Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.

Die Bewohner von Schloß Wendelsheim.

Draußen vor Alburg, kaum eine halbe Stunde Weges von der Stadt entfernt, lag das Rittergut des Freiherrn von Wendelsheim in einem reizenden, von prachtvollen Buchen und Linden bewachsenen Thale. Das alte Stammschloß der Familie, die sogenannte Wendelsburg, stand allerdings auf dem nächsten Felsenhügel, oder hatte vielmehr dort in früheren Jahrhunderten gestanden, denn ihr Glanz war lange gesunken und nur aus leeren Fensterhöhlen starrte sie jetzt in ihren Trümmern melancholisch und unheimlich auf das freundliche Landschaftsbild zu ihren Füßen nieder.

So stand die alte Wendelsburg aber schon lange. Ein Raubritter sollte dort zuletzt gehaust und dermaßen gewirthschaftet haben, daß es der Landesherr zuletzt nicht mehr mit ansehen konnte und durfte und seine Mannen gegen das Diebesnest sandte. Die stürmten es denn auch und räumten gründlich auf. Was aus dem Herrn der Burg wurde, weiß man nicht; vielleicht fiel er in der Vertheidigung des Schlosses, vielleicht zog er mit den Kreuzfahrern in das gelobte Land. Die Burg aber ward zerstört; die einzelnen, von den Mauern niedergeschleuderten Steinbrocken lagen noch jetzt hier und da am Bergeshange in Schlucht und Ravine, und nur die leeren Mauern der Wohngebäude blieben stehen und fast ein Jahrhundert lang unbenutzt.

Endlich ließen sich wieder Abkömmlinge jenes alten Geschlechts, die sich mit den Reichsfürsten ausgesöhnt haben mochten, dort nieder; aber nicht in der alten Burg selber, die ihnen doch wohl zu steil und unbequem liegen mochte. Auf dem schmalen Felsenkamm hätte auch nicht einmal ein Garten Platz gefunden, während das Thal selber wie gemacht zu einer herrschaftlichen Wohnung schien. Dort bauten sich denn auch die Herren von Wendelsheim an – großartig, wie sich nicht leugnen läßt, denn einige Zweige der Familie waren enorm reich – mit weiten Gehöften, Stallungen und einem palastartigen Wohngebäude. Auch ein herrlicher Park, gefüllt mit edlem Wild, umschloß das Ganze, und ein Fürst hätte sich dort behaglich fühlen können.

Ob nun aber schon der erste Erbauer durch die vielleicht zu großartigen Anlagen in Schulden gerieth, oder ob seine späteren Nachkömmlinge das vorhandene Vermögen etwas scharf in Angriff nahmen, kurz, die Wendelsheim, die von jeher sehr viel Geld verbraucht, gingen in den auf einander folgenden Geschlechtern zurück und schienen genöthigt zu werden, sich mehr und mehr einzuschränken.

Wenn noch im vorigen Jahrhundert ein wahrer Troß von Dienern die inneren Räume des großen Schlosses belebt hatte, wenn lustige Cavalcaden von Herren und Damen draußen im Park dem edlen Waidwerk oblagen und manchen braven Hirsch zu Tode hetzten, wonach dann bis spät in die Nacht dauernde Gelage das Siegeswerk feierten, so wurden derlei Dinge jetzt wohl auch noch ausgeführt, aber nur en miniature. Der alte Freiherr setzte sich, von einem einzigen Reitknecht und dem Revierförster zu Fuße begleitet, auf einen alten Klepper, der das Schießen gut vertragen konnte, und ritt pirschen, und Abends trank er dann, wenn auch gerade keinen Humpen, so doch eine halbe Flasche Landwein, und legte sich früh schlafen. Er konnte das lange Aufsitzen nicht mehr vertragen.

