Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

Neue Spuren.

Der alte Major von Halsen war ein wunderlicher Kauz und so obstinat in seinem ganzen Wesen wie unberechenbar in seinen eigenen Ansichten. Jetzt, in diesem Augenblick, behauptete er etwas, und wenn irgend Jemand dem widersprach, so konnte er in der Vertheidigung des Behaupteten fast außer sich gerathen; kam aber nach einiger Zeit das Gespräch zufällig auf denselben Gegenstand und irgend jemand Anderes stellte das als Thatsache auf, was er früher selber Wort für Wort verfochten, dann war er auch im Stande, ganz entschieden auf die andere Seite hinüber zu springen und nun alle die Beweisgründe gegen den aufgestellten Satz hervor zu suchen, die früher gegen ihn selber angewendet worden.

Genau so machte er es in seiner ganzen Lebensweise, und während er sich heute einredete, daß er todsterbenskrank sei und vielleicht die nächste Woche, den nächsten Tag nicht mehr erleben würde, vergaß er plötzlich einmal das imaginäre Elend und hinkte so flott und rüstig in der Stadt umher, als ob er ein paar Jahrzehnte von seinem Alter abgeschüttelt hätte und nie in seinem Leben krank gewesen wäre.

Eine solche Haupttriebfeder erneuter Thätigkeit war die in Aussicht gestellte Erbschaft jenes alten, längst verstorbenen Freiherrn von Wendelsheim, die aber, nach allen menschlichen Begriffen, schon lange für ihn verloren sein mußte, da sämmtliche an die letzte Linie Wendelsheim gestellten Bedingungen am Vorabend ihrer Erfüllung standen. War das Geld aber erst einmal, und wenn auch nur für eine einzige Stunde, verfallen und ausgezahlt, dann hätten ihm alle Processe der Welt nichts mehr genutzt, und da er das wußte, trieb es ihn ordentlich wie mit einer feindlichen Macht vorwärts, um wenigstens jeden möglichen Augenblick zu benutzen, sein Ziel zu erreichen und die Ansprüche des von ihm gründlich gehaßten alten Freiherrn von Wendelsheim umzustoßen.

Er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß in der Erbfolge des Hauses faules Spiel getrieben [worden]. Wie er dazu gekommen, wer konnte es sagen! Jedenfalls kannte er den Charakter des alten Kammerherrn von früheren Zeiten her genau, um ihm etwas Derartiges zuzutrauen, und das, mit dem damals unter den Leuten verbreiteten Gerücht zusammengebracht, mochte dann wohl bei ihm zur fixen Idee geworden sein, die ihn eben nicht ruhen und nicht rasten ließ. Den Staatsanwalt Witte, einen scharfen und klaren Kopf, hatte er dabei seinen Ansichten zu gewinnen gesucht, und die Möglichkeit eines solchen Falles, mit manchen sogar dafür sprechenden Einzelheiten, machte diesen anfangs selber stutzen und Interesse an der Sache nehmen. Wie sich aber mehr und mehr herausstellte, daß Alles, was der Major wußte oder zu wissen glaubte, nur eben auf leeren, unhaltbaren Gerüchten, ohne irgend einen auch nur annähernden Beweis, beruhte, zog er sich von dem Ganzen zurück und war besonders unter keiner Bedingung dazu zu bringen, eine wirkliche Klage zu erheben. Er wenigstens wollte sich nicht blamiren.

Der Major hing aber jetzt sogar für kurze Zeit seine oft von ihm ausgesprochene lebensgefährliche Krankheit an den Nagel und beschloß, selber der Sache auf den Grund zu gehen.

Einen neuen Sporn dazu fand er in der Frau Meier, die ihren besonderen Grund haben mußte, jene Familie oder wenigstens den alten Freiherrn zu hassen, und diese gab ihm auch bereitwillig, so weit ihr Gedächtniß ausreichte, eine Liste aller der Dienstboten, die zu jener Zeit auf dem Gute in Dienst gestanden, während der Major nun seinerseits alle Minen springen ließ und keine Kosten scheute, um die namhaft gemachten Personen wieder aufzufinden.

