Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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9.

Am andern Morgen.

Am nächsten Morgen fand sich der Staatsanwalt zu seinem Leidwesen viel früher geweckt, als ihm lieb war; denn die Nachwehen des gestern Abend erduldeten Festes mußten jetzt erst in allen Stadien durchgekostet werden – und es wurde ihm nichts geschenkt oder erspart.

Hauptursache des so frühen Alarmirens war natürlich die Nothwendigkeit, das Logis wieder in Ordnung zu bringen, ehe der übliche Besuch an dem Morgen kam, und wenn der müde Hausvater auch meinte: »Der Besuch solle zum Teufel gehen,« so wußte seine Frau doch besser, was sich schicke, und handelte darnach. Dienstleute waren deshalb auch schon auf sieben Uhr früh bestellt worden, um die verschiedenen ausgestreuten Möbel wieder an ihre alten Plätze zu schaffen; zu gleicher Zeit mußten die sämmtlichen Stuben natürlich – ohne Ausnahme – naß aufgewischt und wo nöthig gescheuert werden, zu welchem Zwecke eine Anzahl von alten Weibern schon seit sechs Uhr früh, mit aufgestreiften Aermeln und sackleinene, nasse Schürzen vor, auf den Knieen herumrutschten und dabei die Familienverhältnisse ihrer Bekanntschaft besprachen.

Das aber verstand sich, als unausbleibliche Folge eines solchen Genusses, von selbst, und der Staatsanwalt hatte es voraus gewußt, ja es sogar als Schreckbild – freilich vergeblich – seiner Ehehälfte schon früher vorgehalten und gewissermaßen prophezeit. Was er aber nicht gewußt hatte, das waren die »unvorhergesehenen Fälle«, die bei derartigen Gelegenheiten nie ausbleiben und dann im Stande sind, den sonst ruhigsten Menschen zur Verzweiflung zu treiben.

Vier silberne Löffel fehlten und der schwere Deckel der silbernen Zuckerdose mit einem massiven Engel darauf, der ein flammendes Herz in der Hand hielt. Außerdem war ein Stück aus einer der guten Porzellanschüsseln, mit blau und goldenen Streifen, ausgebrochen, drei englische Gläser lagen ohne Fuß auf dem Küchentische und die Fruchtschale von Krystall – ein Leibstück der Frau Staatsanwalt, denn sie hatte es erst zur Feier ihres Hochzeitstages im vorigen Jahr bekommen – war rettungslos geborsten und konnte jeden Augenblick auseinander gehen.

Außerdem fehlten sechs Flaschen Wein; sie hatte sie selber herausgegeben, gezählt, und wenn sie getrunken worden wären, wie das freche Geschöpf, die Köchin, behauptete, so hätten doch wenigstens die leeren Flaschen oder selbst deren Scherben da sein müssen. Aber Gott bewahre – keine Spur davon, und sie wußte wohl, wer sie fortgetragen, denn umsonst war sie nicht schon ein paar Mal im Dunkeln unten im Hausflur an einen langen Soldaten angestoßen, den sein Hauptmann doch sicher nicht dahin auf Posten gestellt hatte.

Und was nun außerdem von eßbaren Dingen fortgeschleppt worden, wollte sie gar nicht einmal rathen, denn das heilige Abendmahl konnte sie darauf nehmen, daß die Nußtorte zum Beispiel noch zur großen Hälfte vom Tisch abgetragen sei und jetzt lagen nur noch zwei dünne Stücke auf dem Porzellanteller – und selbst auf denen fehlte das Eingemachte oben.

Aber das Alles verschwand trotzdem in dem einen Gefühl der Entrüstung über den Silberdieb und der gänzlichen Rathlosigkeit, wie man desselben habhaft werden sollte – denn wer unter all' den fremden Dienstleuten war es gewesen?