Auch mit dem Schlosse selber war eine sichtbare Veränderung vorgegangen, und zwar nicht zum Besseren. Die großen Räumlichkeiten wurden nicht mehr gebraucht, zwei Drittel der Stallungen standen schon ohnedies leer, und das eigentliche, drei Etagen umfassende Schloß, das sonst wohl manchmal bis unter den Giebel von Gästen und ihrer Dienerschaft angefüllt gewesen, zeigte nur zu deutliche Spuren des langsamen Verfalles. Es hätte auch in der That viel Geld und eine weit größere Dienerschaft, als sie die jetzigen Besitzer hielten, erfordert, um die Gebäude alle in Stand zu halten – und wozu? Die erste Etage mit den unteren Räumen für Küche und andere häusliche Zwecke genügte vollkommen und stand noch in zwar verblichener, aber doch alter Pracht. Von den übrigen Gemächern wurden aber nur wenige dann und wann zu Fremdenzimmern benutzt, und die beiden Flügel blieben ganz leer; ja, zerbrochene und mit Spinngeweben überzogene Fensterscheiben zeigten sogar, daß sie gar nicht mehr betreten wurden. Nur die oberen Etagen waren zu Kornböden eingerichtet worden, und dazu besaß der Verwalter den Schlüssel. Die Herrschaft kam nie mehr hinüber, den alten Freiherrn ausgenommen, der manchmal dort hinaufstieg, um den Kopf zu schütteln, daß die aufgerichteten Getreidehaufen in ihrer Quantität die Summe nicht repräsentirten, die er nothwendig dafür brauchte.

Trotz alledem wurde die äußere Form eines vornehmen Haushalts nach besten Kräften aufrecht erhalten. Der Freiherr von Wendelsheim war zugleich Kammerherr des Königs und als solcher, wenn auch im Sommer selten in Anspruch genommen, doch verpflichtet, den Winter in der Residenz zuzubringen. Dort machte er aber kein eigenes Haus, sondern begnügte sich mit seiner Dienstwohnung im Palais, während daheim auf Schloß Wendelsheim seine unverehelicht gebliebene Schwester Aurelia die Oberleitung der ganzen Wirtschaft mit eisernem Scepter führte.

Der Freiherr hatte zwei Söhne, von denen der älteste – jetzt fast vierundzwanzig Jahre alt – Lieutenant war, während der jüngste – ein zarter Knabe von kaum etwas mehr als siebzehn Jahren – seines sehr leidenden Körpers wegen in den letzten Jahren sogar seine Studien hatte unterbrechen müssen und hier auf dem Schlosse, in der milden und freien Luft, nur seiner Gesundheit lebte.

Aber es war eigentlich ein trauriges Leben auf Schloß Wendelsheim, und besonders seit die Freifrau einige Jahre nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes gestorben, schien es, als ob der Frohsinn die alten Mauern gründlich verlassen habe und nur noch bei dem Freiherrn und dessen Schwester das Bewußtsein ihres Ranges und Standes mit Stolz und Härte genug zurückgeblieben wäre, um eine dreifache Anzahl von Dienstleuten, als sich jetzt im Schlosse befand, mürrisch zu erhalten und unbehaglich zu machen.

Wenn aber auch die Vermögensverhältnisse des Freiherrn jetzt ziemlich gedrückter Art waren und er bedeutende Schulden machen müßte, um nur standesgemäß leben zu können, so bekam er trotzdem überall geborgt und wußte auch, daß sich sogar in allernächster Zeit seine Vermögensverhältnisse, oder die des Hauses wenigstens, glänzend verbessern, ja wie ein Phönix aus der Asche erstehen würden.

Mit dem Geburtstage seines ältesten Sohnes, des Lieutenants nämlich, der in kaum zwei Monaten herannahte, wurde eine außerordentlich bedeutende Erbschaft für diesen fällig, die eigens dazu bestimmt worden, den alten Glanz des Hauses Wendelsheim wieder neu zu beleben.

Der letzte Abkömmling einer der Hauptlinien hatte diese Erbschaft ausgesetzt, aber mit einer eigentümlichen Nebenbestimmung.

Beide Vettern, jener alte General von Wendelsheim und unser alter Freiherr, hatten eigentlich nie in gutem Vernehmen mitsammen gestanden, ja, sich sogar gründlich gehaßt und dieser Gefühle auch nie groß Hehl gehabt. Bruno von Wendelsheim aber, wie der General hieß, war, bei einem enormen Reichthum, unvermählt geblieben, ja sogar ein Weiberhasser, und hing nur mit all' der zähen Liebe und Verehrung, deren er fähig war, an seinem alten Stammbaum, an dem Glanze und Ruhme derer von Wendelsheim, und doch drohte das ganze Geschlecht auszusterben, denn unser Freiherr war damals der Letzte des Namens und, obgleich schon fünf Jahre vermählt, doch ohne Leibeserben.

