraut wurde, sind auch seine sämmtlichen Kinder getauft; ich habe selber das Kirchenbuch nachgesehen, und Ihre Nachricht, die Sie mir gaben, ist vollkommen falsch. Seine ältesten Kinder sind lauter Jungen, er hat nur ein einziges Mädchen von noch nicht sieben Jahren. Der älteste Sohn ist Werkführer beim Mechanikus Obrich, der zweite arbeitet mit dem Vater, der dritte ist bei einem Tischler in der Lehre. Seine Kinder sind außerdem alle gesund und am Leben geblieben, daß also auch mit einem Todesfalle keine Schmuggelei vorgefallen sein konnte. Wie kamen Sie überhaupt auf die Familie?«

»Weil die Heßberger, die damalige Hebamme der Baronin Wendelsheim, die Schwester von des Schlossers Frau ist,« sagte der Major. »Und wie ich neulich zufällig hörte, daß die Baumann ihr erstes Kind, ein Mädchen, gleich wieder verloren hätte, war doch nichts natürlicher, als nach dieser Richtung hin Verdacht zu fassen.«

»Es ist aber, wie ich Ihnen sage, nicht wahr, denn ich habe mich selber überzeugt. Ein blankes altes Weibergeschwätz, mit dem Sie keinen Hund hinter dem Ofen vorlocken. Sie sind nun einmal auf die Ihnen entgangenen fünfzigtausend Thaler verbissen und können die fixe Idee nicht los werden, daß bei der Geburt des Erben irgend eine Täuschung stattgefunden haben müsse. Aber so lange Sie dafür weiter nichts beibringen können, als Ihre eigene Ueberzeugung, hilft Ihnen das gar nichts. Beweise müssen wir haben, kalte, trockene Beweise, keine hitzköpfigen Verdächtigungen, sonst will ich wenigstens mit der ganzen Sache nichts zu thun haben.«

Der Major hatte, beide geballte Hände auf der Lehne seines Stuhles liegend, still und verbissen zugehört, und Witte in der That Recht, denn der Major war eben jener, damals junge und etwas lockere Officier von Halsen, der, im Falle der Baron von Wendelsheim ohne männlichen Erben blieb, fünfzigtausend Thaler von der Erbschaft auf seinen Antheil bekommen haben würde, wobei sich natürlich denken ließ, daß er, mit einem solchen einmal gefaßten Verdacht, Alles aufbieten werde, um sein Ziel zu erreichen. Er war auch in der That die langen, dazwischen liegenden Jahre nicht müßig gewesen und bald auf dieser, bald auf jener Fährte laut geworden, aber immer ohne Resultat, bis er es endlich aufgab. Nur das Heranrücken des entscheidenden Zeitpunktes, der vierundzwanzigste Geburtstag des jungen Erben, rüttelte ihn noch einmal aus seiner Lethargie auf, einen letzten, verzweifelten Versuch zu machen, um dem alten Baron, den er ärger als die Sünde haßte, den fetten Bissen vor dem Munde wegzuschnappen.

»Beweise, Beweise,« knurrte er vor sich hin; »wenn ich nur das verdammte Wort gar nicht mehr hören müßte. Aber Sie sollen auch Beweise haben, und deshalb gerade ließ ich Sie heute zu mir rufen.«

»Da wär' ich begierig,« sagte Witte.

»Wir haben,« berichtete der Major, »vor etwa sechs Monaten ein Hausmädchen angenommen, mit dem wir die ganze Zeit sehr zufrieden waren. Sie that ruhig und unverdrossen ihre Arbeit, und wir bekümmern uns auch gar nicht darum, wo sie früher in Dienst gestanden. Heute Morgen nun wischt sie im Zimmer ab, und da mich die Langeweile plagte . . .«

»Aber das brauch' ich ja Alles nicht zu wissen!«

»Lassen Sie mich doch nur ausreden – knüpfe ich also ein Gespräch mit ihr an und erfahre dabei, daß sie, bald nach der Vermählung des Freiherrn von Wendelsheim, als Kammermädchen in Diensten der gnädigen Frau gestanden und drei Jahre bei ihr gewesen sei, also auch in der Zeit ihrer ersten Niederkunft . . .«