Mit dieser Nachricht wurde der Staatsanwalt auch geweckt. Er lag noch und schlummerte sanft, trotzdem daß die Nebenstube schon unter Wasser gesetzt war und die Thür eben abgescheuert wurde. Sein Morgengruß lautete:

»Weißt Du's schon, Dietrich? – vier silberne Eßlöffel und den Deckel zu der Zuckerdose, mit dem Amor, haben sie uns gestohlen, und die große gute Schüssel ist zerbrochen und die Krystallvase sowie vier englische Gläser, und die Teller habe ich noch nicht einmal gezählt; die Maiweinbowle klingt mir ebenfalls verdächtig, wenn die nur nicht auch 'was gekriegt hat!«

»Gott sei mir gnädig,« sagte der Staatsanwalt, indem er sich, noch schlaftrunken, im Bett emporrichtete, »der Tag fängt gut an! Aber – scheuern sie denn hier die Schlafstube?«

»Nein, das ist nebenan. Denke Dir nur . . .«

»Ich will Dir etwas sagen, Therese,« unterbrach sie der Staatsanwalt, indem er nach der über seinem Bett hängenden Uhr sah und dazu mit dem Kopf schüttelte, »wenn Du mir nicht den ganzen Morgen verderben willst, so sei so gut und laß mich vorher aufstehen und besorge mir eine Tasse Kaffee; nachher wollen wir dann in Ruhe . . .«

»Ja, Kaffee,« sagte die Frau; »wir haben noch gar kein Feuer in der Küche – das sieht ja Alles aus wie Sodom und Gomorrha, und muß doch erst gereinigt und aufgewaschen werden; aber vier silberne Eßlöffel fehlen, noch dazu von den schwersten, und der Deckel von der Zuckerdose ist ebenfalls fort. Wenn da die Polizei nicht einschreitet, wozu ist sie denn da?«

Der Staatsanwalt erwiderte kein Wort; er seufzte nur aus tiefster Brust und streckte das eine Bein aus dem Bett, wonach seine Frau ihm denn wenigstens gestattete, sich unbelästigt ankleiden zu können. Durch die Thür rief sie ihm aber noch zu:

»Zieh Dir nur auch gleich die Stiefel an, Dietrich; Du mußt unverweilt auf die Polizei und die Anzeige machen – so 'was ist ja noch gar nicht erlebt worden!«

»Das ist recht,« murmelte der Staatsanwalt vor sich hin, indem er seine verschiedenen Leiden, aber mit einer gewissen Resignation, aufsummirte: »Morgens vor Tag aufstehen, Stuben scheuern, keinen Kaffee, Silber gestohlen, Geschirr zerbrochen, Waschtisch mit Nähtischen verbarrikadirt, Stiefel anziehen und auf die Polizei laufen – na, an das Vergnügen will ich denken!«

Der Ausgang auf die Polizei diente übrigens doch als Rettung aus diesem Heidenwirrwarr der eigenen Wirthschaft. Vor allen Dingen ging er, nachdem er sich angezogen, in das nächste Hotel und trank dort im Speisesaale, bei offenen Thüren und Fenstern, wobei alle Stühle auf den Tischen standen und zwei Stubenmädchen einen furchtbaren Staub mit Auskehren machten, seinen Kaffee. Dann machte er die Anzeige der gestohlenen Sachen in der festen Ueberzeugung, daß die Polizei eben so wenig über den Diebstahl herausbekommen würde, wie er selber, und nachher lief er hinaus auf die Promenade und rauchte seine Cigarre – was sollte er jetzt in seiner Wohnung thun? Dort herrschte indessen die Tätigkeit eines Bienenschwarmes, und die Frau Staatsanwalt, darin besonders tüchtig und erfahren, setzte es auch durch, sie bis elf Uhr Morgens wieder wie ein Puppenstübchen hergestellt zu haben. Es roch allerdings noch ein wenig darin nach Seife, und ein feuchter Dunst lag auf dem Ganzen; aber es war doch Alles wieder rein und stand auf seiner Stelle – die Studirstube ihres Mannes ausgenommen. Aber die hatte noch Zeit, da ja dort Niemand hineinkam, als er selber. Die Schreiber nebenan saßen indessen schon wieder auf ihren Drehstühlen und copirten und excerpirten nach Herzenslust.

So war es zwölf Uhr geworden und richtig schon hier und da ein Besuch gekommen, der sich erkundigte, wie man geschlafen hatte und ob der gestrige Ball gut bekommen wäre. Bei den Meisten war dies nur eine leere Höflichkeitsform, aber es füllte doch die Zeit aus, und das ist bei vielen Menschen schon von großem Werth. Die Unterhaltung der Frau Staatsanwalt drehte sich jedoch an diesem Morgen so ausschließlich um das Thema der Schlechtigkeit der jetzigen Menschen im Allgemeinen und silberne Löffel und Zuckerbüchsendeckel insbesondere, daß Ottilie, der die ewige Wiederholung langweilig zu werden anfing, die jüngeren Damenbesuche in ihr eigenes Zimmer nahm – nur die Herren wurden bei Mama empfangen.