Dreiundzwanzig, ja fast vierundzwanzig Jahre sind aber eine lange Zeit, und es gelang ihm nur bei sehr Wenigen. Viele waren gestorben oder verschollen, Manche fortgezogen, Niemand konnte sagen wohin, und den Namen der Hauptperson, der Amme, die damals angenommen worden, kannte sie gar nicht oder konnte sich nicht mehr darauf besinnen. Einer aber, der vielleicht Auskunft geben konnte, war der damalige Gärtner, ein Mann Namens Tettelberg, der sich schon vor längerer Zeit in der Nachbarschaft von Alburg angekauft haben und später in die Stadt selber übergesiedelt sein sollte. Diesen hatte auch der Major gemeint, da er erst kürzlich seine Wohnung ausgekundschaftet, als er am Ballabend dem Staatsanwalt von einer ›neuen Spur‹ gesprochen. Aber auch das schien auf diesen seine Wirkung verfehlt zu haben, und der Major beschloß deshalb, ihn selber aufzusuchen. Er wollte wenigstens nichts versäumen, was ihn zu dem ersehnten Ziel führen konnte.

Eines Morgens um zehn Uhr war er deshalb auch schon unterwegs, denn er kannte den Platz genau, da es das nämliche Grundstück zu sein schien, auf dem sein alter Bekannter Rath Frühbach wohnte. Er hatte auch anfangs nicht übel Lust, den Rath selber mit in das Geheimniß zu ziehen und seine Meinung darüber zu hören; aber der Mann sprach zu viel. Er traute ihm nicht, daß er es bewahren würde, und hielt es deshalb für gerathener, lieber vorsichtig zu Werke zu gehen und nicht mehr als unumgänglich nothwendig zu Mitwissern zu machen. Wer mochte denn auch sagen, ob im andern Falle der alte Freiherr nicht Wind von den Nachforschungen bekam und seine Maßregeln danach nehmen würde, während er jetzt, in vollständige Sicherheit eingewiegt, keine Ahnung irgend einer ihm etwa drohenden Gefahr haben konnte und deshalb also auch der Sache ruhig ihren Lauf ließ.

Der Weg war übrigens ziemlich weit oder kam ihm wenigstens so vor, denn der alte Gärtner wohnte draußen vor der Stadt, eigentlich im letzten Hause, und an seiner Hecke begannen die Felder und Wiesen; aber durch die Anlagen ging es sich auch vortrefflich, und er hatte bald das kleine, in grünen Büschen fast versteckte Haus herausgefunden, in welchem der alte Tettelberg eine allerdings sehr beschränkte Handelsgärtnerei angelegt und dort, ziemlich zurückgezogen von der Welt, aber noch immer wacker arbeitend und selber schaffend, lebte.

Dicht neben ihm, auf dem nämlichen Grundstück in einer Parterrewohnung, residirte Rath Frühbach, und der Major sah, als er den Garten betrat, die ganze Familie, Mann, Frau und Kinder, »auf der Weide«, das heißt, alles von Früchten absuchend, was noch irgendwo an Busch oder Baum hing. Da er ihnen aber jetzt nicht gern begegnen wollte, drückte er sich seitab um das Haus herum, wo er Tettelberg's Behausung ebenfalls erreichen konnte, und fand den alten Mann, der überhaupt nie ausging, auch daheim.

»Hören Sie einmal, Tettelberg,« fing hier der alte Herr ohne weitere Umschweife an, »ich bin der Major von Halsen, möchte gern ein paar Worte mit Ihnen über eine alte Geschichte reden. Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Zeit, Herr Major?« sagte der Mann. »Wenn man erst einmal so alt ist, hat man eigentlich keine mehr; aber das bischen Graben kann wohl eine Viertelstunde warten; der Buckel thut mir so weh.«

»Donnerwetter,« sagte der Major, »graben Sie denn noch selber in Ihrem Garten? Wie alt sind Sie?«