»Hm, und weiter?«

»Nachher wurde sie schlecht behandelt – sie behauptet, die gnädige Frau wäre eifersüchtig auf sie gewesen und habe sie plötzlich fortgeschickt. Es muß jedenfalls etwas vorgefallen sein, denn sie spricht nur in den bittersten Ausdrücken von allen Beiden und behauptet dabei, in jener Nacht sei nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen.«

»Aber ich will gar nicht wissen, was sie behauptet. Welche Beweise bringt sie dafür? Das Geschwätz haben wir schon seit vierundzwanzig Jahren gehabt, und es konnte nachher doch Niemand auftreten und sagen: ich weiß etwas; es hieß nur immer: ich vermuthe.«

»Ich fragte natürlich weiter,« fuhr der Major fort, »und sie erzählte, daß an dem nämlichen Abend mit der Hebamme Heßberger ein Mann, der etwas unter dem Arm getragen habe, nicht vorn herein, sondern durch den Park gekommen sei und sich dort aufgehalten habe; ja, der Gärtner wollte sogar gehört haben, daß es ein kleines Kind gewesen sei, denn es hätte geschrieen.«

»Und kann er das beschwören?« fragte Witte. »Und wenn er es selbst beschwören könnte, was hülfe es? Aber weiter! Was sonst noch?«

»Da lief plötzlich der Ruf durch's Schloß, die gnädige Frau habe einen Knaben bekommen; der Freiherr kam selber heraus auf die Treppe und schrie es den Leuten jubelnd zu, und dann wurde Hurrah geschrieen, und Wendelsheim vertheilte Wein unter die Leute . . .«

»Und ist das Alles?«

»Aber die Heßberger soll selber in der Zeit auf der dunklen Treppe gewesen sein, so behauptet die Frau wenigstens.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Major,« rief der Staatsanwalt, »ich werde aus Ihrer ganzen Erzählung nicht klug, denn Sie mengen alte Geschichten und neu Erfahrenes bunt durcheinander! Wir können die Sache deshalb vereinfachen. Wo ist die Person?«

»Draußen in der Küche.«

»Rufen Sie sie herein.«

»Sie wird aber nicht in Ihrer Gegenwart reden wollen . . .«

»Und weshalb nicht? Sie braucht oder soll gar nichts weiter sagen, als was sie selber gehört und gesehen hat; ich will auch nichts weiter wissen und kann nichts Anderes gebrauchen. Lassen Sie die Person nur einmal hereinkommen.«

Der Major griff nach der neben seinem Stuhl hängenden Klingel und zog daran, und gleich darauf streckte die bezeichnete Frau den Kopf in die Thür und fragte, was sie solle.

»Kommen Sie einmal her, Frau Meier,« sagte der Major.

»Aber ich kann ja nicht, ich sehe so schrecklich aus!«

»Macht nichts,« lachte der Staatsanwalt, »wir sind alle Zwei ein Paar alte Knaben und haben unsere Herzen schon lange, der Eine verloren, der Andre eingetrocknet. Wir wollen Sie nur bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.«

»Fragen beantworten?« wiederholte die Frau mißtrauisch, indem sie, in's Zimmer tretend, sich noch die Hände an ihrer Schürze abtrocknete.