Gegen ein Uhr trat eine kleine Pause ein; die Frau Professor Nestewitz war allein noch da und zeigte, da sie selber in der vorigen Woche den Verlust dreier Theelöffel zu beklagen gehabt, ein so warmes Interesse an der Sache und so tiefe Entrüstung, daß die Frau Staatsanwalt sie, als sie Abschied nahm, bis an die Treppe begleitete und dort die Angelegenheit noch einmal von vorn und gründlich durchnahm.

Ottilie war allein im Zimmer, als sie hörte, wie das Mädchen einen neuen Besuch brachte. Es war ein männlicher Schritt, und ihr Herz klopfte ein wenig – Lieutenant von Wendelsheim hatte auch gar zu lange auf sich warten lassen; als sie sich aber der Thür zuwandte, erschien nicht der Erwartete, sondern Fritz Baumann auf der Schwelle, und zwar hielt er das Thermometer in der Hand, das er schon vor einiger Zeit zur Reparatur erhalten. Uebrigens konnte es ihr nicht entgehen, daß er heute anders aussah als gewöhnlich, denn er war nicht in seinen Arbeitskleidern, sondern in einem dunkeln, saubern Anzug, der ihm vortrefflich stand.

Fritz Baumann war überhaupt ein ganz hübscher Bursche – oder Bursche konnte man eigentlich kaum mehr sagen, denn er mußte die Zwanzig schon lange überschritten haben. Sein gutmüthiges, offenes Gesicht mit den klugen dunkeln Augen nahm auf den ersten Blick für ihn ein, und der kleine Schnurrbart, den er trug, gab ihm dabei etwas Männliches. Auch seine Gestalt war schlank und edel, und er bewegte sich damit frei und ungezwungen – wenigstens wenn er draußen und unter seines Gleichen war. Jetzt dagegen schien er etwas befangen, und es war fast, als ob er ganz vergessen habe, daß er eine gefertigte Arbeit trug und abgeben wolle, denn er fand nicht gleich ein Wort zur Einführung. Ottilie half ihm darüber hin.

»Ah, Herr Baumann,« sagte sie freundlich, »Sie bringen mir das Thermometer wieder; das ist mir sehr lieb, denn – Vater hat schon ein paar Mal danach gefragt.«

»Ja, mein Fräulein,« sagte der junge Mann, der dadurch wieder Luft bekam, indem er ihr den Gegenstand reichte; »es war gestern schon fertig, da ich aber hörte, daß Sie Gesellschaft hätten, wollte ich nicht stören.«

»Und Sie bemühen sich dabei immer selber.«

»Und soll ich das nicht?« sagte Fritz herzlich. »Wie selten wird mir überhaupt Gelegenheit geboten, Sie zu sehen, und ich möchte doch so gern, daß Sie nicht vergäßen, wie wir als Kinder mit einander gespielt haben und immer ungeduldig wurden, wenn Einer auf dem Platze fehlte!«

Ottilie war blutroth geworden und stand verlegen, das Thermometer noch immer in der Hand haltend – es zeigte schon auf 30 Grad Réaumur – vor dem jungen Manne. Wohl erinnerte auch sie sich der Zeit – lieber Gott, sie lag ja noch nicht einmal so übermäßig fern – und sie wußte auch recht gut, daß gerade Fritz immer ihr liebster Spielgefährte gewesen und sich ihrer immer am treuesten und mannhaftesten angenommen hatte, wenn irgend Jemand ihr zu nahe treten wollte. Aber ihr Vater hatte damals – sich erst aus ziemlich ärmlichen Verhältnissen emporarbeitend – noch kein so großes Haus gemacht. Die Nachbarskinder standen ihr näher; jetzt war sie in andere Kreise eingeführt und schon seit Jahren nicht mehr mit ihnen, außer einem flüchtigen Gruß, zusammengetroffen. Eigentlich gehörte es sich auch nicht, daß sie der junge Handwerker jetzt daran erinnerte, denn er mußte dies ja ebenfalls wissen, und die Spielzeit ihrer Kinderjahre lag doch längst hinter Beiden.