Da bezwang der alte General auf seinem Sterbebette den Haß, den er gegen die Person des Vetters vielleicht gefühlt, und nur noch in ihm den alleinigen Träger des Namens sehend, setzte er wenige Tage vor seinem Tode ein Testament zu dessen Gunsten auf.

Er wußte, in welch' zerrütteten Vermögensverhältnissen sich jener Zweig der Familie schon damals befand, und wenn ihm auch nichts daran lag, dem Vetter selber aus der Verlegenheit zu helfen, sollten doch die Erben des Namens wenigstens nicht mit einer solchen Misère zu kämpfen haben. Das Testament lautete aber vorsichtiger Weise nur auf einen männlichen Erben des Hauses Wendelsheim, der aber auch erst, wenn er das vierundzwanzigste Jahr erreicht hätte, die damals für ihn verzinslich angelegte Summe von zweihunderttausend Thalern ausgezahlt erhalten solle.

Bekam der Baron von Wendelsheim mehrere Söhne, so blieb dieses Capital trotzdem nur für den ältesten bestimmt und ging erst nach dessen Tode, wenn er ohne Söhne starb, an den zweiten über. Bekam der Baron dagegen keine Kinder, oder nur Mädchen, so sollte er nicht einen Pfennig von der Summe erhalten, denn diese konnten den alten Namen nicht fortpflanzen. Fünfzigtausend Thaler waren in diesem Falle einem sehr weitläufigen Verwandten und damals sehr lockern Officier, einem Herrn von Halsen, ausgesetzt, und mit dem Rest, von dem indessen Zins zu Zins geschlagen wurde, sollte ein Stift für adlige Fräulein gegründet werden. Bekam der Freiherr dagegen Knaben, so sollte er schon insofern früher eine theilweise Nutznießung der Zinsen haben, als er vom zwölften Jahre des Erstgeborenen an jährlich für dessen Erziehung zweitausend Thaler erheben konnte.

Freiherr von Wendelsheim wurde nach dem Tode seines Vetters mit dem Inhalt dieses Testaments bekannt gemacht und allerdings sehr freudig überrascht. Mit um so größerer Angst sah er nun aber auch dem Zeitpunkt entgegen, der seine frohesten Hoffnungen verwirklichen sollte und einzutreten versprach: nämlich die Geburt eines Kindes. Aber Alles hing natürlich davon ab, daß es ein Knabe sei, denn bei der Geburt einer Tochter änderte sich in seinen Vermögensumständen nichts; er blieb nach wie vor auf seine eigenen, sehr reducirten Mittel angewiesen und ihm schließlich, wenn kein Sohn nachkam, nichts weiter übrig, als die Tochter in das nämliche Stift zu thun, das sein Vetter mit dem ihm entzogener Gelde gegründet haben wollte.

Damals sollte er sich auch in einer furchtbaren Aufregung befunden haben und halbe Nächte nicht vom Pferde gekommen sein. Aber er hatte sich umsonst geängstigt. Die so heiß ersehnte und gefürchtete Stunde brach endlich an, und lauter Jubel weckte plötzlich mitten in der Nacht die Dienerschaft, denn der erwartete Erbe, ein prächtiger, dicker Junge, war erschienen und schrie lustig in die ihm noch fremde Welt hinein.

Das war ein Jubel im Hause: der Champagner floß und die Dienerschaft bekränzte am folgenden Morgen das ganze herrschaftliche Schloß mit grünen Guirlanden und Blumen. Ja, der Schulmeister aus dem Dorfe Wendelsheim rückte sogar mit der ganzen Schuljugend hinauf auf's Schloß, ließ die Jungen einen Choral absingen, als ob sie eine Leiche zu Grabe trügen, und zog sich dann wieder, Taschen und Hut voll von noch dampfendem, warmen Kuchen gestopft, in die Stille des Alltagslebens zurück.