»Sie haben früher bei der Frau Baronin Wendelsheim im Dienst gestanden, wie?«

»Ja,« nickte die Frau; »das hab' ich ja schon dem Herrn Major erzählt.«

»Schön. Sie waren also auch dort, wie der erste Knabe geboren wurde, wie?«

»War ich auch. Aber weshalb?«

»Liebe Frau,« sagte der Staatsanwalt ruhig, »es handelt sich hier nur darum, von Ihnen die Bestätigung oder Nichtbestätigung eines altgefaßten Verdachts zu bekommen. Sie selber haben natürlich gar nichts damit zu thun, und es ist nur die Frage, ob Sie vielleicht irgend ein Interesse dabei hatten, etwas zu verschweigen, was mit jener Sache in Verbindung steht.«

»Ich?« sagte die Frau halb beleidigt, »was sollte ich für ein Interesse dabei haben? Ich bin mir nichts Schlechtes bewußt und kann jedem Menschen frei und offen in die Augen sehen.«

»Wollen Sie mir also das genau erzählen, was Sie heute Morgen dem Herrn Major erzählt haben?«

Die Frau zögerte. »Was geht's mich an?« sagte sie endlich. »Was Einen nicht juckt, soll man nicht kratzen. Ich will mit der ganzen Gesellschaft nichts weiter zu thun haben.«

»Das sollen Sie auch nicht, liebe Frau,« sagte der Staatsanwalt ruhig; »aber wissen Sie, wer ein geschehenes Unrecht verheimlicht, nimmt selber Theil daran, er mag sonst noch so unschuldig sein.

»Aber ich weiß von keinem Unrecht,« sagte die Frau; »ich habe nur erzählt, was ich an dem Abend gesehen, und – hätte auch vielleicht mein Maul besser gehalten. Ueber die Geschichte ist Gras gewachsen, und Todte können doch nicht wieder lebendig werden.«

»Todte?« fragte der Staatsanwalt, indem er sie scharf dabei ansah.

»Nun, ich weiß nicht, wie's damals gewesen ist,« sagte die Frau, vielleicht selber unwillig darüber, daß sie schon so viel gesprochen. »Dem Herrn Major hab' ich's aber einmal erzählt, und wenn Sie's auch wissen wollen, weshalb fragen Sie nicht den darum?«

»Da haben Sie Recht,« lenkte der Staatsanwalt ein, »und die Hauptsache weiß ich ja nun doch; es war mir nur nicht glaublich, daß der Freiherr selber in der Nacht sein Kind hätte forttragen können.«

»Das hab' ich auch nicht gesagt, Herr Major,« rief die Frau rasch, »keine Silbe davon! Wie das Kind aber geboren war, ließ die Heßberger damals die Wartefrau, eine Verwandte von ihr, mit der sie dicke durchsteckte, oben allein bei der Wöchnerin und der ›Tante‹ und ging in den Hof hinunter, so viel ist sicher, denn das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Sie trug auch etwas unter dem Mantel und kam ebenso zurück, und wir Alle haben viel darüber gesprochen, denn so eine Frau gehört in der Zeit in das Wochenzimmer und nicht in den Hof. Die Leute im Hause meinten auch damals, es sei gar kein Knabe gewesen, sondern ein Mädchen, und der Herr Baron hätten es nur so verkündet; aber nachher stellte es sich doch heraus, daß es ein prächtiger Junge war, der ja auch gut gediehen und groß und stark geworden ist. Das wär' Alles, was ich darüber sagen könnte.«

»Und wer war der Mann, der damals mit jener Frau in den Park kam?«

»Und woher sollt' ich das wissen?« sagte die Frau. »Ich habe ihn gar nicht einmal gesehen, und das Volk im Hause, oder vielmehr der Gärtner, meinte freilich, es wäre der Schuster Heßberger gewesen; aber wer kann's sagen! Dunkel war's ebenfalls und regnete die ganze Nacht hindurch, und nachher kümmerte sich auch weiter Niemand um ihn, denn in dem Regenguß mochte natürlich Keiner mehr in den Park gehen, da noch dazu unten in der Gesindestube eine Flasche Wein neben der andern stand.«

»Das ist erklärlich,« nickte der Staatsanwalt leise vor sich hin, »und kommt auch wohl eigentlich nichts darauf an; aber Sie meinten vorher, Frau Meier, daß Todte nicht wieder lebendig werden könnten. Was wollten Sie eigentlich damit sagen?«

»Von Todten habe ich nichts gesprochen,« sagte die Frau zurückhaltend.