»Wird wohl so um die Zweiundsiebzig herum sein,« meinte der Alte; »ganz genau kann ich's nicht sagen, denn ich bin gerade an einem Schalttag geboren und dadurch in der Rechnung etwas confus geworden. Kommt aber auf ein paar Jahre nicht an, so lange man nur noch gesund ist. Aber was war es denn, was Sie mir sagen wollten?«

»Können wir nicht einen Augenblick in's Haus gehen?«

»Ja, gewiß. Bitte, treten Sie hier gleich ein; wir sind da ganz ungestört.« Und dabei führte ihn der alte Gärtner in eine dicht an ein Treibhaus stoßende Stube oder Kammer vielmehr, denn besonders wohnlich sah es darin nicht aus. Nur ein hölzerner Tisch und ein paar eben solche Stühle standen darin, und auf dem Tisch lagen Bindfaden, Bast, Gartenerde, Blumentopfscherben und alles Mögliche ziemlich bunt durcheinander. Der Alte fand aber eine Entschuldigung dafür nicht nöthig, rückte dem Major den einen Stuhl hin und setzte sich dann auf den andern, wo er, beide Arme auf seine Kniee gestützt, geduldig erwartete, was der Herr von ihm wolle.

Der Major ließ ihn nicht lange im Zweifel. Er räusperte sich allerdings erst ein paarmal, denn er wußte nicht gleich, wie er beginnen sollte. Der harte Stuhl, auf dem er saß, genirte ihn ebenfalls; aber der Alte sah ihm genau so aus, als ob er mit ihm von der Leber weg reden könne, und da ihm das ebenfalls am besten paßte, so that er es. Er erzählte ihm geradezu, welchen Verdacht er habe, daß nämlich der alte Freiherr, da die Erbschaft nur auf einen Sohn überging, ein ihm geborenes Mädchen gegen einen Knaben eingetauscht haben könne, und zählte ihm dann auch die ihm wenigstens zu Ohren gekommenen Daten auf, die ihn darin nur immer mehr bestärkten.

Der alte Gärtner hörte ihm ruhig und ohne auch nur ein einziges Wort hineinzureden, zu; nur manchmal nickte er leise mit dem Kopf, als ob er das eben Gesagte bestätigen könne. Als aber der alte Herr wärmer wurde und auf die Möglichkeit hinwies, einen etwaigen Betrug zu entlarven, da schüttelte er langsam und zweifelnd den Kopf, und als der Major endlich schwieg, sagte er:

»Ja, lieber Herr, Vieles ist wohl so, wie Sie da hergezählt haben: die Frau Meier hat Recht, ich habe in jener Nacht den Mann im Garten gesehen, und daß er ein Kind getragen haben muß, glaube ich ebenfalls. Jedenfalls schrie es genau so, und richtig ist mir und uns Allen die Sache damals gleich nicht vorgekommen. Aber was hilft das? Die allein darüber reden könnten, werden sich hüten, und was wir Anderen davon wissen, ist nichts.«

»Sie meinen die alte Heßberger?«

Tettelberg schüttelte mit dem Kopf. »Nein, noch eine Andere – aber es ist auch ein häßlich Ding, solche alte Geschichten wieder aufzurühren und sich dann vor Gericht damit umherzutreiben. Ich wenigstens möchte nichts damit zu thun haben, auch nichts darin beschwören, denn es ist damals so viel darüber unter dem Gesinde gesprochen worden, daß man wirklich gar nicht mehr weiß, was man eigentlich selber gesehen oder nur gehört hat.«

»Aber von welch einer andern Person reden Sie?«

»Von der damaligen Amme des ältesten Sohnes.«

»Die ist aber mit ihrem Kinde nach Amerika gegangen.«

Der Gärtner schüttelte wieder den Kopf. »Nein,« sagte er, »sie wollte hinüber, ja, und die Köchin, die damals mit ihrer Zunge immer ein wenig flink bei der Hand war, meinte, der alte Baron hätte sie selber fortgeschickt. Aber das Schiff verunglückte an der englischen Küste, die Passagiere wurden jedoch gerettet und an Land gebracht, und jene Person trat in England in Dienst und blieb dort wohl sechzehn oder siebenzehn Jahre. In der Zeit mußte sie sich aber etwas erspart haben, denn noch gar nicht so lange her ist sie mit ihrer Tochter in die hiesige Gegend zurückgezogen, nach Vollmers, von wo sie zu Hause war, und die Tochter soll dort verheirathet sein.«