Auch Baumann fand nicht gleich ein Wort wieder, und zwar weniger aus Verlegenheit, als weil ihn die Erinnerung zu jenen fröhlichen, glücklichen Stunden zurückführte, und er im Geist noch das kleine hübsche Mädchen mit dem flatternden Lockenkopf und den vor Lust gerötheten Wangen jetzt in der aufgeblühten Jungfrau wiedersah.

»Damals war es doch eine herrliche Zeit,« fuhr er endlich leise fort, »und das einzige Böse nur bei der Sache, daß Kinder eigentlich nie wissen, wie glücklich sie sind; sie könnten es freilich sonst auch gar nicht ertragen.«

»Ja, das ist allerdings schon eine lange Zeit her,« sagte Ottilie, die doch wohl fühlte, daß sie darauf etwas erwidern müsse; »ich glaube, ich war damals ein recht wildes Mädchen.«

»Ich sehe Sie noch vor mir,« nickte Baumann, »als Sie an jenem Morgen, wie der Strom die ganzen Wiesen und Felder überschwemmt hatte, in den Kahn gestiegen waren und, als dieser losriß, draußen auf dem Wasser mit der Strömung forttrieben.«

»Und Sie sprangen damals hinein, um mich an Land zu bringen.«

»Gefahr war nicht dabei,« sagte Fritz Baumann und schüttelte mit dem Kopf, »denn Sie hätten doch an den Damm antreiben müssen; aber ich freue mich noch darüber, daß Sie damals gar nicht weinten oder um Hülfe riefen, sondern nur ruhig und trotzig im Boot standen.«

»Es war so ungezogen . . .«

»Wir sind Beide älter geworden,« setzte der junge Mann nach einer Weile hinzu – »unsere Wege liefen auseinander, und wir verbrachten unsere Zeit getrennt. Sie zogen in ein großes, schönes Haus und wuchsen zur Freude Ihrer Eltern heran; ich selber mußte etwas Tüchtiges lernen, um mir einmal mein Brod zu verdienen und einen Hausstand zu gründen. Ich weiß nicht, Fräulein Ottilie, ob es Sie vielleicht interessirt zu erfahren, daß ich jetzt meinen Zweck erreicht. Mein Meisterstück habe ich schon vor einem halben Jahre gemacht und eingeliefert. Es ist nicht allein sehr günstig aufgenommen worden, sondern ich schickte es auch auf die Londoner Ausstellung und bekam dafür die goldene Medaille. Ich bin jetzt im Begriff Meister zu werden, und will mich in der Stadt hier, da ein einziger Mechanikus wirklich nicht mehr all' die einkommende Arbeit bewältigen kann, in nächster Zeit etabliren.«

Ottilie schwieg und horchte nach der Thür; es war ihr, als ob sie draußen wieder fremde Stimmen gehört hätte – Lieutenant von Wendelsheim war viel zu aufmerksam, als daß er den schuldigen Morgenbesuch hätte versäumen sollen – wenn ihn wirklich sonst nichts hierher trieb, als eben nur die kalte Artigkeit.

»Das freut mich in der That,« sagte sie und erglühte dabei wie eine Rose, denn draußen unterschied sich jetzt deutlich die Stimme des Erwarteten, der sich noch mit ihrer Mutter auf dem Vorsaal unterhielt.

»Wie gut Sie sind, Fräulein,« sagte Fritz, der das augenscheinliche Erröthen einer ganz andern Ursache zuschrieb, »noch immer wie früher. Ich bin auch nicht mittellos; meine Mutter hat von einer Erbschaft, die sie früher gemacht . . .«

Die Stimmen draußen waren dicht vor der Thür.

»Sie entschuldigen mich gewiß heute,« sagte Ottilie, »wir werden so mit Besuchen gedrängt . . .«

»Ja, ich glaube, es kommt sogar in diesem Augenblick Besuch,« sagte Fritz, jetzt selber aufhorchend – in seiner Erregung hatte er gar nicht darauf gehört – »ich darf Sie dem nicht entziehen. Vielleicht findet sich später einmal eine passendere Zeit . . .«

»Gewiß, gewiß – es wird mich immer freuen . . .«

Die Thür wurde aufgemacht, aber es kam noch Niemand herein, denn die Mutter wollte den Herrn Lieutenant in's Zimmer nöthigen, während er darauf bestand, der Dame den Vortritt zu lassen.