Der Knabe wuchs und gedieh. Es war anfangs ein bildhübsches Kind gewesen, aber er entwickelte sich später etwas derber und knochiger, wie man das ja wohl häufig bei auffallend hübschen Kindern hat, daß sie nicht immer halten, was sie versprechen. Die Eltern aber hingen mit größerer Liebe an dem Knaben, als sich die Hoffnung, einen zweiten Sohn und Erben zu erhalten, immer weiter hinausschob.

Daß dabei im Publikum, mit der eigenthümlichen Erbschaft zusammenhängend, anfangs ganz sonderbare Gerüchte auftauchten, läßt sich denken. Auf die Aussagen verschiedener Leute im Schlosse fußend, wurde behauptet, mit dem Erben sei nicht Alles so recht und richtig zugegangen. Es wäre eigentlich ein Mädchen gewesen, und der alte Baron hätte dafür gesorgt, daß er sich die Erbschaft trotzdem sicherte. Aber es war in all' den Gerüchten keine feste Basis, und das Meiste beschränkte sich nur auf Hörensagen. Der Verdacht war allerdings da; man traute dem Baron etwas Aehnliches zu, aber die Beweise fehlten, und wie sich diese Gerüchte ein paar Monate gehalten und das stehende Thema aller Kaffeegesellschaften gebildet hatten, verschwanden sie, wie sie gekommen. Zuletzt sprach kein Mensch mehr davon, und als sechs und ein halb Jahr später die Baronin noch einem zweiten Knaben das Leben gab, zerfielen die auf jenes Gerücht gegründeten Suppositionen überhaupt in Nichts.

Leider kränkelte von da ab die Baronin selber unaufhörlich, und wenn es auch manchmal schien, als ob sie wieder hergestellt werden könne, war das nur immer ein Aufflackern der Lebenskräfte. Benno hatte noch nicht sein viertes Jahr erreicht, als sie ihrer unheilbaren Krankheit erlag.

Nun ist es allerdings ein sehr natürlich Ding, daß Eltern nur zu sehr geneigt sind, das jüngste Kind etwas zu verwöhnen und ihm anscheinend ihre ganze Liebe zuzuwenden. Das Kleine ist ja auch immer das Niedlichste und erfordert die meiste Sorge und Pflege, und wir geben uns am liebsten und häufigsten mit ihm ab. Auffallend aber war doch, wie der Vater von dem Augenblick an, wo er seinen jüngsten Sohn auf dem Arm schaukelte, den Erstgeborenen vernachlässigte und sich fast gar nicht um dessen Erziehung kümmerte. Das jüngste und allerdings sehr zarte Kind ließ er fast nicht aus den Augen und wachte mit ordentlich mütterlicher Sorgfalt über ihn. Der Aelteste dagegen mochte thun, was er eben wollte, er ließ ihm ganz seinen eigenen Weg. Bruno wuchs demnach ganz allein, seinen eben nicht glänzenden Anlagen überlassen, ziemlich wild und ungehindert auf. Zur Musik zeigte er entschiedenes Talent, zu weiter nichts, und als die Frage endlich an den Vater herantrat, was einmal aus ihm werden sollte, wurde er in die große Versorgungsanstalt für adelige Kinder, in ein Cadettenhaus gesteckt.

Benno, der zweite Sohn, wuchs indessen ebenfalls heran; aber es war in der That nur ein Angstkind und sein kleiner Körper so empfänglich für die geringsten Einflüsse, daß er fast keine gesunde Stunde hatte. Ob man es vielleicht mit allzu großer Pflege versehen, läßt sich nicht sagen; aber während Bruno draußen im Wind und Wetter herumtollte, wenn er einmal nach Hause kam, des Vaters wildestes Pferd ritt, oder Nächte durch draußen im Wald auf dem Anstande lag, mußte Benno wie ein rohes Ei vor jedem rauhen Luftzug gehütet werden.