»Doch, Frau Meier,« nickte der Staatsanwalt; »aber es ist zu leicht denkbar, daß in einer so aufgeregten Zeit Manches von den Leuten nur so obenhin gesprochen und vermuthet wird, ohne daß irgend ein fester Beweis dafür zu Grunde liegt. Wahrscheinlich bezieht sich das, was Sie sagten, auch nur auf derartige Vermuthungen. Erinnern Sie sich vielleicht noch einiger der damals gehenden Gerüchte? Lieber Gott,« setzte er hinzu, als er sah, daß die Frau noch unschlüssig schwieg, »es ist seitdem eine lange Zeit vergangen und viel Wasser den Berg hinabgelaufen; es wäre kein Wunder, wenn Sie es vergessen hätten, und kommt auch eigentlich nichts darauf an, aber einen Grund müssen die Leute doch damals für ihre Behauptung gehabt haben.«

»Für welche denn?« sagte die Frau, die dem Gedankengang nicht folgen konnte.

»Nun dafür,« meinte Witte ruhig, »daß sie glaubten, der Mann, der das Kind umgetauscht, habe das ihm überlieferte, also wahrscheinlich ein Mädchen, umgebracht.«

Die Frau sah ihn bestürzt an. Hatte sie denn das selber schon gesagt, oder war das dem Manne mit der hohen, kahlen Stirn und den weißen Haaren selber so vorgekommen?

»Ich weiß es nicht,« sagte sie endlich, durch das viele Fragen ganz verwirrt gemacht, »die Leute reden viel. Gesprochen wurde allerdings davon, die damalige Wirthschafterin hatte ein böses Mundwerk und sagte immer mehr, als sie verantworten konnte.«

»Und die meinte es auch?«

»Ganz ähnlich so wenigstens,« nickte die Frau; »aber ich habe von Anfang an dagegen gesprochen und glaub's auch nicht bis auf den heutigen Tag, denn dazu kann eine Mutter nicht ihr Kind hergeben und ein anderes annehmen und so lieb haben, wie die gnädige Frau den Jungen gehabt hat. Sie küßte ihn nur immer in einem fort und ließ ihn gar nicht aus den Augen, so lange sie ihn nur eben hüten konnte, und der Baron selber wußte nicht vor lauter Freude, was er angeben sollte. Der freilich hätte sich auch nichts Besseres wünschen können; denn daß er mit dem Knaben eine große Erbschaft machte, war ja schon damals überall bekannt.«

Die Frau war in Zug gekommen, und Witte hütete sich wohl, sie darin zu stören. Nur erst als sie schwieg, sagte er, aber auch mehr zum Major gewandt, als zu ihr:

»Ganz richtig ist die Sache keineswegs gewesen, davon bin ich ebenfalls überzeugt; aber die Frau Meier hat ganz Recht: es ist Gras darüber gewachsen und Alles, was sie uns da erzählt hat, weiter nichts, als was sich ein paar Monate nach der Entbindung eben die ganze Stadt heimlich erzählte, ohne irgend etwas beweisen zu können. Nur noch Eins, Frau Meier. Sie erwähnten vorhin einer Wartefrau, die allein bei dem Kinde geblieben, als die Frau Heßberger fortging. Lebt die noch und wo ist sie?«

»Ja, Du lieber Gott,« sagte die Frau, »wer weiß das! Eine Zeit lang war sie noch in der Gegend, nachher ging sie fort und, wie es allgemein hieß, nach Amerika, und später soll sie sogar dort gestorben sein; die Heßberger erzählte es wenigstens so in der Stadt. Sie hatte einen Vetter in Amerika, und von dem wollte sie einen Brief erhalten haben.«

»Genau so, wie ich mir dachte,« nickte der Staatsanwalt. »Alles, was irgend eine positive Aussage machen könnte, fehlt, und was uns bleibt, sind nichts als wilde Gerüchte und Vermuthungen; denn daß die Frau Heßberger selber irgend welche Auskunft geben würde, ist doch wohl nicht denkbar.«