»Und wie alt ist die Tochter?«

»Nun, genau so alt, wie der erste Sohn des Herrn Barons. Sie muß jetzt in's vierundzwanzigste Jahr gehen, denn gerade nach der Geburt dieses Kindes trat sie ja als Amme in den Dienst der Herrschaft.«

»Und wer hat sie dahin gebracht?«

»Ja, wer soll das wissen! Aber sie war mit der Heßbergerin dick befreundet.«

»Und haben Sie das Kind einmal gesehen, Freund? Seien Sie mir nicht böse über mein vieles Fragen, aber die Sache ist in der That von der größten Wichtigkeit.«

»Als Kind, ja,« nickte der alte Mann. »Sie wohnte damals, oder ihre Mutter vielmehr, dicht neben meinem Bruder in Vollmers, und so lange der noch lebte, kam ich manchmal hin. Nun ist er aber schon die langen Jahre todt.«

»Und wie sah es aus?«

»Das Kind? Oh, es war ein allerliebstes Ding,« erwiderte der alte Mann, »zart wie Wachs, und die Glieder so fein und zierlich! Ich weiß auch, daß sie damals vielerlei redeten; aber, wie das so immer geht, die Leute wurden's endlich müde, und wie die Mutter mit der Kleinen zu Schiffe ging, sprach kein Mensch mehr davon.«

»Und wie heißt das Kind?«

»Ja, wie sie jetzt heißt, weiß ich nicht einmal – mit Vornamen Martha, und ihre Mutter war eine verehelichte Müller. Jetzt hat die Tochter aber einen Feldmesser geheirathet, und wenn ich den Namen auch schon gehört habe, kann ich mich doch nicht mehr darauf besinnen. Uebrigens erfährt man das leicht in Vollmers.«

»Und ist sie jetzt dort?«

»Kann ich auch nicht sagen; sie soll manchmal zum Besuch hinkommen. Sie wohnt mit ihrem Mann eine Stunde weiter, in Rübhausen; aber die Mutter treffen Sie jedenfalls.«

»Vollmers liegt etwa anderthalb Stunden entfernt . . .«

»Knapp; es giebt noch einen näheren Weg über den Wald.«

»Tettelberg, wenn ich etwas in der Sache ausrichte, soll es Ihr Schade nicht sein.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Wenn die Müllern noch ein solch' resolutes Frauenzimmer ist wie früher,« sagte er, »so werden Sie wohl unverrichteter Sache wieder zurückkommen. Ueberdies ist es auch ein bös Ding, etwas Derartiges, was so lange geschlafen hat, wieder aufzurühren. Wenn ich wie Sie wäre, ging ich verwünscht vorsichtig dran, oder – ließe es am allerliebsten ganz zufrieden. Mit der Müllern ist nicht gut spaßen.«

»Wenn die Sache einen Haken hat,« sagte der Major, »so fass' ich sie, darauf können Sie sich verlassen.«

»Manchmal bleibt man auch an so 'nem Haken hängen,« meinte der Alte, »und ich könnte Ihnen da, wie mein Nachbar, der Herr Rath Frühbach, sagt, eine Geschichte erzählen. Mit dem Herrn Baron von Wendelsheim ist ebenfalls nicht zu spaßen; ich kenne den Herrn, und wenn er etwas davon erführe, hing er Ihnen den schönsten Prozeß an den Hals.«

»Proceß?« rief der Major, denn Processe waren ja gerade sein Steckenpferd. »Damit soll er nur kommen, weiter verlange ich gar nichts! Dem wollen wir heimleuchten, dem alten Cujon und Schuldenmacher! Den Henker auch – kein Ziegel auf den Dächern von ganz Wendelsheim ist ja noch sein eigen, und die ganzen langen Jahre borgt er nun schon auf das Capital los, das sein Sohn einmal erben soll! Hab' ich Recht oder nicht?«