Merkwürdig stach außerdem Benno's zarter, von lichtblauen Adern durchzogener Teint, das bleiche Antlitz mit den großen, dunkeln Augen und den wirklich edlen Zügen gegen das kräftige, sonnverbrannte Gesicht des Bruders ab, der außerdem noch blaue Augen und eine etwas stumpfe Nase hatte. Die beiden Brüder sahen sich überhaupt gar nicht ähnlich, wenn sie sich auch herzlich lieb hatten, und waren auch in ihren Neigungen ganz verschieden.

Bruno fand weniger Freude am Soldatenstande als an der Oekonomie, für welche er schon von früher Jugend an eine Vorliebe zeigte. Benno dagegen, vielleicht auch durch seinen kränklichen Körper darauf angewiesen, warf sich mit größter Liebe auf die Wissenschaften, und darunter besonders auf physikalische und mathematische Werke. Er schien darin nur eine Leidenschaft seines Großvaters geerbt zu haben, der sich ebenfalls mit der Mathemathik viel beschäftigt und eine Masse von ihm benutzter Instrumente noch hinterlassen hatte.

So wuchsen die Brüder heran, und der Zeitpunkt war schon auf wenige Monate, ja fast auf Wochen nahe gerückt, wo Bruno, als der älteste Sohn oder Erstgeborene, die indessen durch Zins und Zinseszins bedeutend angewachsene Erbschaft erheben sollte. Es schien ja auch allen Bedingungen genügt, und Vater und Sohn wünschten den Tag sehnlichst herbei, denn beide hatten nicht gering auf ihn gesündigt. Du lieber Gott, wie viel Geld braucht denn nicht allein ein adeliger Lieutenant, wenn er auf der Welt nichts weiter zu thun, als einen alten Namen zu repräsentiren hat!

Benno's Zustand verschlimmerte sich dagegen mit jedem Tage, und wenn man gehofft hatte, daß er in einem mehr reifen Alter die Kränklichkeitskeime abschütteln würde, so zeigte sich leider nur zu bald das Gegentheil. Der Arzt hatte die Krankheit für einen Herzfehler erklärt, und sie schien, anstatt sich zu heben, einen immer drohenderen Charakter anzunehmen.

Sein Vater und selbst die Tante, oder das »gnädige Fräulein«, wie sie im Schlosse genannt wurde, pflegten ihn allerdings nach besten Kräften und thaten, was sie ihm nur an den Augen absehen konnten, aber Benno erwiderte die Liebe kaum, die sie ihm entgegenbrachten. Des Vaters hastiger, unruhiger Charakter sagte dem kranken Knaben nicht zu, und die Tante nun gar, die keinem Menschen auf der Welt, ihn vielleicht ausgenommen, ein freundliches Wort gönnte, vermochte nicht, ihn an sich zu gewöhnen.

Die Einzige im ganzen öden Schlosse, bei deren Erscheinen ein Lächeln seine Züge überflog, und der er traurig nachsah, wenn sie ging, war ein junges Mädchen, eine weitläufige Verwandte, die seine Mutter noch als kleines Kind zu sich genommen und der jetzt seine Hauptpflege übergeben worden.

Kathinka von Stromsee, in ziemlich gleichem Alter mit Benno, dem jüngsten Sohne, war eigentlich dessen Cousine, wenn auch die Familie Wendelsheim nie etwas von der Verwandtschaft wissen wollte. Ein Neffe des alten Barons, der Sohn seiner älteren, längst verstorbenen Schwester, ein von Stromsee, hatte nämlich den furchtbaren Mißgriff begangen, mit selbst keinem Vermögen, ein blutarmes, bürgerliches Mädchen zu heirathen, welcher Mesalliance dann glücklicher Weise nur diese einzige Tochter entsproß. Die beiden Eltern starben auch bald nachher, und Frau von Wendelsheim setzte es gegen ihre Schwägerin durch, die Waise in ihre Familie aufzunehmen.

Fräulein von Wendelsheim war aber vom ersten Augenblick an gegen das Kind gewesen und würde ihren Bruder nach der Baronin Tode sicher bewogen haben, die Kleine wieder fortzuthun, wenn sich nicht Benno so sehr an sie gewöhnt hätte. Er war unglücklich, sobald er die kleine Spielgefährtin nur auf eine Secunde missen sollte, und der Baron selber, der Alles für den Knaben that, duldete deshalb nicht, daß sie aus dem Hause gestoßen wurde.