Fritz Baumann sah, daß eine weitere Unterhaltung jetzt zu den Unmöglichkeiten gehöre, und machte Ottilien nur eine stumme Verbeugung; aber er traf ihr Auge nicht mehr, das an der Thür haftete, und verließ, Frau Staatsanwalt Witte ebenfalls achtungsvoll grüßend, das Zimmer, um nach Hause zurückzukehren. Er sah auch noch, daß der Besuch der Lieutenant von Wendelsheim war; aber lieber Gott, das gehörte einmal zu den Lasten des höheren Lebens, daß man es sich erst mit großen Gesellschaften schwer machte und dann auch noch die Bürde langweiliger Höflichkeitsbesuche trug. – Wenn er nur hätte ahnen können, wie ›lästig‹ Ottilien gerade dieser Besuch war!

Wendelsheim hatte indessen, ohne den Fremden weiter zu beachten, während ihm jedoch die Frau Staatsanwalt erstaunt nachsah, das Zimmer betreten; er ging ohne Weiteres auf Ottilie zu, nahm ihre Hand, führte sie an seine Lippen und sagte – er war in diesem Augenblick wieder ganz Lieutenant: »Mein gnädiges Fräulein, ich schätze mich glücklich, Sie heute Morgen so frisch und blühend begrüßen zu können – brauche also gar nicht zu fragen, wie Ihnen die gestrige Anstrengung bekommen ist – wie ich zu meiner Freude sehe, vortrefflich!«

»Sie sind sehr gütig, Herr Baron,« sagte die Mutter, während das junge Mädchen wie mit Purpur übergossen vor ihm stand. »Aber wer war denn der junge Herr eben, Ottilie? Den kannte ich ja gar nicht.«

»Der junge Baumann,« sagte die Tochter, »der das Thermometer hier gebracht hat« – es zeigte jetzt fast Siedehitze – »er wollte es selber abgeben, damit es nicht wieder zerbrochen würde.«

»Das war der Fritz Baumann?« rief die Mutter aus. »Herr Du meine Güte, und er sah so anständig aus, ich habe ihm eine ordentliche Verbeugung gemacht – ich kannte ihn gar nicht!«

»Er ist selbständig geworden – aber Ihnen ist der Ball ebenfalls gut bekommen, Herr Baron?«

»Ausgezeichnet, mein gnädiges Fräulein; ich habe vortrefflich geschlafen, aber die ganze Nacht von weiter nichts geträumt, als mißglückten Touren und allen möglichen Fatalitäten.«

»Ob Einem das aber nicht immer so geht,« sagte die Mutter; »ich habe geträumt – aber wollen der Herr Baron sich denn nicht niederlassen, Sie nehmen uns ja sonst die Ruhe mit – ich habe geträumt, das Mädchen hätte den Rehrücken in die Kohlen fallen lassen und die Eistorten wären ganz auseinander geschmolzen gewesen. Aber wissen Sie schon, daß uns gestern so viel Silberzeug gestohlen worden ist?«

»In der That, gnädige Frau? Das bedauere ich ja unendlich!«

»Ja, denken Sie nur, wie ich die Löffel heute Morgen nachzähle – gestern Abend war ich so müde, daß ich die Augen nicht mehr aufhalten konnte . . .«

»Aber, liebe Mutter, das interessirt ja doch den Herrn Lieutenant nicht!«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein, gewiß . . .«

»Siehst Du wohl, Kind – das wußte ich auch vorher. Wie ich also die Löffel heute Morgen nachzähle, fehlen richtig gerade vier von den allerschwersten und der Deckel von der silbernen Zuckerdose, mit einem Amor, massiv in Silber, oben drauf.«

»Aber wie ist das möglich?«

»Ja, das sage nun ein Mensch – bei dem Staatsanwalt – und dabei haben wir Polizei im Ort, und reitende Gensdarmen, und einen Stadtrath und Stadtverordnete! Aber ich will keinen Kopf wieder ruhig auf ein Kissen legen, bis ich die Räuberbande herausgefunden habe und die Kerle am Galgen sehe, denn den haben sie im reichsten Maße verdient! Der Deckel ärgert mich nur, und gleich vom ganzen Service weg; aber was macht sich so ein schlechter Mensch daraus, wenn er Einem ein Service verdirbt – die lachen noch darüber!«