Der alte Gärtner zuckte die Achseln. »Das sind Dinge,« sagte er, »von denen ich nichts weiß, und die mich nichts angehen, Herr Major, möchte auch nichts damit zu thun haben. Außerdem muß ich Sie auch bitten, mich nicht als Zeugen aufzurufen, wenn die Sache wirklich vor Gericht kommen sollte.«

»Aber Sie können doch aussagen, was Sie gesehen haben?«

»Wenn ich etwas gesehen hätte, ja; aber so war's dunkel und Regenwetter noch dazu, und das wissen Sie wohl, im Dunkeln sind alle Katzen grau.«

»Ihr habt Alle eine Heidenangst vor den Gerichten!« sagte der Major, eben nicht besonders erfreut, daß ihm der alte Gärtner auch wieder zwischen den Fingern durchschlüpfen wollte; »die beißen Einen doch wahrhaftig nicht, und Recht muß am Ende doch Recht bleiben! Was können sie Euch thun, wenn Ihr bei der Wahrheit bleibt, heh? Gar nichts!«

»Ich kann aber auch nichts nützen,« meinte der Alte, »und habe im günstigsten Falle nur Lauferei und Aerger davon. Ich wollte überhaupt, die Meier hätte das Maul gehalten; da sie es aber in ihren jungen Jahren nicht gethan, so war kaum zu erwarten, daß sie in ihren alten damit anfangen würde.«

»Und wie kann ich am besten nach Vollmers hinaus?« fragte der Major. »Eine Post geht wohl nicht hin?«

»Post? nein,« sagte Tettelberg; »aber ich glaube, der Herr Rath Frühbach könnte Ihnen da die beste Auskunft geben; der fährt manchmal hinüber und bezieht auch seinen Aepfelwein daher. In Vollmers pressen sie eine Menge Aepfel, und der Wein schmeckt auch gar nicht so schlecht – wer ihn eben vertragen kann. Ich bekomme immer Leibschneiden danach.«

»Hm, so?« sagte der Major, noch nicht recht mit sich einig, ob er den Rath Frühbach zum Vertrauten gebrauchen könne. Der Mann hatte jedenfalls viel in seinem Leben gesehen und durchgemacht und war auch vielleicht praktischer Art – er wußte es nicht; aber er fürchtete sich vor seinen endlosen Geschichten, die wie die Bilder eines Kaleidoskops, immer und ewig aus demselben gehackten Material bestehend, einen langweiligen Stern darstellten. Da er übrigens so unmittelbar neben seinem Hause war, beschloß er, einmal hinüber zu gehen. Die Familie traf er ja auch wohl im Garten, und konnte dann, was er zu fragen hatte, im Vorbeigehen abmachen.

»Also, Tettelberg,« sagte der Major, indem er dem Gärtner die Hand reichte, »ich danke Ihnen vorläufig für die ertheilte Auskunft, und wenn ich von Vollmers zurückkehre und etwas ausgerichtet habe, komme ich noch einmal heraus, und wir verabreden das Weitere.«

»Wird wohl weiter nichts zu verabreden sein, Herr Major,« sagte der Mann in der hartnäckigen Weise alter Leute; »wenn Sie sich denn absolut die Finger verbrennen wollen, ich kann's nicht hindern. Durch Schaden wird der Mensch klug, sagen die Leute; manchmal dauert's aber lange.«

»So wollen wir denn sehen, Tettelberg, daß wir den alten Baron klug machen können,« nickte der Major, viel zu verbissen auf sein Steckenpferd, um auch nur eines Haares Breite davon abzuweichen. »Guten Morgen!« Und sich an seinem Stock emporrichtend, denn er war auf dem harten Stuhl ganz steif geworden, humpelte er zur Thür hinaus wieder in's Freie.