Er blieb auch ziemlich gut mit ihr, aber Kathinka konnte sich dagegen nicht rühmen, je nur einen freundlichen Blick von der Tante gesehen zu haben, die sie von Grund auf zu hassen schien, und doch hatte ihr das Kind nie etwas zu Leide gethan. Es lag das im Charakter des »gnädigen« Fräuleins, und ließ sich eben nicht ändern.

So blieb Kathinka allerdings im Schlosse, verlebte dort aber auch eine traurige, trostlose Jugend. Zuerst nahm sie an den Unterrichtsstunden Benno's Theil und war seine Gespielin, dann wurde sie seine Pflegerin, ja, endlich nur die Krankenwärterin des armen, dahinsiechenden Knaben, aber auch zugleich seine treueste Freundin und Vertraute.

War kein Mensch im Stande, ihn von seinen anstrengenden Studien und Büchern wegzubringen, selbst nicht sein Vater, so brauchte Kathinka nur ihren Strohhut aufzusetzen und zu sagen: »Nun, wie ist's, Benno, wollen wir einen kleinen Spaziergang machen? Ich muß nach unseren Rosen sehen,« dann warf er den Band, den er gerade in Händen hielt, rasch bei Seite, ergriff seinen Hut und seine Handschuhe, und schritt mit einem glücklichen Lächeln an ihrer Seite durch die schattigen Laubgänge des Parkes. Nach solchen Spaziergängen fühlte er sich auch immer viel wohler, jedenfalls heiterer, und der darüber befragte Arzt rieth ihm, diese Zerstreuung unter jeder Bedingung zu erhalten. Er wisse nichts, was wohlthätiger auf ihn wirken könne.

Benno, so jung er war, beschäftigte sich sehr gern mit physikalischen Arbeiten; er hatte sich auch mit Hülfe eines Technikers aus der Stadt – unseres jungen Bekannten Baumann –, der manchmal herauskam, um ihm Anleitung zu gehen, eine kleine Elektrisirmaschine selber gebaut und war jetzt wieder dabei, einen Luftballon mit Centrifugal-Flugmaschine herzustellen. Freilich konnte er die dazu nöthigen feineren und sehr genau zu arbeitenden Theile nicht allein bewältigen, und Fritz Baumann half ihm da, wo es nur irgend seine Zeit erlaubte, mit wirklich aufopfernder Geduld. Baumann hatte aber auch nicht allein bald den sehr bösartigen und vielleicht drohenden Charakter von Benno's Krankheit erkannt, sondern er fand in der That selber Freude an den oft sogar geistreichen Versuchen des Knaben, und verbrachte manchen ganzen Sonntag auf Schloß Wendelsheim. Die »gnädige« Tante gestattete aber natürlich nie, daß er mit am Herrentische aß – der war nicht für Bürgerliche und noch dazu für Handwerker, sondern er wurde, wie auch Benno dagegen bat, jedesmal auf den Verwalter angewiesen, gewissermaßen an die »Marschallstafel«.

Bei solchen Besuchen unterstützte er den kranken Knaben aber nicht allein in seinen Arbeiten und experimentirte mit ihm, sondern er gab ihm auch zugleich manche werthvolle Anleitung, wie er sich Kleinigkeiten mit leichter Mühe herstellen konnte, und Benno fand eine unendliche Freude daran.

So war er auch heute wieder herausgekommen, um Benno eine von diesem selber entworfene und angefangene Arbeit zu bringen: einen Mechanismus, der die genaue Bewegung des Mondes um die Erde darstellen sollte. Wie er aber das Schloß betrat, hörte er eine scharfe, keifende Stimme; das konnte nur die des gnädigen Fräuleins sein, und er blieb zögernd stehen. Er wußte nicht, sollte er trotzdem hinausgehen oder lieber einen günstigeren Zeitpunkt abwarten, denn obgleich ihm die »Tante« gerade nichts zu befehlen hatte, theilte er doch unwillkürlich die Furcht oder Scheu vor ihr, die fast das ganze Schloß erfüllte. Wie er noch so dastand, kam Kathinka die Treppe herunter und glitt mit einem schüchternen Gruße hastig an ihm vorüber in die Wirthschaftsräume. Es konnte ihm nicht entgehen, daß sie geweint hatte oder noch weine, wenn sie ihr Gesicht auch von ihm abdrehte. Ein einzelner fallender und in der Sonne blitzender Tropfen verrieth Alles.