»Ich will nur hoffen, daß Sie die Gegenstände wiederbekommen!«

»Ja, es wäre wirklich zu wünschen – und das waren noch nicht einmal die ersten; schon in voriger Woche sind uns einzelne Löffel abhanden gekommen. Es muß auch ein Hausdieb sein, das lasse ich mir gar nicht ausreden; denn ein anderer Mensch hätte die Frechheit nicht, blos hierher zu kommen, um Löffel zu stehlen und Deckel von Zuckerdosen.«

Die Frau konnte das unselige Silberzeug nicht aus dem Kopf bekommen. So oft auch Ottilie versuchte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, es blieb vergebens, während der Lieutenant zu viel Tact besaß, um nicht Alles über sich ergehen zu lassen. Es war eben ja Besuch, der bekanntermaßen nicht unter die Vergnügungen gerechnet werden darf.

Endlich kam ein Blitzableiter – die Frau Appellationsgerichtsräthin Nebeldamm, die denn allerdings die nämliche Sache noch einmal erfuhr, nothgedrungen aber auch die Zuckerdose, auf welche der fehlende Deckel gehörte, von Angesicht zu Angesicht sehen mußte.

Die Frau Staatsanwalt führte sie hinüber; sie hätte gern den Lieutenant ebenfalls gebeten, mitzugehen – er würde bei der Gelegenheit auch gleich ihr Silberzeug beisammen gesehen haben. Aber der Schrank sah leider noch ein wenig zu unordentlich aus; die Zeit heute Morgen war ja so kurz und sie selber nicht im Stande gewesen, Alles wieder in der gehörigen Ordnung wegzuräumen.

»Es war so wunderhübsch gestern Abend,« sagte Ottilie, wie sie nur erst einmal Luft bekam, auch ein Wort zu reden, »und ich habe mich so herrlich amüsirt!«

»In der That, mein gnädiges Fräulein,« erwiderte Bruno – und wieder fiel ihm die Aehnlichkeit zwischen ihr und Rebekka auf – »ich muß Ihnen auch gestehen, daß ich lange nicht so viel getanzt habe.«

»Aber zuletzt wurden Sie so still und nachdenkend; Sie müssen drei oder vier Tänze versäumt haben. Sie wurden gewiß müde?«

»Nein, das nicht – auf – wirklich nicht, aber – Sie wurden ja engagirt.«

»Aber die anderen Damen würden sich ebenfalls sehr gefreut haben, von einem so guten Tänzer engagirt zu werden,« lächelte Ottilie, und Wendelsheim wurde so verlegen, daß er nicht gleich wußte, was er erwidern sollte.

»Ihr Herr Vater ist wohl nicht zugegen?« sagte er endlich.

»Vater wird sehr bedauern, Sie heute Morgen nicht zu sehen,« fuhr Ottilie fort; »er mußte der unangenehmen Sache wegen in die Stadt und ist noch nicht zurückgekehrt. Aber was sehen Sie mich immer so sonderbar an,« lächelte sie plötzlich. »Trage ich irgend etwas Auffälliges an mir?«

»Ich? – Sie? Nein, gewiß nicht!« rief Wendelsheim. »Entschuldigen Sie, aber – Sie können es mir auch nicht verdenken,« setzte er rasch gefaßt und galant hinzu; »es ist etwas Seltenes, nach einer durchtanzten Nacht eine junge Dame wieder so morgenfrisch zu finden, und thut den Augen ordentlich wohl.«

»Ah, Sie können auch schmeicheln? Die Eigenschaft hatte ich noch nicht bei Ihnen entdeckt.«

»Schmeicheln? Nein, gewiß nicht, liebes Fräulein! Ich hasse die faden Schmeicheleien und glaube, ich darf dabei, um mit der Tochter eines Anwalts zu reden, ›nicht schuldig‹ plaidiren. Ich begreife auch wirklich manchmal nicht, wie junge Damen etwas Derartiges gern anhören mögen.«

»Wer weiß denn, ob sie es gern thun?« sagte das junge Mädchen. »Aber was will man machen? Viele junge Herren kennen gar keine andere Unterhaltung, und wenn man ihnen die abschneiden wollte, so ist es sehr die Frage, ob sie nicht gänzlich stumm würden.«

»Und wäre das ein Verlust?«

»Für sie selber jedenfalls. Aber nehmen Sie auch meine Frage nicht zu ernst; ich hatte Ihnen den Vorwurf gewiß nicht machen wollen. Doch was ich gleich sagen wollte: ich habe Sie ja heute Morgen nicht hier vorbeireiten sehen – und gestern und vorgestern auch nicht, wie mir jetzt einfällt.«