»Die?« rief die Frau Meier. »Die schlechte Person, die – eher bisse die sich die Zunge ab, ehe sie aus der Schule schwatzte! Und die weiß auch wohl, warum, denn umsonst trägt sie nicht an Sonn- und Feiertagen seidene Kleider und ächte Spitzen daran und einen Hut mit großen Federn auf, damit sie ja nicht so aussieht wie Unsereins! Die ist mit allen Hunden gehetzt, und ihr Mann auch, der alte Heuchler . . .«

»Na, Frau Meier,« sagte der Major, der wohl einsah, daß sie jetzt Alles erzählt hatte, was sie wußte, »dann gehen Sie nur wieder an Ihre Arbeit« – und als die Frau sich zurückzog, rief er triumphirend den Staatsanwalt an: »Na, was sagen Sie nun? Sind das keine Beweise?« – Er schien auch seinen sonst so trostlosen Krankheitszustand rein vergessen zu haben, denn während der ganzen Zeit hatte er nicht ein einziges Mal geächzt oder gestöhnt, sondern mit der gespanntesten Aufmerksamkeit den Worten der Frau gelauscht.

Der Staatsanwalt war aufgestanden und ein paar Mal im Zimmer auf- und abgegangen. Jetzt sagte er kopfsschüttelnd: »Beweise? Nicht die blasse Spur. Dem alten Freiherrn traute ich allerdings eine solche Handlung schon zu, und schlimmere Dinge sind wirklich vorgefallen; aber die Frau hat auf der Gotteswelt nichts weiter gethan, als die alten Gerüchte, die damals Jahre lang wiedergekaut wurden, bestätigt. Neues ist nichts daran, als daß die Wartefrau in dem Wochenzimmer, während die Heßberger hinausging, allein zurückgeblieben, und hätten wir die Frau hier und könnten sie zum Reden bringen, so möchten wir allerdings Genaueres erfahren. Wenn sie aber todt oder nur nach Amerika ausgewandert ist, so hilft uns das Alles nichts und wir sind so klug wie vorher.«

»Wenn aber nun jener Mensch das kleine, neugeborene Mädchen wirklich umgebracht hätte?«

»So wäre das allerdings ein scheußliches Verbrechen,« sagte der Staatsanwalt, »ist aber gar nicht denkbar, denn irgendwo hätte dann in damaliger Zeit ein Kind gefehlt, und man würde davon gesprochen und es in jener Aufregung und dem allgemeinen Verdacht gegen den Baron gewiß mit dieser Sache in Verbindung gebracht haben. Nein; hat jene alte Frau Heßberger wirklich zu einem Verbrechen oder einer Betrügerei die Hand geboten, so ist das Alles so schlau und geschickt angefangen, daß nicht einmal auf frischer That ein Beweis geführt werden konnte, wie viel weniger denn jetzt, nach beinahe vierundzwanzig Jahren.«

»Und dann erbt also in den nächsten Wochen der Lieutenant das ganze riesige Vermögen, und wir Anderen sind geleimt.«

»Allerdings, wenn er an dem Tage noch lebt, und gesund und kräftig genug sieht er dazu aus. Jetzt bitte ich Sie aber, Major, daß Sie mich mit der Sache ungeschoren lassen, denn Sie haben mich schon drei- oder viermal darin vergebens auf den Trab gebracht.«

»Aber es ist doch Sache des Staates, einem solchen Verbrechen nachzuforschen!« rief der Major gereizt.

»Ja wohl,« sagte Witte, »wenn wir selber die Möglichkeit einer Beweisführung einsehen oder irgend ein gegründeter Verdacht vorliegt, gewiß; doch auf altes Weibergeklatsch, auf Hörensagen und blinde Gerüchte hin, nachdem beinahe ein Menschenalter verflossen ist, trete ich nicht mit einer solchen Klage vor die Gerichte. Also gute Besserung, Major!« Und mit diesen Worten griff er wieder Hut und Stock auf und verließ das Haus.



 << zurück weiter >>