»Armes Mädchen,« murmelte er leise vor sich hin, »Du hast auch einen schweren Stand in diesem Hause, und ich möchte nicht an Deiner Stelle sein! Daß vornehme Leute nur so selten wissen, wie solch einem armen Wesen unter fremden Menschen zu Muthe sein muß – oder ob sie's wissen und es nur nicht wissen wollen? Die Tante sähe mir etwa gerade darnach aus. Himmel, ist das ein Drache!«

Er wollte langsam und ganz in seine Gedanken vertieft die Treppe hinaufsteigen, denn das Keifen oben hatte aufgehört, als einer der Diener unten aus der Küche kam und ihm zurief, der junge gnädige Herr sei im Garten in der Weinlaube. Kathinka mußte den Boten gesandt haben, um ihm die Treppe zu ersparen. Er dankte dem Manne, der sich aber schon nicht weiter um ihn kümmerte, denn was ging ihn der Handwerker an, und schritt dann rasch in den Garten und der bekannten Stelle zu, wo er auch Benno zwischen seinen Büchern und Instrumenten traf.

Benno's ganzes Gesicht leuchtete, als er ihn kommen sah, und Fritz Baumann mußte sich jetzt zu ihm setzen, damit er die gebrachte Arbeit genau prüfen konnte. Fritz erklärte ihm dabei eine kleine, nur unwesentliche Aenderung, wie er sagte, die er für nöthig befunden und die nur das Arbeiten des Werkes erleichtere, in Wahrheit es aber nur allein möglich machte, und Benno war glücklich darüber und schien auch heute wohler und lebendiger, als seit langer Zeit. Er plauderte und erzählte dem jungen Manne noch von einer Menge seiner Pläne und merkte gar nicht, daß Kathinka endlich mit seinem gewöhnlichen Getränk selber herausgekommen war, um ihn dann zu seinem vom Arzte vorgeschriebenen Spaziergange abzurufen

»Spazierengehen? Ja, liebe Kathinka,« sagte Benno, »recht gern, aber was fange ich indessen mit diesem kleinen Kunstwerk an?«

»Kann das nicht so lange hier stehen bleiben?«

»Daß mir der Gärtnerbursche wieder, wie neulich einmal, seine dicken Finger dazwischen steckt und etwas verdirbt, nicht wahr?« rief Benno rasch.

»Dann will ich es lieber rasch hinauftragen,« erbot sich das junge Mädchen.

»Meine liebe Kathinka,« sagte Benno kopfschüttelnd, »das ist mein Steckenpferd, und das vertraue ich nicht einmal Dir an. Wenn Du fielst und es zerbrächst, wäre mir die ganze Freude verdorben. Ich trage es selber hinauf. Warten Sie hier nur einen Augenblick, Baumann; ich bin gleich wieder bei Ihnen und bringe dann auch den Gartenschlüssel mit, daß wir Sie hinten hinauslassen können; Sie ersparen dadurch einen Umweg.« Und ohne eine Einrede zu gestatten, nahm er mit sorglicher Hand das Räderwerk und schritt rasch durch den Garten dem Schlosse zu.

Die beiden jungen Leute folgten ihm, Jedes seinen eigenen Gedanken nachhängend, mit den Augen. Endlich sagte Baumann, aber fast mehr zu sich selbst als zu der neben ihm Stehenden redend:

»Armer junger Mann, so reich begabt, so gut und so unglücklich!«

»Ja, er ist wirklich gut und unglücklich,« seufzte Kathinka, »denn ich fürchte das Schlimmste für ihn!«

»Und glauben Sie nicht, Fräulein, daß er geheilt werden könnte, vielleicht durch eine Luftveränderung?«

»Ich weiß es nicht; aber der Arzt sieht ihn immer so mitleidig an und hat ihm in der letzten Zeit wieder so Vieles erlaubt, was ihm sonst streng verboten war – das ist kein gutes Zeichen.«