Draußen hinkte der Major zuerst einmal um das Haus herum, wo der Rath wohnte, weil er ihn vorher da bei der Fruchtlese getroffen; aber der Weg wurde ihm nicht so leicht gemacht, denn quer vor dem schmalen Gang, der dorthin führte, hingen ein paar alte wollene Decken, die so schmutzig aussahen, daß sich der Major ekelte, nur daran zu streifen. Er wollte auch schon umkehren, aber sein Bein that ihm weh. Er scheute den Umweg, und vorsichtig mit dem Stock die eine Decke emporhebend, bückte er sich mit einem leise gemurmelten Fluch darunter durch und fand sich jetzt in dem Garten selber, aus dem aber die Familie verschwunden schien. Er konnte wenigstens Niemanden mehr darin entdecken, als einen Jungen, der eben an einem Birnbaum schüttelte, um die letzten Birnen davon herunter zu bekommen. Den rief er an; der Junge mochte aber wohl unter dem »falschen Baume« gewesen sein und hatte kein gutes Gewissen, denn er sah sich gar nicht einmal um, wer ihn gerufen haben könnte, sondern fuhr gleich zwischen die nächsten Büsche hinein, hinter denen er verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam.

Dem Major blieb jetzt nichts weiter übrig, als in das Haus selber zu gehen und dort den Rath aufzusuchen, und er entschloß sich gerade nicht gern dazu, blieb auch wirklich noch einmal stehen und überlegte sich die Sache, als plötzlich ein Fenster geöffnet wurde und die wohlbekannte Stimme des Raths herausrief:

»Ah, bester Major, wie haben Sie sich einmal in diesen entlegenen Winkel verloren? Wollen Sie denn nicht näher treten? Ich ziehe mich gerade an und begleite Sie dann ein Stück.«

»Ei, guten Morgen, mein lieber Rath!« sagte der Major, dem jetzt wenigstens die Wahl erspart worden. »Werde so frei sein« – und den Weg dahin einschlagend, betrat er gleich darauf das Haus.

Der Rath wohnte parterre und hatte ein ganz bescheidenes Schild an seiner Thür, auf dem nur der Name Frühbach stand. Die Thür war auch nicht verschlossen und der Major gerieth in einen langen schmalen Gang mit einer Unzahl Thüren, aus welchen er nicht gleich die rechte herausfinden konnte. An der rechten Seite war aber eine geöffnet – wie er gleich darauf bemerkte, die Küche, und dort hantirte ein weibliches Wesen in einem sehr schmutzigen Ueberrock von verschossener Barège, aber ohne Schürze, das er natürlich für die Köchin oder das Hausmädchen hielt.

»Können Sie mir wohl sagen, liebes Kind,« fragte er, »in welchem Zimmer ich den Herrn Rath finde?«

»Gehen Sie nur geradeaus,« lautete die Antwort, »mein Mann ist in der letzten Stube links.«

»Bitte,« sagte der Major erschreckt, einen solchen Verstoß gegen die Höflichkeit und die Frau vom Hause zugleich begangen zu haben. »Entschuldigen Sie, es ist hier so dunkel im Vorsaal . . .« Und damit wandte er sich, immer still mit dem Kopf schüttelnd, der bezeichneten Thür zu. Er hatte aber die letzten Worte der Frau gar nicht mehr gehört, ging geradeaus und öffnete die dort befindliche Thür, schloß sie aber eben so rasch wieder, denn er war in das Heiligthum eines Schlafzimmers im Urzustand gerathen.

»Hier herein, bester Freund! Hier herein!« rief der Rath und stieß seine eigene Thür auf. »Sie wären beinah' in das falsche Zimmer gefahren, heh? Treten Sie nur näher, ich bin den Augenblick fertig – na, wie geht's? Das ist gescheidt, daß Sie sich auch einmal bei mir sehen lassen!«

»Es thut mir leid, daß ich Sie störe, bester Freund,« sagte der Major, der den Rath noch in schon seit einiger Zeit getragenen Unterhosen fand, während seine übrigen Kleidungsstücke im Zimmer umhergestreut lagen.

»Mich stören? Nein, sicher nicht!« lachte der freundliche alte Herr. »Sie sehen ja, daß ich mich gar nicht stören lasse – aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Danke Ihnen, habe die ganze Zeit gesessen,« sagte der Major, der in der Stickluft des Zimmers, die so unangenehm nach Schweiß roch, kaum zu athmen vermochte. »Wenn Sie erlauben, gehe ich einen Augenblick an das Fenster, indessen ziehen Sie sich fertig an. Famoser Garten, das!«

»Ja, recht hübsch,« sagte der Rath, während der Major das Fenster öffnete.