»Sie werden mich auslachen,« sagte Wendelsheim, »und mich inconsequent nennen, aber ich besitze in diesem Augenblick nur noch mein altes Pferd, das ich schonen muß, denn ich habe den Fuchs wieder verkauft.«

»Das wunderschöne Thier!«

»Ich bekam ein gutes Gebot und – er gefiel mir auch nicht besonders – er war sehr unartig und scheute gern.«

»Aber Sie reiten sonst immer die wildesten Pferde!«

»Vielleicht bin ich vorsichtiger geworden,« lächelte der Officier.

»Ach, das wäre recht zu wünschen,« sagte Ottilie mit ordentlich komischem Ernst, indem sie die Hände dabei faltete.

»Sie haben sich doch nicht etwa meinetwegen schon gesorgt, mein Fräulein?« sagte der junge Mann freundlich. »Es würde mich sehr glücklich machen, wenn ich das wüßte!«

»Ich war einmal Zeuge, wie der Rappe damals mit Ihnen durchging.«

»Ah, an jenem Tage!« nickte der Baron, und es war, als ob eine Wolke über seine Stirn flöge; »ja, das war ein böses Thier – aber,« brach er plötzlich ab, »wir unterhalten uns richtig wieder von Pferden, das Ungeschickteste, was ein Herr in Gegenwart einer Dame thun kann.«

»Ich glaube, ich habe selber davon angefangen.«

»Dann werde ich mich Ihnen dankbar zeigen und das Gespräch auf die gestrigen Toiletten bringen. Wissen Sie daß ich lange nicht so geschmackvolle Toiletten gesehen habe, wie gestern Abend?«

»Auch die der Frau Professor Nestewitz?« lächelte Ottilie.

»Die war allerdings nicht ganz geschickt gewählt,« sagte Wendelsheim achselzuckend. »Damen, die über das jugendliche ja nur über das jugendfrische Alter hinaus sind, sollten sehr vorsichtig darin sein, nicht zu modern und in zu auffallenden Farben zu gehen; aber wie oft wird doch das versäumt, und die Trägerinnen sehen dann, anstatt pompös, gewöhnlich nur komisch aus.«

»Für einen Lieutenant,« lächelte Ottilie, »entwickeln Sie ganz achtungswerthe Kenntnisse in der Toilette.«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein, von Kenntnissen kann da keine Rede sein; das Ganze ist ja überhaupt nur Gefühlssache.«

»Vielleicht haben Sie sogar Recht.«

»Möglich, aber dann ist es nur das Urtheil der Menge, das ich ausspreche. Das gerade gefällt mir auch an Ihnen, daß Sie sich immer so einfach kleiden, Fräulein; Sie glauben gar nicht, wie gut Ihnen so ein hohes, dunkles, eng anschließendes Kleid steht!«

»Soll ich Sie wieder denunciren?« drohte Ottilie schelmisch mit dem Finger.

»Nein, Fräulein Ottilie,« sagte Wendelsheim treuherzig, indem er ihr die Hand hinreichte, »wahrhaftig nicht! Ich will Ihnen gern zugeben, daß ich früher nicht besser wie mancher der Uebrigen gewesen bin und entsetzlich fades Zeug geschwatzt haben mag; aber ich glaube, ich habe mir das abgewöhnt, gebe mir wenigstens die größte Mühe, und Ihnen gegenüber am allerwenigsten würde ich mich falsch zeigen.«

»Ich glaube Ihnen ja so gern, Herr von Wendelsheim,« sagte Ottilie, indem sie der ausgestreckten Hand begegnete; »es war auch nur ein Scherz, aber Sie wissen . . .«

Das Gespräch ward hier abgeschnitten, denn die beiden älteren Damen traten wieder in das Zimmer, und die Frau Appellationsgerichtsräthin, nachdem sie erst die identische deckellose Zuckerdose selbst gesehen, war so entrüstet über den Diebstahl, daß sie kaum Worte genug dafür finden konnte. Eine andere Unterhaltung wurde zur Unmöglichkeit, und nachdem Wendelsheim noch ein paar freundliche Worte mit dem jungen Mädchen gewechselt, empfahl er sich und ließ Ottilie mit einem ganzen Herz voll Seligkeit zurück.



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