»Und Sie sind immer so gut mit ihm und geben sich so viele Mühe . . .«

»Ich wollte, ich könnte mehr für ihn thun,« sagte Kathinka herzlich, »und wenn er stirbt, werde ich ihn wie meinen Bruder betrauern.«

»Und Sie Beide haben keine Mutter!« sagte Baumann fast unwillkürlich, denn er dachte an die rauhen Worte, die er vorhin im Schlosse gehört, bereute aber augenblicklich das Gesprochene, als er sah, welch ein wehmütiger Ausdruck sich über Kathinka's Züge legte. Er setzte auch rasch hinzu: »Ich habe Ihnen nicht weh thun wollen, liebes Fräulein, seien Sie mir nicht böse.«

»Gewiß nicht, ich weiß es,« erwiderte Kathinka leise; »aber da kommt der Baron schon wieder zurück,« fuhr sie rasch und augenscheinlich erfreut, das Gespräch abbrechen zu können, fort. »Wie schnell er gegangen sein muß! Er fühlt sich heute doch viel kräftiger! Gott gebe nur, daß es so bleibt!«

Benno kehrte zurück. Er sah in der That heute viel wohler aus, als in den letzten Tagen; sein sonst so bleiches, wachsähnliches Gesicht hatte Farbe und das Auge einen viel gesünderen und natürlichen Glanz. Er nahm auch ohne Weiteres, wie stets gewohnt, Kathinka's Arm und sagte fröhlich: »So, und nun gehen wir langsam durch den Park der Hinterpforte zu; von dort aus schneiden Sie den ganzen langen und häßlichen Weg durch das Dorf ab, Baumann, und haben gar nicht mehr so weit in die Stadt. Aber wann kommen Sie wieder heraus?«

»Sobald ich irgend kann, Herr Baron, gewiß.«

»Aber spätestens am Sonntag. Ich möchte Sie so gern dabei haben, wenn ich meine kleine Maschine arbeiten lasse. Die Kathinka versteht eben gar nichts davon und freut sich nicht halb so viel darüber, als ich gern möchte.«

»Ich freue mich, ja gewiß, wenn ich sehe, daß es Dir Freude macht, Benno.«

»Ja, nur mir zu Liebe,« sagte Benno mit einem fast noch kindlichen Schmollen, »aber nicht über die Sache selber. Das habe ich wohl gemerkt.«

»Aber ich verstehe es ja auch nicht, lieber Benno; ich bin solch ein armes, unwissendes und dummes Ding.«

»Glauben Sie es ihr nicht, Baumann, das ist nicht wahr,« sagte Benno schnell. »Sie ist gar nicht so dumm und versieht Manches so gut, daß ich selber oft darüber erstaunt bin. Aber sie zankt immer mit mir, wenn ich einmal ein wenig lange bei meinen Berechnungen gesessen habe, und will mir nicht Recht geben, daß das meine größte Erholung ist.«

»Aber der Arzt hat es Ihnen doch auch verboten,« sagte Baumann.

»Ach was, der Arzt!« rief Benno heftig. »Der glaubt auch, daß ich krank, ganz gefährlich krank wäre! Aber es ist gar nicht wahr! Ich fühle mich heute so wohl und leicht, daß ich tanzen möchte.«

»Gott gebe, daß es immer so bleibt!«

»Es wird schon. Sie sollen einmal sehen, Baumann, was wir Beide noch Alles zusammen bauen werden, und wenn Sie erst selbstständig sind, haben Sie auch nachher mehr freie Zeit. Nicht wahr, das geschieht bald?«

»In den nächsten Tagen, hoffe ich.«

»Das ist herrlich – aber hier ist die Pforte. So, nun machen Sie, daß Sie wieder in Ihr Joch kommen, und tausend Dank noch für Ihre Freundlichkeit.«

Er ließ ihn hinaus und schloß die Pforte wieder, und als Baumann zurückschaute, sah er, wie Benno, lebhaft plaudernd, am Arme seiner jungen Führerin durch den Park schritt, und noch wie sie schon hinter dem Gebüsch verschwunden waren, hörte er sein fröhliches Lachen.



 << zurück weiter >>