»Aber wer wohnt hier über Ihnen?«

»Ueber mir? Ist augenblicklich gar nicht vermiethet – zwei Treppen hoch wohnt ein Beamter.«

»Hören Sie, lieber Rath,« sagte der Major – denn gerade vor dem Fenster hingen die beiden wollenen Decken – »dem würde ich dann aber nicht erlauben, mir die beiden Schmierlappen da gerade vor die Nase zu hängen – Alles was recht ist, aber . . .«

»Die beiden Decken?« sagte Frühbach, zum Fenster hinaussehend. »Das sind ja meine eigenen – in denen schlafe ich jede Nacht.«

»In den Decken?« sagte der Major, wirklich starr vor Schrecken.

»Ja, sehen Sie. lieber Freund,« fuhr der Rath fort, »ich muß jede Nacht tüchtig schwitzen – wenn ich nicht schwitze, leidet meine Verdauung, und da ich genöthigt bin, mit meiner Gesundheit sehr vorsichtig zu sein . . .«

»Ob Sie noch frühstücken wollen, ehe Sie ausgehen, Herr Rath?« sagte in diesem Augenblick ein ziemlich sauber gekleidetes Dienstmädchen, das, trotz der etwas derangirten Toilette des Hausherrn, den Kopf in's Zimmer steckte.

»Frühstücken? Gewiß!« lautete die Antwort. »Aber bringen Sie gleich zwei Gläser mit herein, Henriette, und zwei Teller und Messer und Gabeln dazu!«

»Ich danke Ihnen wirklich, lieber Rath,« sagte der Major, dem der ganze Appetit vergangen war – »ist mir noch zu früh.«

»Noch zu früh?« lachte der Rath. »So? – Da waren wir einmal in Schwerin im ›Mohren‹,« fuhr er fort, während er sich die Unaussprechlichen anzog, was mit einiger Schwierigkeit verbunden war, da ihm die Brille immer dabei herunterrutschte, »und der Geheime Regierungsrath Hesse – er wurde nachher Minister und hat eine bedeutende Rolle gespielt – war auch hereingekommen – um nach einem Fremden zu fragen. Wir saßen und frühstückten – frische Austern und alten Rheinwein dazu – es schmeckt eigentlich Morgens nichts besser als frische Austern und alter Rheinwein –, und wie er hereinkam, riefen wir ihm zu und sagten, er solle sich doch mit hersetzen; aber er meinte auch, es wäre ihm zu früh. Und glauben Sie, daß er gefrühstückt hätte? Gott bewahre!«

»Sagen Sie einmal, lieber Rath,« fragte jetzt der Major, der nicht mit Unrecht eine zweite, der ersten rasch folgende Erzählung fürchtete, denn wenn der Mann im Zuge war, ging es Schlag auf Schlag, »weshalb ich eigentlich herkam: können Sie mir nicht sagen, wie ich am besten nach Vollmers hinaus komme?«

»Nach Vollmers?« rief Rath Frühbach erstaunt aus, indem er seinen Besuch über die Brille ansah. »Ja, alle Wetter, Major, das wäre ja ein merkwürdiges Zusammentreffen! Aber was haben Sie in Vollmers zu thun? Aha, kommen Sie endlich auch auf meine Sprünge? Ja, Sie können mir's glauben, es geht nichts in der Welt über eine Apfelwein-Diät, und wenn ich den nicht die langen Jahre hindurch gebraucht hätte, wäre ich gar nicht der Mann, der ich bin. Denken Sie sich, da kam vor etwa drei Monaten, gerade als ich von Schwerin fortziehen wollte . . .«

»Aber Sie wollten mir wegen Vollmers sagen – wieso ist das ein merkwürdiges Zusammentreffen?«

Rath Frühbach hatte eine gute Eigenschaft: er war unerschöpflich in nichtssagenden Geschichten; sowie er aber unterbrochen wurde, vergaß er augenblicklich, was er eben erzählen wollte, und wenn er nicht gerade in eine andere hineingerieth, blieb er bei der Sache.

»Ja so, Vollmers,« nickte er; »das ist allerdings merkwürdig, denn ich ziehe mich gerade an, um meine gewöhnliche Fuhre dahin zu machen. Um elf Uhr wollte ich fort, und wenn Sie mich begleiten, nehmen wir den Einspänner zusammen.«

»Um elf Uhr – das muß es aber gleich sein.«

»Es ist auch dicht hierbei. Jetzt frühstücken wir erst, und dann kann die Henriette gleich hinüber springen und den Wagen besorgen. Das wäre ja wundervoll, Major! So eine Stunde lang im Wagen allein zu sitzen und den Mund nicht aufzuthun, ist für mich immer eine Qual, denn mit dem Kutscher läßt sich leider gar nicht reden; er hört so furchtbar schwer, daß man immer laut schreien muß, und das verdirbt jede Unterhaltung. Also fahren wir?«

Der Major war in allen seinen Bewegungen, sobald er nur erst einmal den einen Punkt: seine Krankheit, überwunden hatte, ziemlich resolut. Jetzt fand er das Eisen heiß, jetzt mußte es also auch geschmiedet werden.

»Na, meinetwegen, Rath,« sagte er dann, »fahren wir zusammen; allein getraue ich mir die Tour ohnedies nicht zu machen, des verdammten Beines wegen, und meinen Gärtner kann ich nicht gut mitnehmen – das ist ein eben so alter, elender Krüppel wie ich selber bin. Also basta – bestellen Sie die Karre. Bis wann können wir wieder zurück sein?«

»Wann wir wollen, bester Freund. Wir essen draußen zu Mittag – ich sage Ihnen, ganz delicat. Heute giebt es dort Wildpretsbraten – ich habe mich schon danach erkundigt – und einen ganz magnifiquen Selleriesalat, und nach dem Essen, wenn wir unser Geschäft beendet haben, setzen wir uns wieder ein und kommen in aller Behaglichkeit zurück.«

»Also abgemacht.«

»Und da bringt die Henriette gerade das Frühstück – so, mein Kind, setzen Sie es nur hierher,« sagte der Rath, indem er auf dem Tisch, auf welchem es wild genug aussah, ein wenig Platz machte und einen dort liegenden Kamm, sein Rasirzeug mit der Seifenbüchse und ein Packet frisch angebrochenen Schnupftabaks ein wenig bei Seite schob. »Da, so, das soll nicht lange dauern. Aber wo haben Sie denn die Flasche?«

»Ich bringe sie gleich, Herr Rath.«

»Und dann springen Sie einmal zum Kutscher Behrens hinüber, er sollte nur gleich anspannen – und ein bischen Heu in den Sitzkasten legen; wenn wir zurückkommen, packen wir ihn voll. Und nun, lieber Major, seien Sie so gut, setzen Sie sich und langen Sie zu; wir werden sonst flau, ehe wir hinauskommen.«

Das Frühstück roch allerdings delicat und bestand aus einem sehr schön braun gebratenen Fleischgericht und Brod.

Der Major langte tapfer zu und bediente sich auch mit einem Glase Wein. Aber der zog ihm die Backen zusammen; er war von schnöden Aepfeln gepreßt und herb und bitter.

»Nun, wie schmeckt Ihnen der?«

»Na, wissen Sie, Rath,« sagte der Major, dessen Höflichkeit doch nicht so weit ging, einen Wein zu loben, der ihm in dem nämlichen Augenblicke die Eingeweide zusammenzog, »ich habe in meinem Leben schon besseren getrunken.«

»Besseren?« rief der unverwüstliche Rath. »Das gebe ich zu, wenigstens solchen, der besser schmeckte, aber keinen gesünderen! Der arbeitet Ihnen das Innere heraus und macht Sie zu einem vollständig neuen Menschen! Aber nun trinken Sie auch und langen Sie zu.«



 << zurück weiter >>